Kapitel 48 - Zum Tode verurteilt
Fassungslos stand Tamo hinter Alice und starrte auf die Szene vor sich. Kälte durchzog ihn und nein, die ging diesmal nicht von Skàdi aus. Sein eigener Körper erschuf sie. Er hatte die Geschichten von Alice und Milano gehört. Er wusste, wie sie in dieser Hölle gelandet waren, wie lang sie dort waren und was sie durchlebt hatten. Natürlich waren die Geschichten ähnlich und dennoch jede auf seine eigenen Weise grausam. Von Skàdi wusste er nur, dass sie ein verdammtes Jahr in den Händen dieses Irren gewesen war. Er hatte keine Ahnung, wie sie dort gelandet war, nur, dass sie letztlich Milano und Alice gerettet hat.
Sie jetzt, so vor sich zu sehen, verpasste ihm einen Schlag in den Magen.
Langsam schien es ihm die Luft zu nehmen, als er seinen Blick über die Narben gleiten ließ. 365. Eine Zahl, die zwar viel klingt, dennoch nur eine Zahl war. Das Ausmaß jetzt aber live zu sehen, war schlimmer, als er es sich hätte vorstellen können. Sein Puls schoss in die Höhe und gleichzeitig wurde sein Herz schwer. Trauer und Mitleid fraßen sich durch seinen Körper und ließen keine Zelle unberührt.
Wie konnte ein Mensch, einem anderen Mensch so etwas antun? Sie war gezeichnet für den Rest ihres Lebens. Körperlich und erst jetzt wurde ihm langsam bewusst, was diese Narben mit ihrem Geist, ihrer Seele angestellt haben mussten.
Ihre Art und Weise. Ihr Sarkasmus. Ihre Kälte. Alles waren Resultate aus dieser Gefangenschaft. Aus diesen Quallen.
Natürlich schienen das alles logische Sachen zu sein. Tamo hatte die Narben an ihren Armen und Beinen bereits gesehen, aber erst jetzt begriff er es. Er konnte den Blick nicht von ihren fast nackten Oberkörper nehmen. Jede einzelne Narbe schien sich in sein Gedächtnis einzubrennen. Ein bitterer Geschmack legte sich auf seine Zunge und es trieb ihm Tränen in die Augen. Er schluckte und hoffte, die Übelkeit damit bekämpfen zu können, doch nichts half. Das Wissen darüber, zu welcher Grausamkeit ein einzelner Mensch fähig war, würde er niemals wieder vergessen können.
Er vernahm das Beben von Skàdis Körper und ohne darüber nachzudenken, lief er los.
Skàdi stand starr vor Elisabeth, wohl wissend, dass alle Blicke auf sie gerichtet waren. Milano und Alice kannten ihre Narben. Tamo und Silas nicht. Nicht alle zumindest. Doch es war ihr egal. Der Zorn und die Wut hatten ihr Handeln übernommen und spätestens jetzt wurde ihr klar, es war falsch zu sagen, dass sie nichts mehr empfand. Sie empfand sogar noch ziemlich viel, nur nichts Gutes mehr.
Ihre guten Seiten waren es, die mit jeder Seele, die sie rettete, verschwanden. Aber auch diese Erkenntnis war irrelevant, denn sie würde nichts mehr an ihrem ich ändern können und wahrscheinlich auch nicht wollen.
Elisabeth wurde ganz weiß und ihre Hände begannen zu zittern. Unvorstellbar, dass ihr Fleisch und Blut dieser armen Seele, das angetan hatte. Wie konnte er nur zu so einem Monster werden? Die Tränen wurden zu einem Rinnsal der Traurigkeit und bald wurde das stumme Weinen zu einem lauten Schluchzen. Ihr Herz brach erneut und als sie den Anblick nicht mehr ertragen konnte, schlug sie sich die Hände vor die Augen und fiel in sich zusammen.
Skàdi jedoch spürte, wie sich unter ihren Füßen ein schwarzes Loch auftat. Zu tief saß der Schmerz. Zu frisch waren die Wunden. Drei Jahre hatte sie sich ihrem Schicksal einfach hingegeben. Sie hatte aufgegeben und jetzt. Jetzt holte sie die Dunkelheit ein. Etwas in ihr zog sie nach unten und sie spürte, wie ihr Körper anfing zu beben. Ihre eigene Kälte kroch durch ihren Körper und das erste Mal seit langer Zeit empfand sie wieder wirkliche Schmerzen. Ihre Sicht verschwamm und um sie herum, schienen nur noch graue Schatten zu wandeln.
Ein stechender Schmerz durchzog sie und als ihre Knie gerade nachgeben wollten, spürte sie die Wärme, die sich um ihren Körper legte und sie auffing.
Es war, als würde sie aus ihrer Trance gerissen werden und plötzlich sah sie wieder klar. Sie spürte den warmen Atem auf ihrer Haut. Die Arme, die sich fest um ihren Körper geschlungen hatten, und sie vernahm seinen Geruch. Zum ersten Mal nahm sie seinen Duft wahr. Tamo sah sie voller Sorge an und hielt sie fest an sich gedrückt.
»Skàdi, sag mir, dass alles okay ist«, flüsterte er ihr leise zu.
Sie schluckte und benötigte noch einen Moment, um zu realisieren, was gerade passierte. Sie starrte Tamo einfach nur an. Vorsichtig löste er einen seiner Arme von ihr, hielt den anderen aber fest um sie. Langsam ließ er seine Hand nach oben gleiten und strich ihr eine einzelne Haarsträhne aus dem Gesicht. Die Stellen, an denen er sie berührte, lösten ein tiefes Kribbeln in ihrem Körper aus, was ihren Puls ansteigen ließ.
»Skàdi. Komm schon, sag was, irgendwas«, flehte Tamo mit zitternder Stimme.
Für den Bruchteil einer Sekunde schien die Zeit stillzustehen. Keiner sprach und vor allem, keiner brachte einen dummen Spruch. Doch dieser Moment war schneller vorbei, als er angefangen hatte. Bevor Tamo überhaupt bemerkte, dass Skàdi scheinbar wieder im Hier und Jetzt angekommen war, hatte sie ihn im Nacken gepackt, um seine eigene Achse gedreht und ihn mit einem gezielten Tritt in die Kniekehle zu Boden gebracht.
Sie drückte ihn auf den Boden und lehnte sich nach unten zu seinem Ohr.
»Fass mich nie wieder an«, fauchte sie ihm zu, übte erneut Druck auf seinen Nacken aus und ließ dann ab von ihm.
Sie schnaubte, griff nach ihrem Shirt, welches auf dem Boden lag und verschwand in das Innere des Klosters.
Alle schienen noch völlig perplex von den Geschehnissen zu sein. Alice, Milano und Silas starrten Skàdi mit offenen Mündern nach.
»Das war selbst für sie seltsam«, sagte Alice völlig verwundert.
Milano brachte gar kein Wort zusammen und nickte einfach nur. Silas schüttelte den Kopf und als er sah, wie Tamo sich auf quälte, eilte er ihm schnell zu Hilfe. Er steckte ihm die Hand entgegen.
»Hier«, sagte er und Tamo griff dankbar zu.
»Alles okay?«, fragte Silas.
Tamo seufzte, während er sich den Dreck aus den Klamotten klopfte.
»Ja. Bis auf, dass mein Leben keinen Sinn mehr ergibt und ich scheinbar alles falsch mache, ist alles bestens«, sagte er und selbst wenn er gewollt hätte, die Bitterkeit, die in seinen Worten schwang, hätte er nicht verstecken können.
Silas sah ihn mitfühlend an.
»Tamo. Sie ist ...«, fing Silas an, doch Tamo hob die Hand und unterbrach ihn.
»Lass es einfach«, sagte er enttäuscht, drehte sich ab und sprang über die Mauer.
Und schon war auch er verschwunden.
Alice und Milano sahen erst sich an, dann wieder in die Richtungen, in die Skàdi und Tamo verschwunden waren.
»Das ist wie im Kino«, sagte Milano, der immer noch schockiert war.
Alice nickte.
»Schade, dass wir kein Popcorn haben.«
Diesmal nickte Milano. Silas presste die Luft durch seinen zusammengepressten Lippen.
»Was für eine Scheiße«, raunte er.
Doch ihre Fassungslosigkeit wurde von dem Jammern von Elisabeth unterbrochen. Silas stöhnte auf. Ja, sie hatte es sicher nicht leicht, aber sie nervte ihn, und zwar so richtig.
»Kann bitte jemand diese Heulboje abstellen?«, fragte er und sah dabei zu Milano und Alice.
Die beiden sahen sich an und Milano zeigte auf Alice, während er sie breit angrinste.
»War, ja klar«, sagte sie augenrollend.
»Na, ich kann sie auch gerne in eine Schockstarre versetzen. Weiß nur nicht, ob es hilft«, sagte er, doch Alice war schon auf dem Weg zu Elisabeth und so wie Alice ihre Hände auf ihren Schultern ablegte, verstummte diese und sah Alice dankbar an.
»Danke«, flüsterte sie.
Alice schnaubte.
»Rechnung kommt zum Schluss«, sagte sie und drehte sich zurück zu Milano und Silas.
Sie stützte ihre Hände in die Hüfte und atmete tief durch.
»Wird langsam zur Arbeit, das Ganze hier. So. Ich nehme an, wir müssen Stur und Sturer suchen?«, fragte Alice.
Milano zuckte mit den Schultern. Silas hingegen nickte.
»Ich denke, sie sollten hier nicht allein sein. Vor allem nicht Tamo.«
Alice ließ die Arme nach unten baumeln und wollte gerade etwas sagen, als Milano ihr zuvorkam.
»Wir suchen Tamo«, schrie er schon fast und packte Silas am Arm.
Und schon waren beide über die Mauer gesprungen und liefen im schnellen Schritt durch den Garten.
»Ihr PENNER!«, brüllte Alice ihnen nach.
»Können dich nicht hören«, schallte es zurück.
Sie schüttelte den Kopf und machte sich auf den Weg Skàdi zu suchen, während sie leise vor sich hinmurmelte.
»Immer bekomme ich die Bekloppten ab.«
Milano schob Silas vor sich her, bis sie außerhalb von Alices Sicht waren. Silas zog eine Braue nach oben und drehte sich zu Milano.
»Was war das denn eben?«
Milano runzelte die Stirn und schnaubte.
»Du hast Skàdi doch gesehen. Ich habe so was noch nicht erlebt und ich werde nicht so dämlich sein und das jetzt mit ihr ausdiskutieren. Dann lieber suche ich den - gebt mir Antworten Typ«, sagte Milano.
Silas musste schmunzeln.
»Es hat sich wirklich nichts geändert in den letzten Jahren, oder?«
»Oh doch. Sie ist noch viel giftiger geworden«, gab Milano zurück.
Tamo lief durch den Garten und stolperte über die ein oder andere Wurzel.
»Verfluchte Scheiße«, maulte er vor sich hin, während die Enttäuschung sich langsam durch seinen Körper fraß.
Was hatte er sich dabei gedacht? Nichts natürlich. Es war ein natürlicher Reflex, sie aufzufangen. Das war es, was Menschen füreinander taten oder etwa nicht? Was hatte er sich erhofft? Dass sie ihm danken würde? Er musste über sich selbst lachen. Er kannte Skàdi noch nicht lang, aber eigentlich sollte er verstanden haben, dass sie keinerlei Interesse an anderen Menschen hatte. Zumindest nicht mehr.
Sie musste anders gewesen sein. So viel konnte er sich aus den Geschichten der anderen zusammenreimen. Anderenfalls hätte sie ja wohl kaum, so viele Leben gerettet und dabei ihr eigenes zerstört. Sie hatte wohl mal gute Seiten, auch wenn das mittlerweile schwer zu glauben war. Und dennoch war er enttäuscht. Enttäuscht und echt angepisst. Aber nicht nur auf Skàdi, sondern über seine eigene Dummheit.
Sie hatte ihm mehr als deutlich gemacht, dass sie ihm nur schützte und seine Anwesenheit akzeptierte, weil Samuel ihn wollte. Langsam glaubte er auch, dass es ihr nicht mehr darum ging, die Leben zu schützen, die mit ihr verbunden waren. Nein, hier ging es doch nur noch darum, dass Samuel nicht seinen Willen bekommen würde.
Und dann war da noch dieser Schmerz, als er sie berührte. Es war für einen Moment fast so, als konnte er in ihr Inneres blicken. Er hatte das Verlangen gespürt, sie heilen zu wollen. Er schüttelte den Kopf und versuchte, diese eigenartigen Gedanken loszuwerden. Er wurde verrückt. Eindeutig.
Waren das, beschissene Aussichten? Auf jeden Fall, denn er glaubte fest daran, dass wenn Skàdi das nächste Mal auf Nobody treffen würde, dann wäre es ihr scheißegal, was mit den Menschen um sie herum passierte. Immerhin hatte sie doch vor wenigen Stunden eben das bewiesen. Sie hätte das Kloster fast völlig zerstört. Ohne Rücksicht, wie viele Unschuldige dabei draufgehen würden. Selbst wenn sie sich darauf verlassen hat, dass Milano einige davon retten konnte, ein Arsch voll Nonnen wären wohl dann doch zu viele geworden.
Ein kalter Hauch schlug ihm entgegen und riss ihm aus seinen Gedanken. Er stand vor einem Wald und ging automatisch einen Schritt zurück. Der letzte Ausflug in die Dunkelheit war nicht so glorreich und nur der Gedanke daran, ließ einen Schauer über seinen Körper wandern.
»Nein, diesmal nicht«, sagte er zu sich selbst und lief am Rand des Waldes entlang, bis er zu einem Felsen kam.
Er ließ sich darauf sinken und ließ seinen Blick über die Umgebung schweifen. Eigentlich war es hier ganz schön. Die Landschaft war unbeschreiblich und zwischen den riesigen Gebirgswänden, welche sich um dieses Stück Land zogen, fühlte sich Tamo plötzlich klein und unbedeutend.
Eine schwere Last schien sich auf seinen Schultern abzulegen. Was hatte er aus seinem Leben gemacht bis jetzt? Eine Frage, die er recht einfach beantworten konnte.
Nichts.
Ein lautes Seufzen ging durch die Luft, während er sich durch die Haare strich.
»Du hast es so was von verbockt«, sagt er und fuhr zusammen, als er eine Antwort bekam.
Milano und Silas hatten Tamo schnell gefunden und liefen ihm langsam nach. Als sie sahen, dass er vor dem Wald zum Stehen kam, musste Milano auflachen.
»Ich denke, da geht er nicht freiwillig rein.«
Silas zog die Brauen nach oben.
»Wundert dich das?«,
»Ich wollte ihn nur etwas erschrecken«, sagte Milano und lief weiter, so wie Tamo es tat.
Als sie sahen, wie Tamo sich auf den Felsen setzte, blieb Milano plötzlich stehen.
»Was?«, fragte Silas irritiert.
Milanos Blick war fest auf Tamo gerichtet.
»Ich denke, du solltest allein mit ihm reden. Ihr habt, glaube ich mehr gemeinsam, als ihr denkt.«
»Was willst du denn damit sagen?«, fragte Silas, der tatsächlich keine Ahnung hatte, wovon Milano da sprach.
Der schüttelte den Kopf.
»Hast du seinen Blick nicht gesehen, als Skàdi ihn zurückgewiesen hat? Ich denke, da entwickelt jemand Gefühle für unsere Irre und wer könnte ihm da besser helfen, als du?«, sagte Milano und seine letzten Worte klangen schon fast spöttisch.
»Arschloch«, erwiderte Silas und lief, ohne auf die Antwort darauf zu warten, los.
Silas kam näher und vernahm eben noch ein: Ich habe es verbockt, von Tamo. Silas schluckte, denn wenn Milano recht haben sollte, wusste er jetzt schon, wie recht Tamo mit seiner Feststellung haben sollte.
»Ja, wobei man sagen muss, dass du jetzt auch nicht wirklich was dafür kannst«, sagte Silas und sah Tamo mitfühlend an.
»Nicht?«, fragte er spöttisch.
Silas setzte sich neben Tamo und starrte in die Leere vor sich.
»Nein. Zumindest nicht mehr, als ich es getan habe. Aber es ist auch echt schwer, es sich nicht mit ihr zu verscheißen.«
»Das mein ich nicht. Ich meinte mein Leben«, sagte Tamo und lehnte sich zurück.
Silas sah ihn an und nickte.
»Ja, okay. Das hast du tatsächlich verbockt. Aber Einsicht und so.«
Tamo musterte Silas. Seine Stirn war in Falten gelegt und seine Körperhaltung war leicht in sich zusammen gesackt.
»Was ist los?«, fragte Tamo, denn irgendwas schien Silas zu belasten.
Der sah zu Tamo, lächelte ihn traurig an und zuckte mit den Schultern.
»Na ja, du bist nicht der Einzige, der sein Leben versaut hat«, sagte er und stand wieder auf.
Er lief einige Schritte und der Untergrund veränderte sich. Das ebene Land versiegte langsam in immer steinigeren Untergrund. Immer mehr Felsen traten zum Vorschein und plötzlich tat sich vor seinen Füßen eine Schlucht auf. Silas blieb stehen und starrte in die Dunkelheit vor seinen Füßen.
Tamo tauchte neben ihn auf und sah ihn fragend an.
»Was meinst du damit?«, fragte er besorgt, denn wenn es nach Tamo ging, stand Silas nicht nur zu nah an dem Abgrund, sondern auch sein Blick war nicht mehr zu deuten.
Was tat er hier?
Silas spürte den Blick und sah zu Tamo.
»Keine Angst. Ich habe nicht vor, zu springen. Würde ohnehin nichts helfen. Skàdi würde mich nicht gehen lassen«, sagte er und die Trauer darüber war mehr als deutlich zu hören.
Beide setzten sich und ließen ihre Beine über den Rand der Felsen baumeln.
»Warum lässt sie dich nicht gehen? Sie scheint ein Problem mit dir zu haben, aber warum rettet sie dich dann immer wieder?«
Silas seufzte.
»Du meinst, warum sie mich so sehr hasst, dass sie mir den Frieden des Todes nicht gönnt?«, fragte Silas.
Wieder nickte Tamo nur.
»Weil ich ihr nicht geglaubt und damit ihre Schwester zum Tode verurteilt habe.«
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