Kapitel 4 - Prinz Ferdinand
Tamo kam langsam wieder zu sich. Er streckte sich mit geschlossenen Augen und genoss es, seine Hände über den Kopf auszubreiten. Moment mal. Seine Hände waren frei und sofort schreckte er auf. Ein stechender Schmerz fuhr ihn durch den Schädel, gefolgt von einem pulsieren, was ihm die Augen fest zusammen kneifen ließ. Erst als das Stechen abschwächte, öffnete er die Augen und sah sich langsam um.
Fuck, war der nächste Gedanke, der in murmelnd über die Lippen kam.
Es war nicht sein verdammtes Schlafzimmer. Sein Blick glitt weiter durch den Raum und auch wenn ihm gefiel, was er sah, rutschte er verunsichert hin und her.
Wo war er? Was zur Hölle tat er hier und wie viel von diesem verfluchten Traum entsprach der Wahrheit?
Der Blick aus dem Fenster verriet ihm, dass er in einer der oberen Etagen befand. Durch die Fensterfront, direkt vor dem Bett, sah er in die Baumkronen, was auch, das gedämpfte Licht in dem Zimmer erklärte. Es war kein riesiger Raum, welcher dennoch gemütlich eingerichtet worden war. Die Wände waren in einem dunklen Braun gehalten, ebenso wie der glänzende Boden. Sein Blick erspähte eine weitere Tür zu seiner rechten, die einen Spalt offen stand und da er Fließen sah, vermutete er ein Bad dahinter.
Erneut streckte und richtete er sich langsam in dem Bett auf und direkt vernahm er das Brennen an seinen Handgelenken. Sofort riss der seine Arme nach vorn und als er seinen Blick auf genau diese lenkte, wurde ihm übel. Er sah, dass sie mit dicken Verbänden umwickelt waren. Die schwarze Bettdecke rutsche von seinem Körper und ein sanfter Kälteschauer ergriff seine Haut. Beinahe schon in Zeitlupe sah er nach unten und schluckte. Er war nackt. Na ja, zumindest fast, seine Boxershorts hatte er noch an, aber wo war der Rest seiner Kleidung?
Vorsichtig rutschte er aus dem Bett, doch im selben Moment hörte er hinter sich ein Klicken. Er wirbelte herum und sah, wie eine zierliche Person den Raum betrat.
Sie war nicht sonderlich groß, hatte lavendelfarbenes Haar und trug eine schwarze Brille. Ihre dunkelblauen Augen fixierten ihn. Ihre Gesichtszüge wirkten weich und ihre helle Haut ließen sie wirken wie ein Püppchen. Sie war schlank, schon fast zu schlank, was ihr kindliches Aussehen noch verstärkte.
Sie lenkte ebenfalls ihren Blick auf seinen halb nackten Körper und gab dabei ein freches Grinsen von sich. Tamo entfuhr ein sanftes Lächeln. Ihre Aura fesselte ihn, denn sie wirkte wie ein kleiner Engel. Doch als sie den Mund aufmachte, wurde ihm klar, dass hinter dieser Fassade wohl etwas ganz anderes stecken würde. Die Stimme erkannte er sofort. Sie hatte Silas und ihm gestern in Empfang genommen.
»Oh du bist wach, wurde Zeit, Penner. Ich bin Alice und hier sind deine Klamotten«, warf sie ihm, samt seiner Sachen entgegen.
Und so schnell, wie sie aufgetaucht war, wandte sie sich wieder ab und verschwand.
Tamo starrte durch die offene Tür, doch Alice war nicht mehr zu sehen. Ungläubig sah er zwischen der Tür und seinen Klamotten hin und her. Sie rochen frisch gewaschen und strahlten eine angenehme Wärme aus. Er legte sie auf das Bett und sah sie genauer an. Kein Blut mehr zu sehen. War es überhaupt jemals da gewesen? Doch wenn es nicht da gewesen war, warum hatten sie dann seine Sachen gewaschen? Steckte er immer noch in diesem Scheiß Traum fest? Oder war es gar kein Traum? Aber dann würde es bedeuten...
Die Erinnerungsfetzen seines Elternhauses blitzten auf. Blut. Überall Blut und in der Mitte des Wohnzimmerbodens lagen sie. Seine Eltern. Ihre Brustkörbe offen.
Er schüttelte sich und zwang die Bilder nieder. Nein, das ergab keinen Sinn. Es war ein Traum, zumindest dieser Teil.
Er sah sich erneut in dem Raum um, zog sich die Klamotten über und entschied sich dazu, herauszufinden, wo er war. Irgendwo musste diese Alice doch stecken und sie war sicher in der Lage im endlich ein Paar antworten zu geben. Außerdem knurrte sein Magen. Er hatte Hunger und erinnerte sich schon gar nicht mehr, wann er das letzte Mal etwas gegessen hatte.
Er seufzte, denn es war neu für ihn, dass er einer Frau nachlief. Eigentlich scharrten sie sich um ihn. Sein Blick wanderte zu dem Spiegel neben der Tür und er musterte sich selbst.
Seine sonst so strahlend blauen Augen sahen ihn mit einem trüben Schleier an. Tiefe Augen Ringe hatten sich gebildet und wirkten fast so dunkel, wie die dunkeln Tattoos, welche seine Schläfen zierten und sich über seine kahlrasierten Schädelseiten zogen. Seine schwarzen Haare standen in alle Richtungen und hatten nichts mehr gemein, mit seinem sonst so gestylten Ansehen. Selbst seine braune Haut wirkte blass und schimmerte leicht gräulich. Die markanten Gesichtszüge schienen weicher und auch sein Dreitagebart änderte daran nichts mehr.
Seine allgemeine Erscheinung wirkte zusammengefallen und ließen nur erahnen, dass er mit seinen knapp zwei Metern sonst der Mittelpunkt jeder Gesellschaft war. Das Einzige, was ihn noch ansatzweise imponierend aussehen ließ, war die Breite seines Körpers. Ein Hoch auf seine ausgeprägte Muskulatur und die vielen Tattoos, welche sich über seine Arme und Hals zogen.
Gut, den Rest bekommt eure Fantasie sicher selbst hin.
Tamo. Verwöhnter Sohn, Arschloch und Frauenhasser. Eine Art von Mensch, den man zwar gern von weiten betrachten vermochte, die Menschheit aber eigentlich nicht brauchte. Frauen dienten ihm rein, um sein eigenes Verlangen zu befriedigen, und ich befürchte, dass er mit dieser Einstellung, in diesen Mauern nicht sonderlich freundlich empfangen wird.
Er seufzte, nahm den Blick von seinem Spiegelbild und trat aus dem Zimmer. Ein langer Flur erstreckte sich vor ihm. Schlicht und elegant eingerichtet.
Schade, dass diese Bude einer Frau gehört.
Nach wenigen Schritten tauchte eine Treppe vor ihm auf. Er sah nach oben und die Neugierde zog ihn schon förmlich in genau diese Richtung, doch das Klappern aus der unteren Etage, lenkte ihn wieder auf sein eigentliches Ziel. Vorsichtig stieg er hinab und ließ weiterhin seinen Blick aufmerksam über die Umgebung schweifen. Sehr edel. Alles und das bis ins letzte Detail. Das Konzept der dunklen Farben schien sich durch sämtliche Räume zu ziehen.
Er trat langsam in das Wohnzimmer und die Geräusche wurden immer lauter. Vor ihm eröffnete sich ein lichtdurchfluteter Raum. Bodentiefe Fenster lagen zu seiner linken und ließen die Sonnenstrahlen unmittelbar auf die riesige Couch fallen. Ummantelt von einem breiten Holzrahmen, nahm sie die hintere Hälfte des Zimmers ein. Sie ließ Tamo mit den Zähnen knirschen, als er erkannte, was ihm gestern sein Schienbein demoliert hatte.
»Kaffee?«, fragte Alice in maulig.
Erschrocken und genervt von ihrem Tonfall, fuhr er herum und starrte sie düster an. Er erhob sofort die Stimme, so wie immer, wenn jemand nicht nach seinen Wünschen agierte.
»Was soll das? Musst du mich so erschrecken?«, knurrte er.
Alice zog die Braue hoch und sah ihn unbeeindruckt an.
»Also, keinen Kaffee«, murmelte sie und drehte sich kopfschüttelnd ab.
Tamo sah ihr ungläubig nach. Das war neu. Noch nie hatte ihm einfach jemand stehen gelassen. In ihm breitete sich ein eigenartiges Gefühl aus. Er hatte schon den Mund geöffnet, hielt aber inne. Ja, er war ein Arschloch, aber keins von der dämlichen Sorte. Und auch wenn es ihm nicht gefiel, musste er sich wohl eingestehen, dass er in einer beschissenen Situation steckte. Er brauchte Antworten und sie würde er so nicht erhalten. Eine andere Strategie war von Nöten. Er riss sich zusammen, atmete durch und setzte ein Lächeln auf.
»Sorry. Ich habe mich einfach nur erschrocken. Also, ja zum Kaffee, falls ich noch einen bekommen kann«, sagte er und lief langsam auf sie zu.
Alice sah ihn kurz an, zuckte mit den Schultern und stellte eine Tasse unter die Kaffeemaschine.
»Milch ist im Kühlschrank. Zucker gibt es hier nicht«, raunte sie beiläufig, ließ ihn stehen und verschwand auf die Terrasse.
Tamo unterdrückte die erneut aufsteigende Wut und sah sich um. Vor ihm erstreckte sich eine Kücheninsel, breit und massiv. Dahinter abermals bodentiefe Fenster, von weiteren Küchenzeilen umsäumt waren. Er schnappte sich den Kaffee und durchsuchte die Küche nach dem beschissenen Zucker. Doch scheinbar war es ihr voller Ernst. Kein Zucker für Tamo, was seine Laune nur noch tiefer sinken ließ.
Angefressen lief er ebenfalls nach draußen, wo er Alice, sitzend in einer Sitzecke, mit Kaffee in der Hand, fand. Er setzte wieder sein Lächeln auf und näherte sich ihr. Der Geruch von verbrannten Tabak stieg ihm in die Nase und sofort überrannte ihn das Verlangen. Er ließ sich ungefragt neben Alice fallen und zeigte auf die Zigarettenpackung vor ihr.
»Darf ich mir eine nehmen?«
Sie zog gerade genussvoll an ihrer Zigarette und nickte. Tamo zündete sich eine Kippe an, nahm einen tiefen Zug und ließ sich nach hinten fallen. Sein Blick schweifte über die massive Holzterrasse. An der Hauswand befand sich ein Tisch mit unzähligen Stühlen.
Lebten hier mehr Menschen, als diese zwei Weiber?
Bis jetzt hatte es dafür keine Hinweise gegeben. Er sah sich weiter um und hielt inne. Vor ihm erstreckte sich ein bunt bepflanzter Garten, angrenzend die Wiese, welche sich langsam zu einen Wald wandelte. Unmittelbar vor ihm, stand eine Feuerschale, in der noch verkohlte Holzreste lagen und der Umgebung einen angenehmen, rauchigen Duft verliehen.
Alice saß still neben ihm und starrte mit leeren Blick in eben diese.
»Das Feuer ist aus«, murmelte er.
Ja, dämlich, aber er fand keine andere Möglichkeit, in dieses Gespräch einzusteigen.
Er sah, wie Alices Blick sich wieder fokussierte und sie erneut eine Braue nach oben zog.
»Gut, dass du es sagst, wäre mir gar nicht aufgefallen«, gab sie sarkastisch zurück.
Tamo stöhnte und atmete tief ein. Na ja, die Freundlichkeit hatte diese Alice wohl auch nicht gefressen. Schnepfe, schoss es ihm durch den Kopf und am liebsten hätte er sie angebrüllt, doch biss sich erneut auf die Zunge und sprach einfach darauf los.
»Habe ich dir was getan? Ich meine, ich bin erst seit wenigen Minuten wach. Also kann ich nicht so viel verkehrt gemacht haben, oder?«, fragte er.
Er sah zu Alice, die immer noch in das nicht vorhandene Feuer starrte. Sie zuckte mit den Schultern.
»Sorry, aber mir scheint nun mal nicht die Sonne aus dem Arsch. Leb damit oder lass es. Ist mir eigentlich egal«, raunte sie, ohne ihn anzusehen.
Tamo sah sie ungläubig an. Ja, wenn er ehrlich war, hätte diese Antwort auch von ihm stammen können. Er war Mr. Sarkasmus und überheblich und wenn mit etwas nicht umgehen vermochte, dann wenn er auf jemanden traf, der wie er wahr. Es reichte. Was auch immer sein Unterbewusstsein ihm mit diesem beschissenen Ausflug in seine eigene Hölle beibringen wollte, das endete jetzt.
Zeit zum Aufwachen, sagte er sich und kniff sich selbst in die weiche Haut des Oberarms.
Doch abgesehen, von dem Schmerz, der ihn aufstöhnen ließ, passierte genau nichts. Er saß immer noch neben Alice, welche gerade den Kopf zu ihm drehte und ihn fragend ansah.
»Hast du dich gerade selbst gekniffen?«
Er runzelte die Stirn. Wie konnte sie das denn gesehen haben? Ihr Blick war die ganze Zeit nach vorn gerichtet.
»Ja, dachte, es holt mich aus diesem beschissenen Traum«, gab er ehrlich zu.
Jetzt war es Alice, welche ihre Stirn in Falten legte.
»Was für ein Traum?«
Tamo rollte die Augen und zeigte mit beiden Händen um sich.
»Na, aus dem hier. Wobei ich langsam das Gefühl habe, dass das so eine Endlosschleife wird.«
Er schüttelte genervt mit dem Kopf und rieb sich über den Nacken. Alice musterte ihn, bevor sie ihn kalt ansah.
»Sorry, Prinz Ferdinand, aber das ist kein Traum«, sagte sie bitter.
Tamo sah sie giftig an.
»Nenn mich nicht so. Ich habe einen Namen«,fuhr er sie genervt an.
Alice grinste ihn wissend an.
»Ich weiß, Tamo, aber Ferdinand passt besser.«
Seine Augen formten sich zu schmalen Schlitzen, während er sie drohend ansah.
»Siehst du. Traum. Eindeutig! Denn ich wüsste nicht, dass ich dir meinen Namen gesagt habe.«
Sie rieb sich genervt über die Stirn und zündete sich eine neue Zigarette an. So langsam nervte er sie, und zwar so richtig. Als würde es nicht schon reichen, dass sie auf ihn aufpassen musste. Nein, dann reizte er sie noch mit seiner beschissenen überheblichen Art. Es wurde wohl Zeit, ihm von seinen Thron zu schubsen.
»Das hier ist kein Traum. Es ist die fucking Realität, du Spinner«, sagte sie und schüttelte dabei mit dem Kopf.
Er schnaubte, lehnte sich nach vorn und sah sie dunkel an.
»Das kann nicht sein. Das würde ja bedeuten, meine Eltern sind tot. Ich wäre entführt worden und letztlich bin ich bei dir und deiner komischen Freundin, die ich noch nicht mal gesehen habe, gestrandet. Als würde ich so ruhig hier sitzen, wenn mir das alles in den letzten 24 Stunden passiert wäre. Also, Traum. Eindeutig!«, erwiderter er trotzig.
Er verschränkte die Arme vor der Brust und sah sie an, wie ein kleines, bockiges Kind, was keine Schokolade bekommen hatte.
Alice lehnte sich näher zu ihm.
»Warum zur Hölle du so entspannt bist, weiß niemand, aber ich kann dir versichern, dass das alles kein Traum ist. Du bist entführt worden, du bist hier bei uns gestrandet und kannst von Glück reden, noch zu atmen. Und ja, deine verdammten Eltern sind abgeschlachtet worden. Also tu mir den Gefallen und akzeptiere es. Das würde mir meinen Job um einiges leichter gestallten«, sagte sie und starrte ihn an.
Er sah sie irritiert an.
Job? Was meinte sie mit Job?
»Du lügst«, war die einzige Erwiderung, die er über die Lippen brachte.
Sofort spannte Alice sich an und ihr Kiefer zuckte bedrohlich.
»Sag das noch mal, Arschloch?«
Tamos Mundwinkel zuckten und der Zorn in ihm wuchs.
»Ich sagte, du lügst, dämliche Zicke.«
Alices Atmung wurde hörbar und ihre helle Haut färbte sich langsam rot ein. Es war unverkennbar, dass die Wut in ihr kurz vor dem Ausbruch stand. Doch anstatt ihn etwas zu erwidern oder ihm ins Gesicht zu springen, griff sie stattdessen zu ihrem Handy. Entsperrte es und Sekunden später hielt sie Tamo das Display vor die Nase.
»Deine Eltern sind tot«, brachte sie ihm knurrend entgegen.
Er starrte auf den Display und versuchte, das Gesehene zu verstehen. Ihre Worte hallten durch sein Bewusstsein und fingen an sich tief in ihm zu verwurzeln.
Und plötzlich löste sich ein Knoten in seiner Brust. Erinnerungsfetzen brachen über ihn herein. Die Bilder gewannen an Klarheit und er sah deutlich die vor Angst aufgerissenen Augen seiner Eltern. Wie sie langsam von einem trüben Schleier belegt wurden. Wie sie unter seinen Händen starben. Ein reißender Schmerz schoss durch seine Brust, als das Gefühl, des warmen, fischen Blutes zurückkehrte, welches sich über seinen Körper legte. Der Geschmack von Kupfer legte sich auf seine Zunge und ließ die Magensäure aus seinem Magen nach oben steigen.
Es war kein Traum. Er schlief nicht. Alles war real.
Sein Puls raste, sein Körper fing an zu beben. Ihm wurde heiß und im selben Moment legte sich ein eisiger Schauer über seinen Leib. Keuchend schnappte nach Luft, während es ihm seinen Brustkorb immer enger zog. Alles um ihn herum drehte sich. Er verlor jegliche Anspannung und mit dem Gefühl des Kontrollverlustes, tanzten plötzlich kleine Lichtpunkte vor seinen Augen und begleiteten ihn in die Dunkelheit.
Alice sah ihn unbeeindruckt an.
»Super, auch das noch«, maulte sie und sah dabei zu, wie Tamo von der Bank rutschte und bewusstlos auf dem Holzboden der Terrasse einschlug.
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