Kapitel 2 - Das Zeichen des Schmerzes
Wenige Stunden zuvor
Sich das Gähnen unterdrückend, stand Silas hinter der Theke seiner Kneipe und spielte mit dem Gedanken, den heutigen Tag zu beenden. Sein Blick schweifte über die verbliebenen Gäste, was ihm eigentlich in seinem Vorhaben bestätigen sollte. Es waren die üblichen Säufer, welche nur verschwanden, wenn man sie vor die Tür setzte. Geld brachten sie ihm definitiv nicht mehr ein, denn alle hielten sich an ihrem letzten Bier schon seit einer geschlagenen Stunde auf. Andererseits war es für Silas fast egal, ob er ihnen das Dach über dem Kopf ließ oder nicht.
Er seufzte bei dem Gedanken und strich sich durch seinen langen Bart. Es war einer dieser Abende, wo ihm bewusst wurde, dass er ihnen gar nicht so unähnlich war. Gut, er stank nicht rund um die Uhr nach Alkohol und sein Äußeres war bei weitem gepflegter und dennoch hatten sie eins gemeinsam. Einsamkeit.
Ein bitteres Gefühl stieg in ihm auf, welches sich zu einem dicken Kloß in seinem Hals festsetzte. So weit war es also schon gekommen. Er genoss die Anwesenheit des Abschaumes der Stadt. Über sich selbst angenervt, griff er nach dem Lappen, welcher in dem Spülbecken lag, und entschied sich dazu, den Säufern noch eine Gnadenfrist zu geben. Sein Blick wanderte zu dem Spiegel und erschrocken sah er in seine müden grauen Augen. Die dunklen Augenringe darunter nahmen ihn die Entscheidung wohl endgültig ab. Der Tag war gelaufen.
»Austrinken Männer. Feierabend für heute«, grollte seine raue Stimme durch die Kneipe.
Mehr als ein verächtliches Schnauben und leise murmelnde Erwiderungen bekam er jedoch nicht als Antwort. Aber auch das war nichts Neues für ihn und so ließ er die Spuren des Abends verschwinden und wischte über die klebrige Theke. Doch noch ehe er den letzten schmierigen Streifen beseitigt hatte, krachte plötzlich die Tür der Kneipe auf und im nächsten Moment, sah man etwas auf den Boden einschlagen. Silas fuhr erschrocken herum und zuckte zusammen, als er das Quietschen von durchdrehenden Reifen vor der Tür vernahm. Langsam richtete sich Silas zu seiner vollen Größe auf und ließ seinen Blick über die Theke gleiten.
Ein schmerzerfülltes Husten zerriss die Stille in dem Raum, welche mit dem am Boden liegenden Bündel in diesem eingezogen war. Die Säufer in der Bar sahen ebenfalls zu Boden, wandten sich dann aber wieder dem Bier vor sich zu. Es war entweder nicht das erste Mal, dass so was passierte, oder es waren einfach nicht mehr genügend Gehirnzellen vorhanden, die realisieren konnten, dass hier etwas nicht stimmte. Wahrscheinlich eher Variante zwei.
Silas hingegen gefror es das Blut in den Adern. Die Müdigkeit verschwand schlagartig aus seinem Körper und wurde durch Unsicherheit und Angst ersetzt. Sein Blick glitt über die blutverschmierte Gestalt, die sich auf seinen Boden krümmte.
»Fuck«, drang es unter dem Sack hervor und Silas beobachtete fassungslos, wie sich Tamo langsam versuchte aufzusetzen. Doch die Fesseln an Händen und Beinen sorgten dafür, dass dieses Unterfangen unmöglich war, also drehte er sich zumindest mühevoll auf den Rücken.
Silas trat weiter an die Theke heran und fixierte mit seinem Blick den dicken Kartoffelsack, welcher über Tamos Kopf hing. Dunkle Linien zeichneten sich deutlich darauf ab und als Silas deren volles Ausmaß erkannte, verkrampfte sich sein Körper zu einer steifen Statur.
Das ist unmöglich, schoss es ihm durch den Geist und gleichzeitig brachen die wildesten Gedanken auf ihn herein.
Die ineinander verschlungenen Kreise, welche am Ende ein abstraktes Symbol ergaben, ließen Silas bin von Sekunden in ein Loch seiner Vergangenheit fallen und schickten ihm ein: Du bist am Arsch, durch den Kopf.
»Raus«, murmelte er kaum hörbar in den Raum, während er langsam hinter der Theke hervortrat.
Erinnerungsfetzen wirbelten vor seinem inneren Auge wild umeinander und verschwammen zu einer breiten grausamen Masse. Gefühle, welche er seit Jahren nicht mehr vernommen hatte, kämpften einen verbitterten Kampf in seiner Brust und stritten um die Oberhand. Angst fraß sich durch jede seiner Zellen und hinterließ das Empfinden der Hilflosigkeit. Silas' Leben brach auf ihn herein, so wie der Säufer, welchen er gerade passierte. Dieser rutschte von dem Stuhl und fiel rücklings direkt in Silas Arme. Die unvorhersehbare Erschütterung holte Silas aus seiner Trance. Schlagartig kam er im Hier und Jetzt an und erfasste die Situation vor sich.
»RAUS! ALLE! SOFORT!«, brüllte er durch den Raum und ließ die Säufer zusammenschrecken.
Ohne auch nur mit dem geringsten Zeichen von Widerwillen, standen diese auf und verließen schwankend die Bar. Silas' Stimme hatte keinen Zweifel daran gelassen, dass Widerworte ihnen nichts als Ärger einbringen würden.
Kaum, dass der letzte die Tür hinter sich ins Schloss hatte fallen lassen, eilte Silas mit schnellen Schritten auf ebendiese zu. Zügig verriegelte er sie und drehte sich dann langsam wieder zu dem am Bodenliegenden. Zögerlich trat Silas nach vorn und ließ seinen Blick über Tamo schweifen, welcher still auf dem Rücken lag und behutsam atmete. Er suchte nach Anzeichen von Verletzungen, welche eine Erklärung für das Blut abgeben würden. Doch es war nichts zu finden.
Wieder sprang sein Blick zu dem Zeichen auf dem Sack. Doch egal, wie sehr er sich wünschte, dass er sich irrte. Es war real und unverkennbar das Symbol seines Schmerzes. Mit dieser Erkenntnis wich ihm die Angst aus dem Körper und Wut trat an deren Stelle. Sofort wägte Silas seine Optionen ab.
Töten, schoss es ihm durch den Kopf, als der Sack plötzlich anfing zu sprechen.
»Ich weiß, dass du neben mir stehst. Wie sieht es mit helfen aus?«
Silas stockte und trat einen Schritt zurück.
»Wie bist du hierhergekommen?«
Tamo sog tief die Luft ein, wodurch sich der Sack eng auf sein Gesicht legte.
»Ich wurde entführt und habe keine Ahnung, wo ich überhaupt bin«, erwiderte Tamo, einfach nur froh darüber, dass nach Stunden des Schweigens endlich jemand mit ihm sprach.
Silas runzelte die Stirn.
»Bist du verletzt?«
Ein Seufzen war zu hören.
»Ich denke nicht«, erwiderte Tamo und wagte einen neuen Versuch sich aufzurichten.
Doch ehe er auch nur den Hauch einer Chance dazu hatte, schoss ihm ein stechender Schmerz durch die Rippen und ließ ihn sofort wieder zu Boden fallen.
»Liegenbleiben, wenn du keinen weiteren Tritt kassieren willst, verstanden?«, knurrte Silas ihm entgegen.
Er trat erneut ein Stück zurück und suchte nach dem passenden Ausweg. Es gab einen Grund, warum dieser Typ noch lebte und wieso er ausgerechnet in seiner Bar abgeliefert worden war. Einen Grund, der Silas einen Schauer über den Rücken kriechen ließ und sämtliche Farbe aus dem Gesicht zog.
»Es ist noch nicht vorbei«, murmelte er.
Gefangen in der Reichweite dieser Erkenntnis, wandte er sich ab und rannte in das Hinterzimmer. Eine kleine Bude, welche spärlich bestückt war. Ein Schreibtisch voller Papierkram und ein schmales Bett, für die Nacht. Mehr gab es hier nicht zu finden. Mit einer schnellen Bewegung griff er nach der Tasche, die neben der Tür auf ihn wartete und eilte weiter zu dem Bett. Er zog eine rechteckige Metallkiste darunter hervor. Ein schmerzliches Kribbeln schoss durch seinen Magen, als sein Blick auf den Inhalt fiel.
Papiere, Waffen, Bargeld. Alles für den Fall, dass seine Vergangenheit zurückgekrochen kam.
Er schnappte sich die Pistolen, legte die Munition ein und ließ eine davon in der Tasche verschwinden. Die andere steckte er in den Bund seiner Hose.
Nicht optimal, aber besser als tot, dachte er sich und schmunzelte über seine eigenen Gedanken.
Schnell stopfte er das Bargeld in die Tasche gefolgt von den wenigen Klamotten, welche sich auf dem Bett angesammelt hatten. Er ermahnte sich selbst, dass er keine Zeit zu verlieren hatte und so sprang er auf und eilte zurück.
Tamo lag derweilen auf dem kalten Boden. Sein Schädel pulsierte und langsam konnte er die Angst vor dem Ersticken nicht mehr unterdrücken. Der Sack lag wie eine zweite Haut auf seinem Gesicht und ließ ihn immer schwerer atmen. Die Angst hatte ihn schon vor Stunden gelähmt und dennoch hatte die Stimme des Fremden für einen Moment Hoffnung aufkommen lassen. Der harte Tritt in seine Rippen hingegen, hatte diese direkt wieder erstickt.
Unfähig die Situation zu greifen, lag er auf den Boden und wartete auf den nächsten Moment seines abwegigen Traumes.
Silas ließ sich neben Tamo auf die Knie fallen und tastete seinen Körper ab.
»Folgende Regel. Wenn du einen Mucks von dir gibst. Bist du tot!«
Tamo schüttelte den Kopf unter dem Sack und gab ein leises Schnauben von sich. Langsam nervte ihn das Ganze. Seit Stunden bekam er Anweisungen, welche ihm widerstrebten, ohne auch nur den Hauch einer Ahnung zu haben, was überhaupt los war.
»Fick dich«, knurrte er aus Reflex zurück und befürchtete bereits, dass es ein Fehler war.
Silas hielt inne und ein tiefes Knurren drang aus seiner Brust. Er packte Tamo schlagartig und zerrte ihn mit Schwung auf die Beine, um ihn direkt in der Theke hinter sich einschlagen zu lassen. Ein Schmerzensschrei schoss durch den Raum, welchen Silas ignorierte. Erneut erhöhte er den Druck und presste Tamo mit dem schmerzenden Kreuz fester an die Holzkante.
»Ich rette dir nicht den Arsch, um meinen zu verlieren. Verstanden?«, zischte Silas ihn an.
Tamo atmete gegen die Schmerzen an und so vernahm er Silas' Worte nur beiläufig, dennoch brannte sich ein Wort in seinen Geist.
»Retten?«, wiederholte er leise.
Silas ließ ab von ihm und griff fest um seinen Arm.
»Was sonst?«, raunte er und zog Tamo stolpernd hinter sich her.
Er steuerte den Hinterausgang an, doch bevor er nach draußen trat, sah er sich um. Sein Blick glitt über die Umgebung und hielt Ausschau nach dem kleinsten Anzeichen von Leben. Aber auch zehn Minuten später lag die schmale Gasse noch in völliger Dunkelheit. Silas atmete ein letztes Mal tief durch und öffnete den Wagen aus der Deckung des Türrahmens. Nachdem auch das leise Piepen der aufspringenden Verriegelung keine Reaktion ausgelöst hatte, zog Silas seine Waffe aus dem Hosenbund und trat mit Tamo aus der Tür. Nur Sekunden später, hatte er diesen auf den Rücksitz seines Pick-ups verfrachtet und raste mit ihm in die Dunkelheit der Nacht.
Zwei Stunden fuhr er völlig planlos durch die Straßen von einer Stadt zur nächsten. Er bog spontan ab, drehte mehrfach Kreise und fuhr verkehrt herum in One-Way Straßen ein. Sein Blick hing dabei mehr in den Spiegeln und auf seiner Umgebung, als auf der Fahrbahn und erst als er sich sicher war, dass ihnen niemand folgte, begab er sich auf den Weg zu seinem wirklichen Ziel.
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