Kapitel 19 - Fucking Wonderland

Skàdi stieg die Treppe nach oben und krachte ihre Schlafzimmertür hinter sich zu. Stumpf lief sie auf ihr Bett zu und ließ sich einfach fallen.

»Unfassbar ...«, murmelte sie in das Kissen.

Wie genervt konnte ein Mensch sein? Skàdi hasste nichts mehr, als Menschen um sich herum ertragen zu müssen. Das konnte nur noch übertroffen werden, von Menschen, die ihr Haus dabei blockierten.

Alice war die einzige Ausnahme in ihrem Leben. Sie war ungewollt Teil davon geworden, doch sie hatten sich aneinander gewöhnt. Sie ergänzten sich. Ignorierten sich auch mal mehrere Tage ohne das es dafür einen relevanten Grund gab und siehe da. Es funktionierte.

Mit Milano verhielt es sich ähnlich. Er stolperte förmlich in ihr Leben. Er hingegen hatte sich vor drei Jahren, aber dazu entschieden seinen eigenen Weg zu gehen und ließ sich nur gelegentlich auf der Lichtung blicken. Was auch eindeutig besser für die Allgemeinheit war, denn wenn Alice und er zu lange aufeinander hockten, knallte es und das nicht gerade wenig.

Umso schlimmer war es, dass sie tatsächlich für die nächste Zeit aneinandergebunden waren und zusammenarbeiten mussten. Es gab für Skàdi keinen Zweifel mehr daran, dass ER seine Finger im Spiel hatte. Und solange das der Fall war, würde sie ihr Haus mit Menschen teilen, die sie zwar nicht leiden, aber auch nicht sterben lassen konnte.

Ein bitteres Gefühl zog sich durch ihren Magen und ließ sie sich zur Seite rollen. Ihr Blick wanderte zu der Schublade des Nachttisches. Ohne ihr Zutun öffnete sie diese leise. Es war leer. Zumindest fast. Ein zerknittertes Foto lag im hintersten Eck und genau nach diesem griff sie.

Mit dem Blick auf die junge Frau gerichtet, rollte sich Skàdi zurück auf den Rücken und musterte das Lächeln ihrer Schwester. Sie versuchte sich daran zu erinnern, was sie vor wenigen Monaten noch gefühlt hatte, als sie dieses Bild ansah. Doch sie vernahm nichts außer Leere. Sie empfand keine Trauer. Ihr Herz wurde nicht schwer, so wie man es vermuten sollte, wenn man auf einen Verstorbenen blickte, den man aus tiefster Seele geliebt hatte.

Doch es waren nicht nur die negativen Gefühle, die Skàdi nicht mehr vernahm, sondern auch die positiven. Ihre Schwester zu betrachten, war für sie genauso emotionslos, wie den Wind zu beobachten. Nutzlos. Vor wenigen Tagen schickte ihr dieses Bild wenigstens noch den Hauch eines Lächelns über die Lippen, doch die Rettung von Silas schien ihr selbst das genommen zu haben.

Genervt warf sie das Bild zurück in das Schubfach und krachte dieses unachtsam zu.

Das war es dann wohl.

Keine Empfindungen mehr. Nur noch vage Erinnerungen, an Gefühle, die sie einst hatte.

365 Tage hatte sie beinahe darum gebettelt, genau das zu erreichen. Sie wollte nichts als Leere empfinden, stattdessen wurde sie mit Schmerz gestraft.

Ihre Gedanken wanderten zu Alice. Nichts. Doch das Wort Sicherheit schwang ihr durch den Kopf. Milano. Spaß. Tamo. Genervt. Silas. Hass.

Sie rollte mit den Augen und griff nach der weichen Decke, die sie sich über den Kopf zog.

Vielleicht war es gar nicht das Schlimmste, nichts mehr zu empfinden oder sich mit einem beschissenen Gewissen rumärgern zu müssen. Bei dem, was vor ihnen lag, würde es sicher schlechtere Voraussetzungen geben.

Ein pochender Schmerz breitete sich in ihrem Schädel aus und ließ sie aufstöhnen.

Kopfschmerzen. Sie waren ein lästiger Begleiter der letzten Jahre geworden. Skàdi entspannte ihre Nackenmuskeln und zwang ihre Gedanken zum Stillstand. Mit bewussten Atemzügen fiel sie langsam in einen tiefen, unruhigen Schlaf.


~~~

Skàdi lief durch einen dunklen Wald. Es war kalt und sie vernahm, wie die kleinen Steinchen unter ihren Füßen, ihr schmerzhaft in die Fußsohle stachen. Benommen ließ sie den Blick zu Boden gleiten und sah, dass sie barfuß war. Sie fröstelte, denn die Kälte drang über ihre Fußsohlen ungehindert in ihren Körper. Skàdi rollte die Augen und war von sich selbst genervt, klar, das konnte auch nur sie schaffen. Barfuß, mitten in der Nacht durch einen verschissenen Wald zu wandeln. Sie gab ein leises Seufzen von sich und lief weiter. Den reißenden Schmerz und das Kratzen auf ihrer nackten Haut ignorierte sie. Denn sie hatte nicht nur die Schuhe neben ihrem Bett stehen lassen, sondern hatte sich auch die Hose gespart.

Sie lief also nur mit Slip und Shirt bekleidet durch einen Wald. Nachts.

Klasse ... packen wir noch eine Hexe, ein Werwolf und einen Serienkiller dazu und wir haben die schlechteste Horrorgeschichte aller Zeiten.

Skàdi schüttelte den Kopf und versuchte die Stimme, die ihre eigene Dummheit scheinbar kommentierte, loszuwerden. Was eher so semi gut funktionierte. Im Gegenteil, sie wurde nur noch klarer und aufdringlicher.

»Du weißt, dass es nur ein Traum ist, oder?«

Skàdi schnaubte und folgte weiter dem Waldweg.

»Ich hoffe es, sonst würde es bedeuten, dass ich wirklich wahnsinnig werde!«

Die Stimme gab ein hohes, quietschendes Lachen von sich, was Skàdi förmlich die Zehennägel nach oben rollen ließ.

»Orr ... lass das ... ist ja widerlich ...«, raunte Skàdi.

Die Stimme räusperte sich und setzte die folgenden Worte automatisch tiefer an.

»Sorry, aber was wäre denn so schlimm daran, wenn der Wahnsinn sich bei dir langsam durchsetzt?«

»Nichts ... denke ich ...«, erwiderte Skàdi schnaubend.

Sie lief weiter über den Weg und erst jetzt fragte sie sich, warum er aus kleinen, weißen Kieselsteinen bestand. Sie blieb stehen und musterte den Weg. Die Stimme gab wieder ein leises Kichern von sich.

»Na, auch schon bemerkt, dass es völlig sinnlos ist, dass der Weg aus Steinen besteht? Hier? So mitten im Wald?«

Skàdi stöhnte auf und lief weiter.

»Es ist ein Traum. Träume müssen keinen Sinn ergeben«, murmelte Skàdi und schüttelte dabei den Kopf.

Wieder kicherte die Stimme vor sich hin.

»Aber was ist, wenn Träume doch immer einen Sinn ergeben?«

Skàdi rollte die Augen und beschloss, die Stimme einfach zu ignorieren, was diese aber nicht daran hinderte weiterzusprechen.

»Was ist, wenn dieser Kieselweg dir etwas sagen soll? Dich auf etwas hinweisen möchte?«

Gut, jetzt musste auch Skàdi schmunzeln, aber eher über ihre Gedanken, die sie gleich laut aussprechen würde.

»Und das wäre? Es ist dämlich, barfuß zu laufen? Oder besser noch, es gibt tatsächlich Kobolde, die nichts Besseres zu tun haben, als einen Waldweg mit Kieselsteinen zu befüllen?«

»Verfluchte Scheiße noch eins«, raunte Skàdi, hielt inne und rieb sich über ihre geschundene Fußsohle.

»Oh, tat das weh?«, fragte die Stimme hinterlistig.

»Fresse!« Gab Skàdi zurück und sah auf den breiter werdenden Weg vor sich.

»Du bist ja übel drauf«, sagte die Stimme fast schon beleidigt.

Skàdi zuckte mit den Schultern und sie setzte sich langsam wieder in Bewegung.

»Ja, weil es ein verfickter Traum ist und jetzt, halt die Fresse verdammt!«

Ein Stöhnen war zu hören.

»Ähm ... nein ...«

Die Wut in Skàdi kochte bereits, sie hielt inne und drehte sich herum zu der Stimme, als würde sie eine Menschengestalt hinter sich erwarten. Doch nichts als Dunkelheit war es, was sich vor ihr ausbreitete. Trotzdem stockte Skàdi und runzelte die Stirn. Der Kiesweg, welchen sie gerade entlang gelaufen war, hatte sich gespalten.

Wieder lachte die Stimme auf.

»Tja, Skàdi ... links oder rechts? Das ist jetzt die Frage.«

»Fick dich«, maulte Skàdi und drehte sich zurück in die andere Richtung.

Doch auch hier hatte sich der Weg gespalten.

»Ach, das gibt es doch nicht«, sagte sie seufzend.

Sich am Hinterkopf kratzend musterte sie die Weggabelung, doch beide Wege sahen identisch aus.

»Also, wo führen diese Wege hin? Und komm mir jetzt nicht mit, ich weiß es nicht.«

Die Stimme summte leise vor sich hin.

»Es ist ein Traum, oder? Also, was denkst du?«

Skàdi kniff sich in den Nasenrücken.

»Alter, sind wir hier im fucking Wonderland und du machst ein auf Grinsekatze, oder was? Gib mir gefälligst eine beschissene Antwort oder verpiss dich.«

»Tod oder Leben«, sagte die Stimme plötzlich kalt.

Skàdi drehte den Kopf, denn die Stimme schien ganz nah an ihrem Ohr zu sein.

»Was?«, fragte sie nach.

»Tod oder Leben. Das sind die Ziele der Wege«, sagte die Stimme leicht genervt.

Skàdi stöhnte auf. Sie verlor die Geduld und auch die Lust für diese Scheiße. Träume konnte man ja bekanntlich aussitzen und genau das würde sie tun. Sie ließ sich auf den Boden fallen, verschränkte die Arme hinter dem Kopf und starrte in den dunklen Himmel.

»Und was wird das jetzt?«, fragte die Stimme.

Skàdi schloss die Augen.

»Ich warte darauf, dass ich aufwache.«

Plötzlich spürte Skàdi ein Kribbeln, welches von ihren Beinen langsam nach oben wanderte und über ihren Herzen stehenblieb. Wärme drang in sie ein und für einen kurzen Moment fühlte es sich an, als würde ihr Herz die Wärme aufsaugen und durch ihren ganzen Körper schleusen.

»Und was ist, wenn es gar kein Traum ist?«, fragte die Stimme leise.

»Dann würde es immer noch bedeuten, dass ich wahnsinnig werde«, sagte sie, während sie versuchte diese Wärme in sich zu ignorieren.

Es dauerte einen Moment, doch das Kribbeln verschwand und mit ihm die Wärme, dafür vernahm Skàdi etwas Schweres auf der Brust. Sie blinzelte und öffnete langsam die Augen. Ihr Blick wanderte ihrem Oberkörper ab, bis sie erkannte, was ihr auf der Brust lag. Ein Buch. Das Buch.

Die Stimme lachte ein letztes Mal auf. Leiser, denn sie war plötzlich viel weiter entfernt.

»Vielleicht bedeutet es aber auch einfach nur, dass du die Antworten bereits vor der Nase hast. Du dich aber vor der Entscheidung, sie endlich zu erkennen, verweigerst oder willst du behaupten, du spürst es nicht?«

Skàdi setzte sich auf, mit dem Buch in der Hand, welches plötzlich auf ihrer Brust gelegen hatte. Sie sah sich suchend um.

»Was soll ich gespürt haben?«, fragte sie irritiert.

Die Stimme klang mittlerweile gedämpft und schien ewig weit weg zu sein.

»Mach die Augen auf, Skàdi. Mach einfach nur die Augen auf!«

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