Kapitel 18 - Hass war es, was ihm am Leben hielt
Silas ging langsam auf Skàdi zu, welche immer noch völlig regungslos da saß und in die Leere vor sich starrte. Sein Geist war ausgelaugt und jede Zelle seines Körpers sendete seinem Hirn einen Schmerzimpuls. Die Dunkelheit steckte ihm noch in den Knochen und er fühlte sich mehr tot als lebendig.
Was wohl daran lag, dass er vor wenigen Stunden schon das zweite Mal in seinem Leben gestorben war.
Dennoch vernahm er das Kribbeln auf seiner Haut und ein kurzer Blick in Richtung seines Armes zeigte ihm, dass seine Wunden fast vollständig verheilt waren. Das unangenehme Drücken seiner Rippen und das Ziehen darunter bestätigten ihm, dass er zumindest körperlich bald wieder der Alte sein würde. Ein Vorgang, den er jetzt das zweite Mal durchlebte und er musste gestehen, es wurde nicht angenehmer.
Also hielt sich seine Freude in Grenzen, als er schlagartig aus der stillen Dunkelheit gerissen wurde und in die Gesichter von Alice und Milano blickte.
Die Dankbarkeit darüber, dass er erneut unter den Lebenden weilte, war ihm beim ersten Mal schon nach wenigen Sekunden vergangen. Und das nicht wegen der sofort über ihn einbrechenden Schmerzen oder weil er sich fühlte, wie durch den Fleischwolf gedreht.
Nein. Er wünschte sich zurück in den Tod wegen ihr, denn er wusste, was das für sie bedeutete.
Schon vor drei Jahren hatte er ihr Handeln nicht nachvollziehen können, aber heute. Heute schien es noch viel willkürlicher. Sie hasste ihn. Warum ließ sie ihn nicht einfach verschwinden? Zu viele unausgesprochene Dinge lagen zwischen ihnen und es schmerzte Silas, sie so zu sehen. Vor wenigen Jahren wusste er genau, was sie dachte. Was sie fühlte. Wer sie war.
Heute saß eine völlig fremde Skàdi vor ihm. Fernab von dem, was sie einst verband, hatte sie die Mauer um sich so hochgezogen, dass es unmöglich schien auch nur einen Blick dahinter riskieren zu können.
Sie war einst seine Familie. Sie war sein Leben und jetzt verdankte er ihr ebendieses. Erneut.
Er stand mittlerweile neben ihr und sofort schlug ihm ihre unsagbare, grauenhafte Kälte entgegen. Doch die kannte er bereits und er ließ sich davon nicht mehr abschrecken, auch wenn ihm bewusst war, dass dies sozusagen ihre erste Warnstufe war. Aber was sollte schon passieren? Sie würde ihn nicht töten. Sie hätte nicht all die Schmerzen, der letzten Stunden wegen ihm erlitten und auf sich genommen, um ihn jetzt über den Jordan zu jagen.
Und wenn doch, dann wäre es halt so.
»Ich weiß nicht wirklich, was ich sagen soll. Außer Danke ... mal wieder ...«, murmelte er leise.
Er sah sie hoffnungsvoll an und rieb sich dabei unsicher die Hände, denn egal, wie gut er sie zu kennen hoffte, er kannte sie nicht mehr. Nicht mal mehr ansatzweise. Sie hatte sich nicht nur äußerlich verändert. Ihr ganzes Wesen hatte nichts mit der Skàdi gemein, mit welcher er sein Leben hätte verbringen wollen.
Es gab Zeiten, da hoffte er vergessen zu können. Er hatte versucht, sein Leben weiterzuleben. Er versuchte sich einzureden, dass seine Skàdi nicht mehr existierte.
Und doch stand er heute wieder vor ihr. Gebrochen. Geflickt. Und das alles von ihr.
Sein Blick wanderte über ihr Gesicht in der Hoffnung, irgendeine Reaktion wahrnehmen zu können, aber sie zuckte nicht mal mit den Wimpern. Er beobachtete, wie sich ihr Brustkorb langsam hob und senkte, wie ihr Ausdruck zwischen Gleichgültigkeit und Wut schwankte.
Seufzend rieb er sich verzweifelt über seine müden Augen.
»Bitte, Skàdi! Rede mit mir! Ich weiß, dass ich dich damals enttäuscht habe, und es tut mir leid. So unendlich leid! Ich würde mein Leben dafür geben, meine Entscheidung rückgängig zu machen. Aber ich kann den größten Fehler meines Lebens nicht mehr ändern«, erklärte er sich zum hundertsten Mal.
Er stockte, denn die Kälte, die ihm entgegenschlug, wurde noch eisiger und sie begann damit in seinen Körper einzudringen. Gänsehaut breitete sich aus und seine Haut überzog ein leichter Schmerz. Langsam schloss er die Augen und atmete gegen die Panik, die in ihm aufstieg, an. Es war ein Reflex, welcher ihm nicht helfen würde.
Denn sie löste die Gefühle in ihm aus. Sie steuerte diese alles lähmende Angst und es würde nur enden, wenn es ihr Wille sein würde.
»Skàdi, bitte hör auf. Ich werde deswegen nicht gehen. Nicht mehr«, flüsterte er flehend.
Wieder reagierte sie nicht und sein Leib begann zu zittern. Das Atmen fing an, ihm schwerer zu fallen, und sein ohnehin schon geschwächter Körper, würde das Ganze nicht lange aushalten. Sie konnte ihn töten, ohne dass dafür eine Bewegung erforderlich war, und trotzdem würde er diesmal nicht aufgeben.
Die Schmerzen zwangen ihn in die Knie. Die Kälte drang ihm bis ins Mark. Millionen kleine Nadelspitzen fraßen sich durch seine Haut und rissen an seinen Nervenbahnen. Seine Lunge fing an zu brennen und sein Blutdruck schoss in die Höhe. Mit einem lauten Stöhnen ließ er sich auf den Boden fallen und stützte sich mit den Händen ab. Mit der letzten Kraft, die er noch aufbringen konnte, hob er den Blick und sah zu ihr.
Eine einzelne Träne vermischte sich mit dem kalten Angstschweiß und lief ihm über die Wange, als er in die leeren, schwarzen Augen von Skàdi sah, die mittlerweile fest auf ihn gerichtet waren.
»Dann bring es endlich zu Ende«, keuchte er.
Doch Skàdi schüttelte den Kopf.
»Nein, den Gefallen werde ich dir nicht tun«, flüsterte sie ihm mit emotionsloser Stimme zu und mit ihren Worten verschwanden die Schmerzen, die Kälte und die Angst.
Er ließ den Kopf hängen und atmete so tief ein, wie es ihm nur möglich war, bevor er langsam auf den Boden rutschte. Sitzend nahm er sich einige Minuten, um sich zu sammeln.
Er hasste es. Früher war er fest der Meinung, dass es nichts Schlimmeres geben konnte, als die Schmerzen unmittelbar vor dem Tod. Heute wusste er, dass es ein Irrglauben gewesen war.
Er öffnete die Augen wieder und richtete den Blick sofort auf sie. Aufgeben war immer noch keine Option. Immerhin hatte sie reagiert und nicht ignoriert.
Skàdi starrte wieder in den Wald und drehte die Zigarette, die sie eben angezündet hatte, durch ihre Finger.
Er wischte sich den Schweiß aus dem Gesicht und setzte zu einem neuen Versuch an.
»Warum tust du das? Warum hast du mir das Leben gerettet und all die Schmerzen auf dich genommen, wenn du mich doch so sehr hasst? Warum, Skàdi?«
Ein kaltes Lächeln legte sich auf ihre Lippen und versetzte ihm einen harten Stich ins Herz.
»Du weißt, warum«, raunte sie.
Silas schüttelte traurig den Kopf und kämpfte gegen die aufsteigenden Tränen, welche die Erinnerungen mit sich brachten, an.
»Ich konnte doch nicht wissen, dass das passieren würde. Ich ... ich ... verflucht ... er war mein Bruder ...«, erwiderte er mit zitternder Stimme.
Skàdi lachte kalt auf.
»Und sie meine Schwester und sie ist gestorben, weil sie dir mehr vertraut hat als mir. Sie ist gestorben, weil du mir nicht geglaubt hast. Sie ist gestorben, weil ihr gedacht habt, dass ich irre bin.«
Silas sah zu Boden und nickte, denn ja, er hatte eine Fehlentscheidung getroffen. Und diese würde er den Rest seines Lebens bereuen.
»Ich weiß und ich weiß, dass du mir das niemals verzeihen kannst, aber warum? Warum opferst du dich dann und rettest mir das Leben? Ich weiß, was das für dich bedeutet. Ich weiß, wie sehr du darunter leidest. Also, Skàdi, warum tust du das?«
In seinen Worten schwang die pure Verzweiflung, denn genau das war es, was er empfand.
Er verstand es nicht und es zerriss ihm das Herz, dabei zuzusehen, wie kalt und emotionslos seine einst beste Freundin vor ihm saß.
Skàdi musterte ihn und legte den Kopf schief. Ihr Blick wurde dunkel und ihre Stimme nahm bedrohliche Züge an.
»Ich habe dich gerettet, weil es einfacher ist, die Schmerzen und die Kälte zu ertragen, als das Wissen darüber, dass du Tod bist. Dass du Frieden gefunden hast. Dass du es vergessen kannst.«
Skàdi erhob sich, beugte sich zu ihm und lehnte sich nah an sein Ohr. Silas' Puls schoss augenblicklich in die Höhe und er hielt den Atem an.
»Solange ich leide, wirst du es auch tun«, zischte sie ihm zu.
Sie richtete sich auf und wandte sich von ihm ab.
Silas sackte ein Stück weiter in sich zusammen. Auch wenn er es sich nicht eingestehen wollte, im innersten hatte er auf einen anderen Grund gehofft.
Hass. Hass war es, der ihm am Leben fesselte. Die Erkenntnis darüber war nicht neu und doch schmerzte es ihm mehr als die Verletzungen, die sein Körper trug.
Skàdi hielt inne und sah über ihre Schulter zurück zu ihm.
»Du bleibst hier, bis wir wissen, was die ganze Scheiße soll und nur, dass wir uns verstehen, das ist keine Bitte und auch kein Friedensangebot!«
Er nickte nur und damit trat sie in das Haus.
Alice, Tamo und Milano sahen ihr nach, doch auch die Drei ignorierte Skàdi gekonnt.
Eine bedrückte Stimmung breitete sich in dem Raum aus, doch Tamo hatte es satt. Er wollte nicht mehr warten, zuschauen und am Ende noch ahnungslos sterben.
Er stand auf, verschränkte die Arme vor der Brust und sah sich um.
»Also, ich kenne die Antwort zwar schon, aber ich versuche es erneut. Kann mir jetzt irgendeiner sagen, was zur Hölle hier los ist und was bitte stimmt mit euch allen nicht?«
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