Kapitel 16 - Ankömmlinge

Gähnend fand Tamo langsam aus dem Schlaf. Seine Glieder in alle Richtungen streckend, öffnete er die Augen und brauchte einen Moment, bis er sich orientieren konnte.

Das Haus der Verrückten.

Auch wenn es unrealistisch war, ein kleiner Hauch von Hoffnung, dass es alles nur ein übler Traum war, ruhte immer noch in ihm.

Was ihm wohl heute erwarten würde?

Seufzend drehte er sich auf die Seite und richtete den Blick auf den Wecker. Es war bereits nach elf am Morgen. Das Gespräch der letzten Nacht kam ihm in den Sinn und verpasste ihm einen Schauer. Sie hatte einen Priester getötet. Warum? Tamo rollte die Augen und packte diese Frage auf den restlichen Stapel von Ungewissheiten, die dringend eine Erklärung benötigten.

Langsam richtete er sich auf, denn auch wenn er am liebsten einfach liegen geblieben wäre, würde er so keiner Antwort näher kommen. Mit Erstaunen stellte er fest, dass er sich erholt und fit fühlte. Er stieg aus dem Bett, verschwand unter die Dusche und nachdem er sich sein Bein neu verbunden hatte, hielt er für einen Moment vor der Zimmertür inne.

»Alles wird gut«, raunte er leise und versuchte sich damit selbst Mut zu machen, denn allein der Gedanke daran, gleich wieder auf Alice oder Skàdi zu treffen, verpasste ihm ein unangenehmes Kribbeln im Magen. Waren sie wirklich Mörder?

Er betrat das Wohnzimmer und sofort fiel sein Blick wieder auf den zerbrochenen Couchtisch. Tja, es hatte sich wohl noch niemand darum bemüht, die Scherben wegzuräumen. Er schüttelte den Kopf, als er plötzlich eine Stimme vernahm, die ihm direkt die Haare zu Berge jagte.

»Wird Zeit, dass du deine Scheiße endlich wegräumst«, raunte Skàdi ihm entgegen.

Er schloss die Augen und kämpfte gegen den Reflex der Flucht an, denn wenn er eins mittlerweile verstanden hatte, dann das er weder die Chance dazu hatte noch das es einen Ort gab, an dem er erwünscht war.

Tamo räusperte sich und öffnete langsam wieder die Augen. Er hatte zwar gehofft, dass Skàdi, wie immer, nicht hier war und er vielleicht Alice dazu bringen konnte, ihm Antworten zu geben, aber gut, dann musste er wohl jetzt mit ihr vorliebnehmen.

»Dir auch einen guten Morgen«, sagte er selbstsicher.

Skàdi zog eine Braue nach oben und schnaubte.

»Er ist weder gut noch ist es morgen«, raunte sie zurück.

Okay, bei ihrer Art fiel es ihm gar nicht so schwer, die Angst, die unterschwellig in ihm herrschte zu verdrängen und wieder Wut zu empfinden.

Sie kratzte mit jedem Wort, an seinem inneren Arschloch. Tamo rollte die Augen und drehte sich langsam zu ihr. Doch diesen Anblick hatte er nicht erwartet. Sie lag auf der Couch, mit einem Laptop auf dem Schoß und einer Kaffeetasse in der Hand. Ihr Blick war auf den Bildschirm gerichtet. Sie sah müde aus. Nein, das war untertrieben. Sie schien völlig fertig zu sein. Ihre Haut war kreidebleich. Tiefe Augenringe lagen unter ihren roten Augen, ihre langen Haare waren wüst auf dem Kopf zusammen geknotet und ihre Lippen waren rissig und aufgeplatzt.

Hatte der Priester ihr so zugesetzt? Oder was war mit ihr passiert?

Unerwartete Sorge machte sich in ihm breit und ließ ihn einen Schritt auf sie zugehen.

»Alles okay mit dir?«, fragte er zögerlich.

Skàdi hob den Blick und fixierte ihn für einen Moment. Erschöpfung lag ihr in den Augen und dennoch schüttelte sie den Kopf.

»Was interessiert es dich?«, raunte sie ihn an und sah wieder auf den Bildschirm.

Tamo rollte die Augen und die plötzliche Sorge verschwand augenblicklich.

»Dann eben nicht«, erwiderte er und damit drehte er ab.

Er lief in die Küche, schnappte sich eine Tasse und nachdem er diese mit Kaffee gefüllt hatte, wandte er sich zurück in Richtung des Wohnzimmers. Als schlagartig ein dunkles Knurren neben ihm ertönte.

Narcos.

Das riesig wirkende Tier stand mit aufgestellten Haaren vor ihm und starrte ihn mit seinen goldfarbenen Augen an. Tamos Kehle trocknete aus und verunsichert wich er einen Schritt zurück.

»Kannst du ihn bitte wegnehmen?«, fragte er mit zitternder Stimme, denn Narcos begann damit, die Zähne zu fletschen.

Skàdi hob den Kopf und sah mit einem breiten Grinsen über die Lehne der Couch.

»Der will nur spielen oder es liegt daran, dass er ein Problem mit Mördern hat«, gab sie zurück und richtete ihren Blick wieder auf den Laptop.

Es war, als hätte sie Tamo einen harten Seitenhieb verpasst und für einen Moment vergaß er den Hund vor sich.

»Mörder?«, fragte er ungläubig, während Narcos einen weiteren Schritt auf ihn zumachte, was diesen automatisch zurückweichen ließ.

»Klar, zeig ihm nur, dass du kurz davor bist dir vor Angst einzupinkeln und ja, laut den Medien bist du der Mörder deiner Eltern«, erwiderte sie mit gelangweiltem Unterton.

Tamo riss die Augen auf, was den Hund noch aggressiver knurren ließ. Skàdi beobachtete die beiden und schmunzelte.

»Narcos, wir brauchen ihn scheinbar«, murmelte sie und schon herrschte Stille.

Narcos wandte sich ab und verschwand, als wäre nie etwas gewesen, durch die offene Terrassentür nach draußen.

Tamo stand steif an die Kücheninsel gelehnt und starrte zu Skàdi.

»Ich habe meine Eltern nicht getötet«, sagte er plötzlich leise.

Sie hob den Blick und sah ihn fragend an.

»Sicher?«

Tja, war er das? Nein, denn er erinnerte sich nicht daran. Er sah immer nur ihre toten Körper und das viele Blut, welches sich langsam auf dem weißen Teppich ausbreitete. Er seufzte auf, als sein Herz sich schmerzhaft zusammenzog.

»Nein«, gab er zu und wartete darauf, dass Skàdi reagieren würde, doch sie nickte nur und sah wieder auf den Laptop.

Tamo schien auf eine Reaktion zu warten, doch als diese ausblieb, setzte er sich in Bewegung und lief in das Wohnzimmer. Sie beachtete ihn nicht, stellte nur den Laptop auf die Lehne der Couch, sodass er den Artikel selbst lesen konnte. Seine Augen flogen über die Zeilen und mit jeder neuen Runde sackte seine Körperhaltung in sich zusammen. Er senkte den Blick und versuchte die aufsteigenden Tränen wegzublinzeln.

»Ich denke nicht, dass du es gewesen bist«, sagte sie und nahm den Laptop wieder zu sich.

Tamo sah sie überrascht an und fand aber keine passenden Worte. Irgendwie beruhigte es ihn, dass sie ihn für unschuldig hielt. Dennoch machte ihn diese Ungewissheit fertig. Sein Blick wanderte nach draußen und die Zigarettenschachtel, welche auf dem Tisch lag, stach ihm ins Auge. Das Verlangen schlug zu und er sah widerwillig zu Skàdi.

»Kann ich mir eine nehmen?«, fragte er und zeigte in Richtung der Zigaretten.

Sie nickte, ohne aufzuschauen.

»Ja und hör auf, jedes Mal zu fragen.«

Er überlegte, ob er noch etwas erwidern sollte, ließ es aber und ging nach draußen. Er nahm sich eine von den Kippen, zündete sie an und genoss das Gefühl, als der Rauch seine Lungen füllte und das Nikotin seine Nerven beruhigte.

Plötzlich stand Skàdi hinter ihm und als er beiseitetreten wollte, um sie vorbeizulassen, sah er, wie sie ruckartig schwankte und ihre Knie nachgaben. Allein schon aus Reflex drehte er sich zu ihr und fing sie auf. Doch so, wie er sie berührte, durchschoss ihn wieder diese unsagbare Kälte und ließ ihn aufstöhnen.

»Nimm deine Pfoten von mir«, fauchte sie.

Nichts lieber als das, dachte sich Tamo und ließ sie los.

Skàdi stützte sich an der Lehne der Sitzbank ab, die vor ihnen stand, nahm sich eine Zigarette und ging auf wackligen Beinen um die Bank und setzte sich, unter schmerzhaftem Stöhnen, darauf. Tamo starrte ihr nach und erst, als sie saß, bemerkte er, dass die Kälte, die ihm eben noch die Luft aus der Lunge pressen wollte, verschwunden war.

Was zur Hölle war das?

Er sah wieder zu Skàdi, deren Gesicht immer noch schmerzverzogen aussah. Mit dem Kaffee in der Hand setzte er sich und fixierte sie mit seinem Blick. Eine seltsame Mischung aus Angst und Sorge schwang durch seinen Körper. Ihr ging es beschissen und etwas in ihm verlangte danach zu erfahren warum.

»Hat dir der Priester so zugesetzt?«, schoss es ihm schneller, als er nachdenken konnte, über die Lippen.

Skàdi sah ihn angepisst an, schob sich etwas tiefer in die Bank, was ihr scheinbar auch wieder Schmerzen verursachte.

»Ist dir nicht beigebracht worden, dass man andere nicht bei Gesprächen belauscht?«, fragte sie genervt.

Tamo lachte kalt auf.

»Schon, aber da mir hier ja keiner Antworten gibt, muss ich sie mir wohl selbst suchen, außerdem war es keine Kunst euch zu hören, so laut wie ihr durch die Bude gebrüllt habt«, entgegnete er.

Sie musterte ihn, überrascht, wie schnell er zwischen verängstigt und vorlaut schwanken konnte. Er war aufmerksam. Zu aufmerksam.

»Nein ...«, erwiderte sie knapp.

Tamo sah sie fragend an.

»Nein, was?«, fragte er und runzelte dabei die Stirn.

Sie legte ihre Zeigefinger an die Schläfen und massierte diese langsam.

»Nein, war nicht der Priester«, gab sie leise von sich.

Ungläubig sah er sie an. Zum einen hatte er nicht mit einer Antwort gerechnet. Zum anderen, wenn es nicht der Priester gewesen war, wer dann? Zwischen dem Streit von Alice und ihr und jetzt lagen kaum acht Stunden.

Er öffnete bereits den Mund, doch Skàdi kam ihm zuvor.

»Vergiss es, würdest du nicht verstehen. Also tu mir den Gefallen und lass es. Mir dröhnt ohnehin schon der Schädel«, sagte sie und sah ihn dabei mit müdem Blick an.

Er nickte nur, denn bis jetzt, waren das wohl die nettesten Worte, die er aus ihrem Mund gehört hatte. Sie lehnte ihren Kopf an die Lehne und schloss die Augen, was Tamo dazu verleitete, sie zu mustern. Er hatte sie immer nur flüchtig angeschaut und jetzt war der erste Moment, wo sie mal, na nennen wir es entspannt, nebeneinander saßen.

Sein Blick wanderte über ihren Körper und sofort weiteten sich seine Augen. Sie trug ein kurzes Shirt und was ihm dieses offenbarte, ließ ihm nach Luft schnappen. Ihre Arme waren voller Narben. Kleine und große, unterschiedlich lange, weiße Striche, die sich über ihren kompletten Arm zogen. Er lehnte sich leicht nach vorn, sodass er auch ihren anderen Arm erblicken konnte und als er sah, dass dieser genauso aussah, rutschten ihm die Wörter förmlich aus dem Mund.

»Holy Shit ... was hast du denn gemacht?«, fragte er erschrocken.

Skàdi öffnete die Augen und sah irritiert zu ihm, doch als sie bemerkte, worauf sein Blick hing, knurrte sie ihn an.

»Ich konnte nicht mit Messern umgehen. Hat einiges an Übung gebraucht.«

Damit schloss sie die Augen wieder und Tamo sah sie völlig perplex an. Er war sich ziemlich sicher, dass das nicht ihr Ernst war, und trotzdem fragte er sich, ob sie sich diese Verletzungen selbst zugeführt hatte. Er schluckte, doch gerade als er nachfragen wollte, erweckte ein lautes Knurren seine Aufmerksamkeit. Nicht schon wieder!

Sein Blick wanderte zum Waldrand und dort sah er gelbe Augen, die ihm entgegen leuchteten. Das gab es ja wohl nicht. Er setzte sich auf und wurde ganz starr.

»Ich glaubs ja wohl nicht«, entfuhr es ihm.

Skàdi stöhnte genervt auf und rieb sich erneut die Schläfen.

»Ich auch nicht. Ist es denn so schwer, einfach die Klappe zu halten?«, zischte sie.

Er sah zu ihr, aber ihre Augen waren immer noch geschlossen. Sie musste das Knurren doch auch hören und dass die Wölfe bereits aus dem Wald getreten waren, machte es nicht gerade besser. Tamo war es egal, dass sie genervt von ihm war. Er hatte keinen Bock als Wolfsfutter zu enden.

»Sorry, aber da stehen Wölfe vor dem Zaun und um ehrlich zu sein, glaube ich nicht, dass dieser sie aufhalten wird.«

Skàdi schüttelte den Kopf.

»Tut er auch nicht, aber keine Angst Prinz, die sind nicht deinetwegen hier.«

Tamo drehte sich mit verständnislosem Blick zu ihr.

»Sondern? Gefällt ihnen die Aussicht darauf, von Narcos den Arsch aufgerissen zu bekommen?«

Tamo stockte, war das etwa ein Schmunzeln auf ihrem Gesicht. Doch so schnell, wie es da gewesen war, war es auch wieder verschwunden und sie öffnete die Augen. Ihr leerer, kalter Blick ließ ihn zurückweichen. Aber sie drehte ihren Kopf und sah zu dem Tor.

»Nein, sie kündigen nur an, dass wir gleich Besuch bekommen werden«, sagte sie, während sie weiter das Tor fixierte.

Tamo sah sie fragend an und richtete seinen Blick ebenfalls zu dem Tor, welches genau in dem Moment aufging. Ein Wagen rollte aus dem Wald und fuhr auf das Grundstück. Sofort rannten die Wölfe dem Auto nach und als es zum Stehen kam und die Türen aufgestoßen wurden, hörte Tamo, wie Skàdi schluckte.

Sie wirkte angespannt. Ihr Kiefer zuckte leicht und ihr Blick war starr auf das Auto gerichtet. Wer auch immer gleich aus dem Wagen steigen würde, war wohl kein gern gesehener Gast hier.

Die Fragen ebbten einfach nicht ab. Im Gegenteil. Es wurden nur stetig mehr.

Er richtete seinen Blick wieder auf den Wagen und als er das lavendelfarbene Haar von Alice erkannte, war seine Verwirrung perfekt.

Er runzelte die Stirn. Was stimmte mit den Leuten hier nicht? Die waren ständig unterwegs. Schliefen die eigentlich jemals?

Die Fahrertür öffnete sich als Nächstes und ein breit gebauter Typ erschien in Tamos Sichtfeld. Er trug fast so viele Tattoos, wie er selbst, aber viel interessanter war, dass die Wölfe sich voller Freude auf diesen stürzten, als hätten sie ihn vermisst. Er kraulte sie kurz, bevor er sie wegschickte und nach der hinteren Wagentür griff. Er beugte sich in das Innere des Wagens und nur Sekunden später half er einer weiteren Person beim Aussteigen.

Tamo vermochte seinen Augen nicht zu trauen, und sah zu Skàdi.

»Silas?«, kam es als Frage über seine Lippen.

Sie gab jedoch keine Regung von sich, sondern starrte, mit vor Zorn funkelndem Blick in Richtung der Ankömmlinge.

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