Kapitel 10 - Zeichen des Mitgefühls
Tamo hielt für einen Moment inne und legte seine Hand auf die Klinke der Haustür. Sein Blick wanderte zurück, an den Punkt, an dem Skàdi vor wenigen Augenblicken noch gestanden hatte. Doch sie war verschwunden.
Wie ein verfluchter Geist, schoss es ihm durch den Kopf und ließ ihn aufseufzen.
Der Gedanke an Flucht flammte ein weiteres Mal auf. Aber er war müde, dreckig und sein Magen knurrte lautstark. Reflexartig griff er sich an den Bauch, denn das Grummeln darin, war so stark, dass es ihm bereits Schmerzen verursachte. Außerdem schien sein geistiger Zustand zunehmend zu einer farblosen, breiartigen Masse zu verschwimmen. Nichts ergab einen Sinn und seine körperliche Verfassung würde ihm nicht einen Kilometer mehr von diesem Haus wegbringen.
Er war schachmatt gesetzt, zumindest für diesen Moment.
Und wenn er ehrlich war, wusste er nicht mal, wovor er versuchte zu flüchten. Skàdi hatte ihm gerade das Leben gerettet und mehr als deutlich gemacht, dass ihr immerhin an seinem schlagenden Herz etwas lag.
Das erneute Knurren seines Magens holte ihn zurück und bevor sich seine Gedanken weiter mit Fragen beschäftigen konnten, welche er eh nicht in der Lage war zu beantworten, betrat er das Haus. Tamo atmete tief ein und hoffte, dass er in dem Kühlschrank etwas zu essen finden würde. Schleichend lief er durch den Flur, weiter durch das Wohnzimmer auf die Küche zu und schon schlug ihm ein angenehmer Duft entgegen. Der Speichel in seinem Mund ließ ihn schlucken und ein neuer stechender Schmerzimpuls schoss durch seinen ausgehungerten Magen. Doch seine Aufmerksamkeit galt etwas anderem.
Alice.
Sie stand mit dem Rücken zu ihm und schwang passend zu der laufenden Musik die Hüfte. Ein leises Rauschen war unterschwellig zu hören und vor ihr stieg sanfter Dunst auf.
Sie kochte. Normalität.
Eben das war es, was Tamo zumindest für wenige Augenblicke empfand. Sie stand da und ging etwas völlig Alltäglichem nach. Er runzelte die Stirn und schüttelte, an sich selbst zweifelnd, den Kopf.
Natürlich kochten sie, war ja nun lebensnotwendig zu essen.
Tamo gestand sich wohl soeben endgültig ein, dass sein Hirn völlig überlastet war.
Er war sich nicht sicher, ob sie seine Anwesenheit schon wahrgenommen hatte, denn eine Reaktion ihrerseits gab es nicht. Also räusperte er sich und trat einen weiteren Schritt auf sie zu, ohne ihr dabei zu nah zu kommen.
»Das riecht gut.«
Alice hielt in ihrer Bewegung inne und drehte sich langsam zu ihm herum. Als ihr Blick über ihn wanderte, umspielte ein Lachen ihre Lippen. Sie neigte leicht den Kopf und sah ihm in die Augen.
»Wurzel übersehen?«
Tamo ließ seinen Blick selbst über seine Klamotten schweifen und seine halbwegs gerade Körperhaltung sackte etwas mehr zusammen.
»Ich hatte da eine Begegnung mit ein paar Wölfen. Nach einer Wurzel.«
Alice nickte, als wäre es das Normalste der Welt.
Eine Reaktion, die weitere Fragen in ihm aufkeimen ließ, doch seine Nerven lagen blank und die Chance auf eine hilfreiche Antwort lag wohl ohnehin bei null.
Das Kratzen seiner völlig ausgetrockneten Kehle ließ ihn seine Gedanken wieder auf das wichtige lenken.
»Kann ich was zu trinken haben? Und mir etwas zu essen machen?«, fragte er.
Alice, welche sich wieder den Töpfen zugewandt hatte, schwieg, holte ein Glas aus dem Schrank hinter sich und füllte es mit Wasser direkt aus dem Wasserhahn. Tamos Hand zitterte leicht, als er danach griff. Er setzte es an und trank es in einem Zug leer und ehe er nach Nachschub fragen konnte, reichte Alice ihm schon eine ganze Flasche. Ihre Blicke trafen sich für einen Moment und diesmal war Tamo sich sicher, dass Mitleid sich in ihren Augen widerspiegelte.
»Danke«, sagte er kleinlaut.
Erneut gab sie nur ein Nicken von sich und griff nach einem Messer, welches neben ihr lag. Tamo zuckte zurück, was Alice den Kopf schütteln ließ.
»Das ist für den Salat«, murmelte sie und warf ihm einen unleserlichen Blick zu.
»Geh duschen, in deinem Zimmer liegen ein paar saubere Sachen. Dann kannst du was essen. Skàdi bekommt einen Anfall, wenn du ihr die Bude einsaust mit den schlammigen Klamotten.«
Erneut sah er an sich herunter und nickte.
Jap, er war eindeutig reif für eine Dusche.
Ohne weitere Worte verließ er die Küche und als er durch das Wohnzimmer lief, blieb sein Blick an dem zerbrochenen Glastisch hängen. Es lag alles noch genauso wie vor wenigen Stunden.
Die meinten es wohl ernst damit, dass sie es nicht wegräumen.
Als er das Zimmer betrat, hielt er kurz inne. Auf dem Bett lagen nicht nur ein paar Klamotten. Es war ein ganzer Stapel. Langsam lief er auf die Sachen zu und sah sie an. Socken, Boxershorts, Hosen, Shirts, Hoodies und auf den ersten Blick alles seine Größe. Er runzelte die Stirn und fragte sich, ob er vielleicht falschlag.
Gab es doch einen Mann im Haus?
Doch er hatte das Gefühl, dass Nachdenken, seinen eh schon brummenden Schädel, überlastete. Er würde es erfahren oder halt auch nicht.
Also schob er die Gedanken bei Seite und verschwand ins Bad. Vorsichtig zog er sich die dreckigen Sachen aus. Nicht wegen der Angst, etwas einzusauen, sondern weil seine Beine brannten. Er vernahm das Stechen der kleinen Glasfragmente, welche immer noch tief in seinem Fleisch steckten. Kurz dachte er darüber nach, ob er ein weiteres Mal versuchen sollte, sie allein herauszubekommen, aber schon das Zittern seiner Hände sagte ihm, dass dies wohl eine dämliche Idee sein würde.
Er stieg in die Dusche und nachdem er endlich das Gefühl hatte sauber zu sein, trat er vor den Stapel mit Klamotten. Er zog sich eine der Shorts an und griff sich eins der grauen Shirts. Socken und eine schwarze Jogginghose klemmte er sich unter den Arm. Ebenso wie den Verbandskasten und starrte dann auf die Tür.
Es half alles nichts. Er brauchte Hilfe.
Er hielt sich an dem Geländer der Treppe fest, denn langsam hatte er das Gefühl, dass seine Beine jederzeit ihren Dienst einstellen konnten. Jeder Schritt brachte seine gesamte Beinmuskulatur zum Brennen. Stöhnend hielt er inne, als er endlich die letzte Stufe hinter sich gebracht hatte. Für einen weiteren Moment schloss er die Augen, um gegen den Schmerz in seinem Körper anzuatmen. Doch ein genervtes Stöhnen ließ ihn stocken.
»Alter, verflucht. Kannst du dir keine Hose anziehen?«, fuhr Alice ihn an.
Tamo seufzte, öffnete die Augen und starrte sie an. Sie hatte ihre Hände in die Seiten gestemmt und warf ihm einen giftigen Blick zu.
»Kann doch nicht so schwer sein, verdammt«, schob sie nach.
Tamo rollte genervt die Augen, lief einfach an ihr vorbei in das Wohnzimmer und warf die Jogginghose sowie das Verbandszeug auf die Couch.
Alice sah ihm nach, reagierte aber nicht darauf, sondern starrte ihn immer noch an. Zu müde für diesen Machtkampf senkte er den Blick.
»Kannst du mir vielleicht die letzten Splitter ziehen und die Schnitte versorgen?«
Alice zog erst die Braue nach oben, bevor sie erneut stöhnte.
»Nur wenn du nicht heulst, wie ein Baby«, erwiderte sie.
Tamos müder Blick traf auf ihren und er nickte einfach nur. Sie zeigte auf die Couch, auf welche er sich vorsichtig legte. Alice trat neben ihn und ließ den Blick über die vielen kleinen Schnitte gleiten. Sie suchte sich eine Pinzette aus dem Ersthilfekasten und zog Splitter um Splitter aus den Wunden.
Tamo zuckte zwar öfter Mal und das ein oder andere schmerzhafte Zischen konnte er nicht unterdrücken, aber er hatte sich fest vorgenommen, hier keinen auf Weichprinz zu machen. Also biss er die Zähne zusammen und ließ es fast tonlos über sich ergehen.
Nachdem Alice alle Splitter gefunden hatte, desinfizierte sie die Wunden und legte ihm einen Verband an.
»Fertig«, murmelte sie.
Damit stand sie wieder auf und verschwand in die Küche. Tamo schob sich behutsam nach oben, obwohl er eigentlich lieber liegen geblieben wäre. Die Müdigkeit hatte seinen Körper schwer wie Blei gemacht, aber sein schmerzender Magen würde ihn nicht schlafen lassen. Er quälte sich also von der Couch auf und lief langsam in die Küche. Sein Blick wanderte als Erstes zu dem gedeckten Tisch.
Zwei Teller. Zwei Gläser.
Enttäuschung kroch ihm durch den Körper. Aber was hatte er auch erwartet? Dass sie für ihn gekocht hatte? Er war hier geduldet. Mehr nicht. Langsam sollte er das wohl verinnerlichen. Er lief an Alice vorbei, welche gerade damit beschäftigt war, einen Teller zu befüllen. Ein neuer Schwall Speichel sammelte sich in seinem Mund, als er sah, was sie da zubereitet hatte.
Spaghetti mit Tomaten – Sahne – Soße. Sein Lieblingsessen.
Zufall? Oder eine weitere Art, ihm zeigen zu wollen, dass er für sie nur eine Last war? Sein Blick huschte durch den Raum, doch Skàdi war nirgends zu sehen und ehe er etwas sagen konnte, schwang Alice Stimme scharf durch das Zimmer.
»Setz dich!«
Tamo sah sie überrascht an.
»Sicher? Ich will keinen weiteren Stress mehr ertragen müssen.«
Alice sog scharf die Luft ein und sah ihn bissig an.
»Dann iss halt allein, wenn dir ein Essen mit mir zu stressig ist«, sagte sie und schüttelte den Kopf.
Sie nahm ihren Teller, setzte sich an den Tisch und fing sofort an mit essen. Tamo rieb sich genervt über den Nacken. Es war scheinbar unmöglich, hier nicht das Falsche zu sagen.
Unfassbar!
»Mir ging es eigentlich eher um Skàdi«, gab er zu und trat an den Tisch heran.
»Außerdem ist nur für zwei Personen eingedeckt. Es sieht also nicht so aus, als wolltet ihr mich an euren Tisch.«
Alice ignorierte ihn und erst nach weiteren drei Bissen, hob sie den Blick.
»Skàdi ist nicht da.«
Er atmete erleichtert auf und nahm sich etwas von den Nudeln. Sie hatte demzufolge für ihn mit gedeckt.
Sie war also gar nicht so arschig, wie sie immerzu tat.
Nachdem er sich seinen Teller gefüllt hatte, setzte er sich mit an den Tisch. Sein Blick hing dabei auf Alice und irgendwie hoffte er darauf, dass sie etwas sagen würde. Doch sie stopfte schweigend ihr Essen in sich und so tat Tamo es ihr gleich.
Minuten vergingen, doch er bekam langsam das Gefühl, dass diese Stille ihn erdrücken würde, und so räusperte er sich.
»Danke für die Hilfe und dein Essen ist echt lecker.«
Alice hob den Blick und schien zu überlegen, ob sie das Gespräch direkt wieder im Keim ersticken sollte. Doch die Verzweiflung in Tamos Augen traf sie härter, als ihr lieb war.
»Bier?«, fragte sie ihn aus der Kalten.
Überrumpelt von dem plötzlichen Angebot, kam nicht mehr als ein »Gern« über seine Lippen.
Alice stand auf, holte zwei Bier und setzte sich wieder zu Tamo, der seinen Teller bereits leer gegessen hatte.
»Du solltest noch etwas essen«, sagte sie und zeigte auf die Töpfe hinter sich.
Das ließ Tamo sich nicht zweimal sagen und schon holte er sich einen Nachschlag.
Alice schmunzelte und als er sich wieder gesetzt hatte, sah sie ihn an.
»Warum hast du Angst vor Skàdi?«, fragte sie und musterte ihn aufmerksam.
Er verschluckte sich fast an seinem Essen.
Angst? Hatte er nicht, oder?
Er nahm schnell einen Schluck von dem Bier. Zum einen, um das hängengebliebene Essen aus dem Rachen zu spülen, zum anderen um etwas Zeit für eine Antwort zu erhalten.
Doch was empfand er für Skàdi? Vieles und gleichzeitig nichts.
»Ich habe keine Angst. Sie ist ... ich weiß auch nicht ...«, stotterte er.
Alice lachte.
»Anders?«, beendete sie den Satz für ihn.
Er sah sie irritiert an. War es das? Irgendwie schien es eine maßlose Untertreibung zu sein.
»Ich weiß nicht, ob anders das richtige Wort dafür ist«, erwiderte er ehrlich.
Sie nahm einen Schluck von dem Bier und musterte ihn. Er wirkte verängstigt. Was sie wohl mehr als nachvollziehen konnte. Sie kannte Skàdi. Doch da schwang etwas anderes in seiner Aura neben der Unsicherheit. Zweifel? Und als es ihr klar wurde, zuckte ihr ein Lächeln über die Lippen.
»Sie hat dieses Hexen, Vampir, Werwolfding abgezogen, oder?«, fragte sie wissend.
Tamo sah sie mit großen Augen an.
»Macht sie das öfter?«
Alice zuckte mit den Schultern.
»Nur, wenn sie genervt ist, Hunger hat, ihr langweilig ist oder sie jemanden nicht leiden kann«, erklärte sie.
Tamo seufzte.
»Ich nehme an, hungrig und gelangweilt war sie wohl eher nicht.«
»Nein, ich denke nicht«, stimmte sie ihm zu.
Also waren wir wieder bei dem nicht leiden können. Aber das war keine Überraschung. Hatte sie ihm ja mehr als deutlich gemacht. Tamo lehnte sich zurück und rieb sich über seine brennenden Augen. Die Müdigkeit zog heftig an ihnen und das warme Gefühl, welches durch seinen Körper wanderte, ließ diesen unendlich schwer werden. Ein verhaltenes Gähnen entfuhr ihm.
»Du solltest schlafen gehen«, sagte Alice, während sie aufstand und das Geschirr vom Tisch räumte.
Sein Blick folgte ihr.
»Ich helfe dir noch schnell«, erwiderte er und wollte gerade nach der Salatschüssel greifen, als Alice ihm davon abhielt.
»Nein, danke. Ich brauche keine weiteren Scherben.«
Tamo hielt inne und sah sie an. War das der wirkliche Grund? Doch sein Kopf dröhnte nach wie vor und dies war wohl eine der Antworten, derer Beantwortung sich kein weiterer Aufwand lohnte.
»Okay«, raunte er und machte sich daran, das Wohnzimmer zu verlassen.
»Tamo?«, sagte Alice, während sie ihm nachsah.
Er blieb stehen und sah zu ihr zurück.
»Ja?«, fragte er verunsichert, denn ihr Blick war schlagartig wieder kalt und unleserlich.
»Gewöhne dich nicht daran«, sagte sie rau.
Tamo legte seine Stirn in Falten und sah sie irritiert an.
»Woran?«
Alice sah ihn ernst an und sprach, während sie sich von ihm abwandte.
»Daran, dass hier jemand nett zu dir ist.«
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