𝑰-1 | Noch einen Schritt und du bist tot


——I——
KAPITEL EINS
NOCH EINEN SCHRITT UND DU BIST TOT
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Es war Samstag. In Slytherins Gemeinschaftsraum war es ausnahmsweise mal angenehm warm. Im Kamin knisterte fröhlich ein Feuerchen vor sich her und der Stoff des jadegrünen Sessels unter mir fühlte sich wie eine weiche Umarmung an. Ich hatte meine Beine angezogen, war halb zur Seite gelehnt und hatte die Augen fest auf die vergilbten Seiten des Buchs in meiner Hand gerichtet. Ich blätterte auf die nächste Seite und atmete tief aus. Es war lange her seit ich das letzte Mal so ungestört mitten im Gemeinschaftsraum hatte lesen können.

„Oh, Mary!", trällerte die altbekannte Stimme eines gewissen Slytherins hinter mir. Die Stimme, die mir schon während des Frühstücks die ganze Zeit in den Ohren gelegen hatte. Genervt stöhnte ich auf. Es war gerade so schön gemütlich in dem Sessel gewesen. Meine Augen huschten über den letzten Satz, ehe ich das Buch in meinen Schoß sinken ließ und mich etwas weiter aufrichtete, um dem Jungen den kühlsten Blick zu schenken, den ich gerade parat hatte.

„Was willst du, Zabini? Ich habe gerade wirklich besseres zu tun, als mich mit einem hirnverbrannten Idioten abzugeben." Der Slytherin zuckte gespielt zurück und ich sah zu, wie er sich theatralisch an die Brust griff, als ob ich ihm ein Messer ins Herz gerammt hätte. Er sollte Schauspieler werden.

„Deine Worte verletzen mich zutiefst", beteuerte er und ließ sich dramatisch neben mich auf die Lehne des Sessels sinken, in dem ich gemütlich Alles über Geister bis hin zur Todesfee gelesen hatte.

„Wenn du noch einen Zentimeter näherkommst, verwandle ich dich in eine Kröte", zischte ich und rückte, soweit es nun mal auf einem Sessel ging, von ihm weg. „Außerdem solltest du langsam mal mit der Sprache rausrücken, sonst verschwinde ich einfach im Mädchenschlafsaal."

Der schwarze Junge fing an zu grinsen. „Das wirst du nicht."

„Ach ja? Und was hält mich davon ab?" Ich musterte ihn demonstrativ skeptisch, um ihm auch ja zu zeigen, dass er kein Gegner für mich wäre.

„Pansy ist doch gerade da, oder?", fragte er immer noch grinsend und ich verdrehte genervt die Augen. Darauf wollte er also hinaus. „Soweit ich mitbekommen habe, seid ihr nicht gerade die besten Freunde, kann das sein?"

Da hatte er wohl oder übel Recht. Was Pansy an Intelligenz fehlte, machte sie mit kindischem Rumgezanke wieder wett. So ihre Gleichung. Für alle anderen war ihre Anwesenheit der reinste Horror – zumindest für alle mit ein wenig mehr Intellekt als ein Flubberwurm. Ohne Zabini noch einmal anzusehen, stand ich von dem Sessel auf und steuerte auf den Ausgang des Gemeinschaftsraums zu.

„Okay, okay. Jetzt warte doch, Avery!", rief er mir hinterher und großzügig, wie ich nun mal war, drehte ich mich noch einmal zu ihm um.

„Als unsere Vertrauensschülerin", begann er und deutete mit einer Hand auf das silbern-grüne Abzeichen auf meinem Umhang.

„Willst du wirklich so anfangen?", unterbrach ich ihn hart und meine Augen verengten sich zu Schlitzen. Seit dem ersten Tag schon, als man Malfoy und mich – warum auch immer – zu Vertrauensschülern des Slytherinhauses ernannt hatte, machte Zabini immer wieder Kommentare dazu und ich konnte es nicht ausstehen.

„Nein", antwortete er, vermutlich aufgrund meines scharfen Blickes. Gute Entscheidung. „Ich benötige wirklich sehr dringend die Verwandlungs-Hausaufgaben."

Überrascht darüber, dass in seinem Wortschatz das Wort „benötigen" existierte, hob ich eine Augenbraue. Das passte so gar nicht zu seiner sonstigen Wortwahl und mich beschlich der Verdacht, dass er sich auf diese Frage vorbereitet hatte, was mich leicht schmunzeln ließ. Das war nicht undenkbar. Zabini wusste, dass Professor McGonagall bei Hausaufgaben kein Auge zudrückte und immer höchstes Maß an Einsatz forderte. Wenn man ihr einen in zwanzig Minuten dahingeklatschten Aufsatz, der aus inhaltlichen Lücken und wagem Halbwissen bestand, abgab, konnte man sich darauf gefasst machen, in den nächsten Stunden von ihr ganz genau im Auge behalten zu werden. Und das wollten die meisten Schüler unbedingt vermeiden – so auch Zabini. Der Slytherin sah mich derweilen mit etwas an, dass wohl ein Hundeblick sein sollte und kam immer näher.

„Noch einen Schritt und du bist tot." Abrupt hielt er inne, jedoch ohne seinen Gesichtsausdruck zu verändern. Ich seufzte ergeben. In irgendeiner Weise mussten Slytherins wohl zusammenhalten.

„Na schön. Frag' Daphne einfach danach. Sie sollte mittlerweile damit fertig sein." Der Junge machte beinahe einen Freudensprung und auch ich musste sanft lächeln. „Aber, Zabini, hat das Pergament auch nur einen Knick, kannst du was erleben, klar?"

Er nickte grinsend und machte sich dann auf den Weg zum Mädchenschlafsaal. Ich sah ihm hinterher und fragte mich, ob er die Hausaufgaben als Grund genug nehmen würde, wieder einmal zu versuchen einen Blick in den Schlafsaal zu erhaschen. Was er sich wohl erhoffte dort zu sehen? Kopfschüttelnd wandte ich mich wieder dem Sessel zu, um weiterzulesen, doch dann stoppte ich. Ich sah nachdenklich auf das Buch in meiner Hand. Der lederne Einband war an einigen Stellen rissig. Die Schrift des Titels verblasste langsam. Man merkte dem Buch an, dass es schon mal bessere Tage gesehen hatte. Ich war schon einmal durch und hatte mich beim zweiten Lesen, nachdem ich merkte, dass keine neuen Details auftauchten wie es manchmal der Fall war, angefangen zu langweilen. Es war wohl Zeit, dass ich der schuleigenen Bibliothek einen Besuch abstattete.

Ich verließ den Slytherin-Gemeinschaftsraum in den Kerkern und begab mich in den dritten Stock. Auf dem Weg begegnete ich nur einer geringen Anzahl an Schülern. Die meisten verbrachten einen Samstagnachmittag eben nicht irgendwo im Schulgebäude, sondern ruhten sich in ihren Gemeinschaftsräumen aus oder vergnügten sich in Hogsmeade. Oder sie schrieben Hausaufgaben von ihren Mitschülern ab, dachte ich. Besonders der fünfte Jahrgang, zu dem ich ebenfalls gehörte, versuchte so oft wie es nur ging zum Feiern und Spaß haben in das kleine Zaubererdorf zu kommen. Sie wollten einfach eine schöne Zeit haben, bevor der Ernst des Lebens begann. Immerhin standen schon bald die ZAGs an und bis dahin wollten sich die meisten Schüler noch amüsieren. Samstage waren dafür natürlich wie gemacht und es war herrlich ruhig, in den sonst so lauten Gängen Hogwarts.

Als ich die Bibliothek betrat, vernahm ich dann leider doch Stimmen. Gerade beteuerte jemand verzweifelt, dass er den Aufsatz ja geschrieben hätte, dann aber das verdammte Tintenfass umgekippt war und nun nichts mehr zu lesen sei. Das Goldene Trio saß an einem der runden Tische und war wohl dabei Hausaufgaben zu machen.

„Wenn du dich nicht so anstellen würdest, wärst du jetzt schon fertig, Ronald", giftete Granger und der Weasley-Junge ließ seinen Kopf auf die Tischplatte sinken.

„Ich schaffe das nie", jammerte er, was mich sofort an den überdramatischen Zabini denken ließ. Wie war so einer denn Vertrauensschüler geworden? Plötzlich konnte ich mir gut vorstellen, wie nervig Weasley sogar als Freund sein konnte und wünschte Granger im Stillen viel Durchsetzungskraft und Nerven aus Stahl.

„Also ich bin schon fast fertig", meldete Potter sich zu Wort, wobei er seinen Blick immer noch nicht von dem Pergament vor ihm wendete. Saint Potter, wie einige Slytherins den Gryffindor aus Hohn nannten, schrieb fleißig noch einige Worte und legte die Feder dann ab.

Ich überlegte, wie ich am besten an den Dreien vorbei gehen konnte. Sollte ich so tun, als würde ich sie nicht sehen? Oder meinen Blick lieber kühl über die drei Gryffindors gleiten lassen, sodass sie unmissverständlich mitbekommen würden, dass sie eben einfach nur Gryffindors waren?

Auf einmal wanderte Potters Blick zu mir und als hätte er mir einen Stoß verpasst, stolperte ich vorwärts. Hitze schoss mir in die Wangen, während ich so schnell es ging, ohne tollpatschig zu wirken, in eine Regalreihe einbog. Ich verfluchte mich selbst dafür, mich so aus der Fassung gebracht haben zu lassen und atmete erst einmal tief durch. Das ist auch gerade jetzt stolpern musste ärgerte mich unheimlich. Was sollte Potter denn denken? Dass ich eine seiner Anhänger war, die bei jedem seiner Blicke beinahe in Ohnmacht fielen? Nein, danke. Es gab genug Schüler, die ihm wegen seines Heldendaseins verehrten. Da musste ich nicht auch noch sein Ego streicheln.

Ich schüttelte meinen Kopf. Mir fiel ein, weswegen ich eigentlich hier war und stellte das Buch zurück in ein Regal. Eigentlich war ich nun fertig, doch ganz ohne weiteren Lesestoff wollte ich die Bibliothek auch nicht verlassen.

„Wen hatte ich denn auch anderen erwartet", sagte plötzlich eine Stimme hinter mir. Mein Herz blieb fast stehen, als ich mich umdrehte und Theodore Nott nicht einmal einen Meter von mir entfernt dastand. Meine Hände reagierten, bevor ich meinen Kopf einschalten konnte und schubsten den dunkelblonden Jungen von mir weg. Er knallte hart gegen ein Bücherregal und stöhnte schmerzerfüllt auf.

„Erschreck' mich doch nicht so!", zischte ich ihm entgegen, darauf bedacht nicht allzu laut zu werden, hätte jedoch am liebsten noch „du Arsch" hinzugefügt. Ich hasste mich selbst dafür, dass mein Herz immer noch raste und ich ihn aufgeschreckt anstarrte. „Wenn du das noch einmal machst-"

„Ach, hab dich doch nicht so", unterbrach Nott mich, während er mit einer Hand die Stelle an seinen Rücken rieb, die gegen das Holz geprallt war. Er richtete sich wieder auf und ein kleines, fieses Lächeln huschte über sein Gesicht. „Ich hab's gesehen."

Gesehen? Ich ging im Kopf meine letzten Handlungen durch, aber eigentlich gab es da nichts, was irgendwie sehenswert gewesen war.

„Wovon sprichst du?", fragte ich mit zusammengezogenen Brauen. Das fiese Lächeln wurde zu einem schelmischen Grinsen. Er ging auf mich zu und tat dann so, als würde er sich ein Buch in dem Regal hinter mir raussuchen. Um auf Grund seiner Heimlichtuerei nicht laut zu werden, biss ich mir auf die Unterlippe und drehte mich um, um mir ebenfalls angeblich an Buch auszusuchen. Ich strich mit einem Finger über die Buchrücken, als Nott sich mir plötzlich näherte.

„Ich habe gesehen", flüsterte er, „wie du wegen Potter über deine eigenen Füße gestolpert bist. Wie ein dummer Hufflepuff"

Ein dummer was? Ich holte mit meinem Ellenbogen aus, doch Nott sprang gerade rechtzeitig aus meiner Reichweite, sodass ich nur den Zipfel seiner Uniform erwischte. Röte schoss mir ins Gesicht. Meine Wangen fühlten sich innerhalb von Sekunden an wie Herdplatten. Am liebsten wäre ich wutentbrannt herumgefahren und hätte ihm mit einem oder vielleicht auch zwei dicken Wälzern den Kopf eingeschlagen, aber dann würde er glasklar sehen, wie beschämt ich wegen seinen Worten war und diese Genugtuung konnte ich ihm nicht lassen.

„Unsinn", zischte ich und wandte mich zurück zum Regal. Diesmal schaute ich mir wirklich die Buchrücken an. Leider standen wir in der falschen Abteilung. Eigentlich hatte ich noch ein wenig mehr zu Verteidigung gegen die Dunklen Künste lesen wollen, insbesondere zu den verschiedenen Wesen, die wir im Unterricht durchgingen, doch hier ging es größtenteils um irgendwelche Zaubertrankzusammensetzungen und passenderweise Lexika von diversen Kräutern.

„Ach ja?", feixte der dunkelblonde Slytherin neben mir und ich sah aus dem Augenwinkel wie er sich ein Buch aus dem Regal zog. „Das sah für mich aber schon sehr bedeutungsvoll aus. Als würdest du ihn..."

Er machte eine Pause und ich sah zu ihm herüber. Er hatte ein aufgeschlagenes Buch in der Hand und las konzentriert einige Zeilen zu einem, wie es schien, Zaubertrankrezept, denn auf der Seite prangte ein Bild von einem Kessel. Sein Blick erhellte sich und er schlug das Buch wieder zu.

„...anhimmeln."

Sein Blick traf meinen und erneut breitete sich ein Grinsen auf seinem Gesicht aus, während sich meines zu einer Grimasse verzog. Ich streckte meine Zunge raus und sah mich dann wieder nach einem Buch um. Mein Blick glitt erneut über die Buchrücken, auf der Suche nach einem Titel, der mein Interesse weckte.

„Sag mal, Avery, stehst du etwa auf Harry Potter?"

Mein Herz setzte einen Schlag lang aus, doch ich zwang mich dazu Nott's Frage geflissentlich zu ignorieren. Wie kam er auf diese dummen Gedanken? Ich ließ meinen Blick weiter stoisch am Regal haften und blieb schließlich an Heiltränke – Zubereitung & Wirkung hängen. Um die Buchstaben, die den Titel formten, rankten sich, einige illustrierte Pflanzen. Das Thema Heilpflanzen hatten wir gerade in Kräuterkunde und nun ja. Ich seufzte leise. Das war besser als nichts. Ich zog das Buch aus seiner Reihe.

„Das wäre ja nicht mal undenkbar. Immerhin ist er der Retter der Zaubererwelt. Der große Held im düsteren Krieg, obwohl er nur ein quasi Neugeborenes war. Als wir uns noch in die Windeln geschissen haben, hat er schon die gesamte Zaubererwelt vor dem Bösen befreit – oder so ähnlich. Allerdings, Avery, so eine Schwärmerei wäre schon etwas klischeebehaftet, meinst du nicht?"

Als ich gerade einen Schritt zurücktreten wollte, um ein letztes Mal die Titel durchzugehen, um potentiell interessante Bücher zu finden, blieb mein Blick an etwas hängen. Ganz unten, in der letzten Reihe des Regals schimmerte ein blauer Einband im spärlichen Bibliothekslicht. Er schien zu flüstern, dass ich das Buch lesen sollte. Gespannt ging ich auf die Knie und zog das Buch hervor. In goldenen Lettern verkündete der Titel: Phantastische Tierwesen und wo sie zu finden sind. Der Name des Autors war schon halb verblasst, doch ich konnte etwas wie Nowtoh Scamandei erkennen. Oder doch Scamander? Auch egal. Ich beschloss, dass der Titel kreativ genug war, um meine Aufmerksamkeit zu wecken und stapelte es auf das erste Buch, das ich ausleihen wollte.

„Ich weiß ja nicht, was du gesehen haben willst", meinte ich schließlich an Nott gerichtet, während ich mich wieder aufrichtete, „aber das Verhalten eines dummen Hufflepuffs oder die Schwärmerei für unseren Schulhelden war es beides sicher nicht. Wenn du mich also entschuldigen würdest."

Mit einem provokativen Lächeln wandte ich mich ab und schritt an Nott vorbei, um mir die Bücher auszuleihen. Der konnte mich mal.



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