26. Lucca
"Setzen Sie sich, Herrn Tilim."
Lässig setzte ich mich auf den Stuhl, als würde ich solch eine Situation jeden zweiten Tag durchmachen. "Sie können mich Askim nennen. Bei Herr Tilim fühle ich mich so alt..."
Der Rotkopf nickte mir zu; holte Stift und Papier raus. Er trank noch einen Schluck seines Wassers und begann mir ein paar Fragen zu stellen. Währenddessen kam auch eine zweiter Bulle in den Raum, welchen ich jedoch nicht ganze wahrnahm.
Die Fragen nervten mich, doch zögern tat ich nie. Auf jede Frage, die der Rothaarige voll Ernsthaftigkeit stellte, gab ich eine unfassbar lockere Antwort wider.
"Und wie stehen Sie zu Miss Cudet?"
Das war in der Tat eine sehr gute Frage. Ich wusste es zu dem Zeitpunkt nicht. Es war mir regelrecht egal, ob sie bei mir war oder nicht. Natürlich sollte man mich da nicht falsch verstehen; Gesellschaft tat immer gut, jedoch war ich mehr ein Einzelgänger und konnte es nicht mehr ab, ständig mit einer Person im engen Raum aufeinander zu hocken.
Doch das hatte nichts damit zu tun, wie ich zu ihr stehe. Ich könnte auch sagen, dass wir zusammen sind. Minis Reaktion darauf wäre sicherlich lustig. Doch um ehrlich zu sein...
"Ich weiß es nicht. Das könnte May viel besser beantworten. Wir sind keine Fremden, aber auch keine Freunde mehr."
Es hörte sich verkehrt an, ich weiß. Jedoch war ich einer der letzten, der irgendwie nachvollziehen konnte, ab wann mir ein Mensch wichtig war. Außerdem kommt dazu, dass wir uns eine Ewigkeit nicht gesehen und so den Bezug zueinander verloren hatten.
Der Polizist vor mir schaute mich skeptisch an, jedoch notierte er es sich ohne ein weiteres Wort. Der zweite Polizist hielt sich im Hintergrund und sagte rein garnichts zu dem Ganzen.
"Haben Sie irgendwelche Auffälligkeiten an Miss Cudet gemerkt?"
Hatte ich das? In der Tat. Es passiert nicht unbedingt jeden Tag, dass die eigene beste Freundin plötzlich in der Wohnung aufkreuzte, mit einem Kind im Schlepptau. Auch hatte sie definitiv Geheimnisse. Das erkannte ich sehr gut daran, dass sie auf dem Balkon nicht reden wollte. Ich akzeptiere es, keine Frage, trotzdem war es auffällig. Doch ich schätze nicht, dass er auf so etwas hinaus wollte. Viel mehr, ob ich diesen Wahnsinn in ihrem Kopf schon einmal bemerkt hatte.
Und nein, ich hätte bis vorhin nicht einmal den Gedanken daran verschwendet.
"Nein, sie ist stur - naiv, jedoch habe ich keine besonderen Auffälligkeiten bemerkt."
Der Polizei atmete aus. Er drehte sich zum Schwarzhaarigen, welcher die ganze Zeit still die Situation von außen betrachtet hatte. Der schwarzhaarige kam etwas näher und stellte mir eine weitere Frage, die mich völlig aus der Fassung brachte. Ich hatte mit so einer Frage wirklich nicht gerechnet.
"Haben Sie Frau Cudet eine Zeitlang verlassen, sie ignoriert oder dergleichen?"
Diese Frage schallte durch meinen ganzen Kopf. Es fühlte sich an, als ob der Schwarzhaarige einen Stein auf eine zerbrechliche Glasscheibe warf und somit mein Herz traf; Tausende von kleinen Glassplitter, die sich wie Stiche anfühlten. Als hätte diese Frage zwei Jahre lang Katz und Maus gespielt und mich jetzt eingeholt.
Oh, und wie ich sie verlassen hatte. Ich ließ sie völlig allein... Allein bei ihrer Mutter, welche komplett irre war. Kein Mensch kann verstehen, wie sehr sie unter den Qualen ihrer eigenen Mutter litt. Es war wie ein permanent stechendes Messer, welches Stück für Stück immer tiefer in das Fleisch eindrang.
Der seelische Druck, dass sie besser sein solle; der körperliche Schaden, welcher unaufhaltsam immer mehr in ihr zerstörte und zerbrach. Doch es war völlig egal, was ihre Mutter ihr antat. May verzieh ihr alles und tat immer wieder ihr bestes, nur um am Ende des Tages wieder Druck und Schaden aufzufangen.
"Ja. Ja, leider ließ ich sie völlig ahnungslos allein." Ich zögerte schon wieder. Ich wusste nicht ganz, wie ich das erklären sollte. Ich hatte zu dieser Zeit keine Ahnung, was ihre Mutter ihr antat. Ich wusste nur, dass die beiden ein paar Mal Streitigkeiten hatten... Das war's.
Ich knackte mit meinen Fingern und versuchte einen kühlen Kopf zu bewahren. "Ich wollte sie wirklich nicht alleine lassen. Wenn ich erfahre, dass es etwas damit zu tun hat, dass klein Mini deswegen ingwie' nen' Ding weg hat, dann schaufel ich mir mein eigenes Grab."
"Sie sind also jetzt schon in der Annahme, dass Frau Cudet eine psychische Störung hat? Wieso?", schlussfolgerte der Polizist aus meinen äußerst ungeeigneten Wortschatz. Doch, war das nicht offensichtlich?
"Sie verschwand einfach mal so, nachdem sie mir sagte," Ich hob meine Hände, um damit Gänsefüßchen zu symbolisieren "dass sie mir etwas zu essen kauft. Taucht aufeinmal im Krankhaus auf, wird wach. Sieht einen Lucca, der so viel ich weiß nicht existiert, als Artz und fällt kurze Zeit später wieder in Ohnmacht. Also bitte, ich bin nicht geistig behindert", ratterte ich, ohne groß darüber nachzudenken, runter.
"Einen Lucca? Könnten Sie mir mehr darüber erzählen?"
"Ich weiß nicht viel..."
Sie erwähnte einen Lucca. Doch da stand kein Lucca. Bevor sie ihn erwähnte, ruhte sie seelenruhig in meinen Armen; Völlig erschöpft vom Leben, als hätte jemand dem Mädchen die ganze Energie geraubt. Und dann ganz plötzlich sprang sie aus meinen Armen und drückte sich wie eine ängstliche Maus gegen das Bett und starrte die Wand an. Was ist, wenn Lucca eine Stimme oder so in ihrem Kopf ist?
Ich zählte eins und eins zusammen.
May ist wirklich geistig gestört! Fassungslos über meinen eigenen Gedanken starrte ich den Polizist nur an und sprach kein einziges Wort, jedoch knackte ich meine Finger weiter, bis es nichts mehr gab und biss mir die Haut von meiner Unterlippe klein.
Es war unfassbar wichtig, dass ich ihm das jetzt erzählen würde, was in meinen Kopf vor sich ging, doch gleichzeitig wollte ich Mini nicht in unangenehme und für sie unvorteilhafte Situationen bringen. Nicht wenn sie von dem Polizisten für sonst was beschuldigt-
"Wir wollen deiner Freundin nur helfen und verstehen, wieso sie das alles tat."
Es wird schon keine Konsequenzen geben. Beruhige dich, Askim, flüsterte ich mir selbst zu. Ich atmete tief durch und schaute ihm tief in die Augen.
"Ich habe die Vermutung, dass May sich einen gewissen Lucca vorstellt und deswegen Dinge tut, die sie nicht möchte. Kurz bevor Mini ohnmächtig wurde, sagte sie ganz leise 'Ich kann das nicht'. Das würde meine Vermutung nur noch mehr stärken." Kurz und knappig, ohne ein Blatt vor dem Mund zu nehmen, sprach ich meine Vermutung aus.
Der Bulle nickte mit dem Kopf und schrieb das Gesagte auf. "Sie sind wirklich ein sehr schlauer junger Mann. Diese Vermutung hatten wir ebenfalls und wollen herausfinden, ob es stimmt, denn..." Er hörte auf zu erklären und eine beängstigende Stille folgte. Der Polizist schien zu überlegen, ob er nicht zu viel sagen würde, doch sprach dann weiter. Etwas, was mich schlussendlich vollkommen aus der Bahn geworfen hatte.
"May Cudet wird eines Mordes beschuldigt."
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