2. Zufall?

Man könnte diese Situation mit einem heftigen Kater vergleichen; dem Gefühl, am Vortag, wenn man zu viel Alkohol getrunken hatte und jetzt, ohne Linderung durch Medikamente den nächsten Morgen durchstehen musste. Plötzlich fühlte ich mich, als hätte mir jemand jegliche Energie entzogen. Am liebsten wäre ich einfach umgefallen und nie wieder aufgestanden.

Beim Umdrehen sah ich einen abgemagerten Mann. Seine braune  Haare waren durcheinander gewirbelt und seine Augen sahen unfassbar müde und rot aus. Man könnte sein Erscheinungsbild mit einem Kiffer vergleichen.

Außerdem erkannte ich eine markante Narbe, die sich von seinem Auge bis zum Wangeknochen erstreckte. Überfordert schaute ich in seine eisblauen Augen. Er lächelte mich merkwürdig an und ich stellte mich schon auf das Schlimmste ein. Die Worte, die er zuvor noch ausgesprochen hatte, verblassten schon fast vollständig.

"Ehm, tschuldige. Können Sie das nochmal wiederholen?", stotterte ich vollkommen überfordert und aufgelöst. Ich wusste eigentlich genau, was er gesagt hatte, jedoch war mein Gehirn auf jegliche Art und Weise ausgeschaltet. Ich wusste nicht, ob ich Angst haben sollte, geschweige denn was richtig und falsch war. Vielleicht war er auch nur nett und sah etwas gefährlich aus. Man sollte Menschen immerhin nicht nach ihrem Äußeren beurteilen.

"Ich hab' gefragt, ob du Angst hast, kleines Mädchen." Ich verschränkte die Arme vor meiner Brust und plötzlich überflutete mich ein Selbstbewusstsein, das mir selbst absolut fraglich war. Von Angst war rein garnichts mehr zu spüren, nur noch Mut. "Also erstens bin ich kein kleines Mädchen und zweitens-" Ich hielt kurz inne und scannte ihn von Kopf bis Fuß und kniff meine Augen skeptisch zusammen. "Hätte ich niemals vor so einem Typen wie dir Angst." Gelogen.

Er fing leise an zu lachen und schaute mich weiter an. Nun gut, ein Glück tat er mir rein gar nichts an. Es stellte sich nämlich heraus, dass er ein recht netter Typ war und sich mit seinen Provokationen nur einen Spaß erlauben wollte. Sehr witzig. Was in seinem Kopf abging, wusste ich selbst nicht. Diese Situation war alles, aber nicht plausibel zu erklären.

Ich hatte jedoch eingewilligt, dass er mich ein wenig aus den Park rausführt. Dabei ignorierte ich vollkommen das Gefühl von Furcht, welche ich noch vor wenigen Minuten verspürte. Es entstanden unfassbar sympathische Gespräche. Ich erzählte davon, dass Askim, mein bester Freund, aus Hamburg auszog. Wieso? Keine Ahnung. Es war, als würde mich eine Hand leiten. Als wäre ich eine Marionette.

Ich erkannte auch an seiner Stimme, dass er ein Italiener war. Sie hatte diesen charakteristischen Klang. Dieses wunderbare "R", welches er rollte. Auch fand ich seinen Namen heraus. Er hieß Lucca.

Der Donner grollte und ich schaute den Himmel empor. Ich hatte den Blitz verpasst... Es gibt nichts Schöneres, als ein Sommergewitter. Wenn der leichte Regen deine Haut abkühlt und dich völlig frei fühlen lässt von jeglichen Gedanken, die du sonst zu verdrängen versuchst.

Es war das Gewitter, das mich immer wieder in seinen Bann zog. Der Donner, der die laute Stille in mir zerriss. Der Wind, der die Bäume zum Tanzen brachte. Das Blätterrascheln wie ein Flüstern in der Dunkelheit. Und die Blitze, welche die Nacht für einen Augenblick in ein grelles, alles durchdringendes Licht tauchten, als könnte man für einen Moment die Seele der Welt sehen. Ich liebte den moosigen Geruch von Erde, welcher die Luft eroberte.

Viele Menschen verkriechen sich in ihren Häusern, sobald es regnete. Man könnte denken, sie würden aus Zucker bestehen und sich in Sekunden auflösen. Das Gewitter war wunderschön und trotzdem lebensgefährlich. Deswegen konnte ich es nachvollziehen, wenn Menschen sich in ihre Häuser begaben.

Ich blieb wegen des Regens kurz stehen und genoss, wie die kalten Regentropfen auf meine Haut kullerten, während dieser magere Mann weiter geradeaus lief.

Diesmal sah ich den Blitz, welcher im Himmel einschlug und die Stadt für eine kurze Zeit erhellte und Sekunden später grollte der Donner. Plötzlich hörte ich ein Blätterrascheln hinter mir, Schritte die näher kamen und...

Schwarz.
Dunkel.

Jemand hielt mir die Augen und den Mund zu. Ich stand kurz wie versteinert da, verstand die Situation nicht. Als ich Sekunden danach mehr von dem Geschehenen realisierte, versuchte ich mich mit aller Kraft zu befreien. Ich schlug meine Arme und Beine wild umher, wie ein gefangenes Tier.

Jeder Muskel in meinem Körper war angespannt, während ich verzweifelt um meine Freiheit kämpfte. Doch trotz all meiner Anstrengungen blieb der Griff des Fremden fest an mir kleben. "Shhh, ganz ruhig." Eine Frauenstimme! Was geschieht hier?

Ich spürte das leichte Streifen der Blätter an meinen Schulter, während ich bei jeder Bewegung wild zappelte und versuchte, mich zu wehren, aber ihr Griff war zu stark. Mein Herz schlug mir bis zum Hals, jeder Pulsschlag dröhnte in meinen Ohren, wie das Geräusch einer Trommel. Ich spürte ein kaltes Piksen an meinem linken Arm. Eine Spritze!

Die Flüssigkeit brannte leicht, als sie in meine Adern floss. Plötzlich fühlte ich mich benommen, high, als würde ich in einen Traum sinken. Alles um mich herum wurde verschwommen, unwirklich, und ich hatte das Gefühl, die Kontrolle über meinen eigenen Körper verloren zu haben. Ich empfand die Situation plötzlich als sehr viel angenehmer als zuvor und das seltsame Gefühl entspannte mich.

Ich lehnte mich müde an ihren Oberkörper. Sie flüsterte ein "Ich brauche dich", jedoch riss mich ein plötzlicher Schatten aus ihrem Griff.

"Lucca...", flüsterte ich, als er vor mir auftauchte. Sein Gesicht; eine Maske aus Wut und Entschlossenheit. "Augen zu", sprach er, doch es war zu spät. Er zog ein Messer und in einem schnellen, brutalen Moment stach er auf die Frau ein. Bauch, Brust, Arm. Als würde es ihm Spaß machen. Blut spritzte auf den Boden, auf seine Kleidung. Selbst auf die Blätter der Bäume um mich herum. Sie schrie auf, viele schreckliche Laute, bevor sie zusammenbrach. Sie war tot.

Und ich lag da, mein Körper taub, unfähig zu begreifen, was gerade passiert war. Alles fühlte sich so surreal an, wie in einem Albtraum. Lucca kniete sich neben mich, seine blutverschmierte Hand auf meinem Bein.

"Du bist jetzt sicher," sagte er mit sampfter Stimme, seine Haltung jedoch war angespannt. Tränen füllten meine Augen, während ich versuchte, mich zu sammeln. Das Bild der blutüberströmten Frau brannte sich in mein Gedächtnis ein.

Mein Herz schlug wild in meiner Brust. Die Mischung aus Panik, Befreiung und Schock war überwältigend. An nichts weiteres konnte ich mich erinnern. Ich war vollkommen zugedröhnt. Nur ab und zu merkte ich, wie Lucca mich zur Straße und schlussendlich zu mir nach Hause brachte und anscheinend auch in mein Bett legte. Denn hier war ich nun.

Ich hatte unfassbare Kopfschmerzen und alles, was zuvor passiert war, fühlte sich wie ein Traum an. Ein verdammt realistischer Traum. Es ging so schnell. Ich konnte mich zwar nicht an viel erinnern, jedoch einen Satz wusste ich noch: "Man sieht sich immer zweimal im Leben."

"Warte, woher wusste er, dass mein Zuhause hier ist?"

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𝑀𝑖𝑀𝑖44 💛


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