[10] 𝑅𝑒𝑖𝑡𝑎
Ach du Scheiße! Was zum Teufel war bloß los mit ihm? Auf den übermäßigen Konsum von Alkohol konnte er sein aktuelles Verhalten eindeutig nicht mehr schieben. Ausfallend hatte Reita weiß Gott nicht werden wollen, aber Rukis Nähe und dessen offensichtlich zur Schau gestelltes Interesse hatte ihn zu drastischen Maßnahmen greifen lassen.
Berufliches und Privates trennte er seit jeher strikt. Was gestern zwischen ihnen gewesen war, sollte bei dem Termin keine Rolle spielen und dennoch vermischten sich die Grenzen zu dem, was sie beinahe auf Rukis Couch getrieben hatten und dem, was Ruki für ihn sein sollte: ein Geschäftspartner.
Das war total beschissen gelaufen. Er sollte Kais Ratschlag, sich besser auf Termine vorzubereiten, zukünftig beherzigen. Für den Moment verließ er schnurstracks das Hochhaus und suchte den nächsten Starbucks auf, um sich einen Tripleshot Espresso zu genehmigen. Lieber wäre ihm ein Irish Coffee gewesen, aber man konnte nicht alles haben.
Während er auf einem der abgenutzten, billigen Holzstühle saß, dachte er über die vergangenen Stunden nach. Er verhielt sich in Gegenwart des blondgefärbten Designers absolut untypisch und vor allem unprofessionell. Wüsste Kai davon, würde er ihn dafür ungespitzt in den Boden rammen - zurecht.
Reitas Gehirn war durch den Motorradunfall in Mitleidenschaft gezogen worden und funktionierte in manchen Bereichen nicht mehr, wie es sollte, aber Verhaltensänderungen und ausgeprägte Stimmungsschwankungen gehörten nicht dazu. Normalerweise hatte Reita seine Emotionen besser unter Kontrolle und hielt diese meist unter Verschluss. Am allermeisten in Situationen wie vorhin, in denen er in die Enge getrieben und gezwungen wurde, sich mit Dingen auseinanderzusetzen, für die er offensichtlich nicht bereit war.
Weder verbal noch mimisch. Was immer der andere in ihm getriggert hatte, dass ihn zu solch impulsiven Handlungen getrieben hatte, es gefiel ihm nicht. Er konnte sich nicht erklären, warum der Giftzwerg einen solch starken Einfluss auf ihn ausübte, aber Reita war mit einem Mal völlig ko und labil. Selbst seine Hände fingen im Nachgang an, zu zittern.
Vielleicht verlor er zusätzlich zu seinem Gedächtnis auch den Verstand? Reita zog sein Handy hervor und war bereits zugange, die Nummer eines Arztes aus seiner Kontaktliste zu suchen, als ein eingehender Anruf von Kai auf dem Display auftauchte.
»Hey Bumsbirne«, wurde Reita vollkommen unangemessen begrüßt. »Wie war dein Termin?«
Das Model erzählte dem anderen in knappen Worten vom Verlauf, ohne dabei auf die fragwürdigen Details einzugehen. Solange Reita selbst nicht wusste, was mit ihm nicht stimmte, würde er das nicht mit Kai erörtern wollen.
»Denkst du daran, dass du nicht viel Zeit hast, um zum nächsten Meeting zu kommen? Die Daten schicke ich dir gleich noch als Mail.«
Sein Freund aka Kalender war sein Retter in allen Lebenslagen. Hätte er ihn nicht, wäre er komplett aufgeschmissen. Man könnte behaupten, dass Reita einfach nur zu faul war, sich einen gescheiten Terminkalender anzuschaffen oder endlich die korrekte Bedienung seines Handys zu lernen, doch das war tatsächlich ein dummes Souvenir, dass er von seinem Unfall behalten hatte: Sein Gedächtnis würde wohl für immer beschädigt sein. Er konnte sich gewisse Dinge ums Verrecken nicht merken.
»Danke«, murmelte Reita aufrichtig, was ihm ein kurzes Lachen einbrachte.
»Kein Thema. Nach deinem Termin koche ich für uns«, flötete sein Kumpel wie immer viel zu gut gelaunt aus dem Lautsprecher, ehe sie das Gespräch beendeten.
Der nächste Termin bei einem weiteren Modelabel verlief unspektakulär, was Reita nach dem nervenaufreibenden Morgen entgegen kam. Ein wenig Normalität nach den letzten Stunden war das, was er brauchte.
Leider Gottes hatte sich sein Kumpel etwas zu begeistert zu Rukis Party-Einladung heute Abend geäußert, als dass Reita die Hoffnung hatte, davon verschont zu bleiben. Aber er hatte dem anderen auch keine plausible Erklärung liefern können, warum er keinen Bock darauf hatte - außer natürlich den üblichen Ausreden, die Kai ohnehin nicht gelten ließ.
Dass er mit Ruki ein zweites Mal ein Beinahe-Schäferstündchen geschoben hätte und dass er nicht wusste, woher auf einmal dieser innere Drang kam, würde er ihm kaum auf die Nase binden. Lieber fraß er nochmals ekelhafte Froschschenkel in diesem völlig überteuerten französischen Restaurant, zu dem sie ein Sponsor genötigt hatte. Reita betrachtete das im Anschluss an körperliche Misshandlung gepaart mit seelischer Grausamkeit, doch Kai hatte ihm davon abgeraten, damit vor Gericht zu ziehen. Als ob er das wirklich gemacht hätte. Er hatte sich lediglich lautstark darüber beschwert.
Die heutigen Treffen waren zwar verhältnismäßig kurz gewesen, doch die Wege dahin nicht. Der Verkehr war nach wie vor zähflüssig und Reita kam dezent geschlaucht in Kais und seiner WG an.
Was ihn jedoch im Wohnzimmer erwartete, darauf konnte ihn keiner vorbereiten.
Reita blieb wie angewurzelt stehen und blinzelte mehrfach, doch die Szene blieb dieselbe.
Kai tänzelte soeben mit einem Staubwedel in der Hand durch das Wohnzimmer und versuchte die Textzeilen zu "Dancing Queen" von Abba zu singen. Die Krönung wäre gewesen, hätte er jetzt noch den Staubwedel mit einem Mikrofon verwechselt und hinein gesungen, doch stattdessen entstaubte er zwischen Pirouetten und Arschgewackel tatsächlich den Fernseher.
Reita stellte sich mit verschränkten Armen hin und beobachtete das Schauspiel, bis ihn sein Kumpel irgendwann entdeckte und einen spitzen Schrei ausstieß.
»Lass dich nicht stören.«
»Willst du mich frühzeitig ins Grab bringen?«, wetterte er direkt drauf los und griff sich demonstrativ ans Herz.
»Solange du weiter für mich kochst, sehe ich keine Veranlassung«, erwiderte Reita, was ihm ein Augenrollen bescherte. Sein Freund legte den Staubwedel beiseite, stellte die Musik aus und stellte sich mit anklagend erhobenem Zeigefinger vor ihn.
»Werd ja nicht frech!« Reita grinste ihn aufgrund der halbherzig formulierten Drohung breit an. Wer sollte Kai denn bitte jetzt noch ernst nehmen?
»Gekocht habe ich auch schon für uns«, seufzte Kai theatralisch. »Steht bereits auf dem Herd und wartet auf uns.«
»Du bist der Beste«, rang sich Reita ein Kompliment ab. Darin lag nicht seine Stärke, doch er wollte sich wenigstens ein bisschen erkenntlich zeigen, wenn er dem anderen schon auf der Tasche lag.
Immerhin ließ er ihn bei sich wohnen und half ihm, sich in Japan zurechtzufinden, seit er vor einem halben Jahr hierher gezogen war. Ihm zu begegnen, war rückblickend betrachtet ein echter Glücksgriff gewesen.
Dabei hatte sich Reita nicht viel davon versprochen, zu einem Event von Deal Design zu gehen, das einmal jährlich stattfand. Tatsächlich war nur die Begegnung mit Kai eine nennenswerte Erinnerung für ihn. Nicht, dass Deal Design per se schlechte Veranstaltungen abhielt, aber zu viele Menschen auf einem Haufen waren einfach nichts für das Model. Laute Musik, Getümmel und übermäßiger Alkoholkonsum nervten ihn nach kurzer Zeit. Dass er selbst gestern zu viel gebechert hatte, ging ihm eh gegen den Strich. Er bevorzugte es, möglichst nüchtern zu bleiben. Alles andere war nicht zuträglich für seinen Kopf, der ihm auch an guten Tagen zu schaffen machte.
Als sie die überaus leckere Pasta verspeist und sich ausgehfein gemacht hatten, fragte sich Reita einmal mehr, warum er sich die kommenden Stunden freiwillig antat.
Er stand vor dem Spiegel im Flur und betrachtete kritisch sein Outfit bestehend aus einer schlichten schwarzen Jeans, einem weiten weißen T-Shirt und seiner obligatorischen Lederjacke. Da das Wetter noch nicht allzu beständig Anfang April war, entschied er sich für seine schweren Stiefel und schon ging die lustige Reise zu dieser beknackten Party los.
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