[1] 𝑅𝑢𝑘𝑖

Es war die gleiche heruntergekommene Absteige wie vor fünf Jahren schon. Wie vor vier Jahren. Wie vor drei Jahren. Wie vor zwei Jahren und im vergangenen Jahr. Es roch noch immer stechend nach Alkohol, altem Holz und Rauch. Doch mit Traditionen sollte man nicht brechen, nicht wahr?
Ruki schob sich auf die kühle und nach wie vor unbequeme Sitzbank aus Holz. Seine Begleitung setzte sich ihm gegenüber. Er zog ein Jahr nach Akiras Tod hierher und war einfach da. Anfangs war er derjenige, dem sich Ruki anvertraute, weil er sonst zerbrochen wäre. Sie verfolgten nahezu die gleichen Ziele und so kam es, dass sie sogar in derselben Firma arbeiteten. Nur führte sie ihr Weg auf unterschiedliche Weise dorthin. Auch ihre Positionen innerhalb waren jeweils andere. Während Aoi viel unterwegs sein konnte, versauerte Ruki unverändert in Tokio. Er betreute gelegentlich kleinere Shootings und sogar das hauseigene Magazin oder designed Klamotten. Dann trennten sich ihre Wege allerdings. Doch nun war es der kurze Weg zur Bar, um die Zeugen von Rukis Zugeständnisses wieder zu trocknen und er hatte sich größtenteils wieder gefangen.

»Ein Bier und ein Wasser«, gab Aoi die Bestellung auf, als ein älterer Herr mit Stoppelbart an ihren Tisch herantrat.
»Machen Sie bitte aus dem Wasser ein Glas Rotwein«, warf Ruki unter dem erstaunten Blick seines Gegenübers ein. Der Ladenbesitzer hatte verstanden und entfernte sich wieder von ihnen. »Seit wann trinkst du wieder Alkohol?«, fragte Aoi, dessen Blick Ruki deutlich auf sich spüren konnte. Die Art, wie der Kerl das tat, fühlte sich nicht sonderlich angenehm an. Aber was fühlte sich zurzeit schon angenehm an?
Er war wieder einmal ein Wrack, hupersensibel, teils aggressiv und er ertrug sich selbst kaum.
»Manche Dinge kommen mit der Zeit.« Tatsächlich hatte Ruki versucht die Finger vom Alkohol zu lassen. Anfangs klappte das auch. Auf Anlässen schaffte er es ebenfalls. Doch sobald die Türen seiner Wohnung hinter ihm ins Schloss fielen, ertrank er sich im Alkohol. Wenn die Arbeit scheiße war. Wenn ein Fick einfach scheiße war. Wenn die Trauer und Schuld über ihn hereinbrach....
»Mit der Zeit?«

»Jup, wenn man die Welt nicht mehr ertragen kann. Oder man dazu genötigt wird«, gab Ruki weitere Informationen Preis. »Früher hast du es abgelehnt«, meinte Aoi mit gehobenen Brauen. Wollte er jetzt wirklich diese Diskussion darüber führen, was früher war oder nicht? Innerlich verdrehte der Blondschopf nur die Augen.
»Früher war auch so vieles anders. Aber die Zeiten ändern sich nunmal, genauso wie Gewohnheiten...«, seufzte Ruki, der sich mit beiden Händen über das Gesicht wischte, bevor er eine Schachtel Zigaretten aus seiner Umhängetasche kramte und den in der Mitte des Tisches platzierte Aschenbecher zu sich zog.
»...und einige Dinge bleiben immer gleich?«, hakte Aoi nach und ein liebevolles Lächeln umspielte seine Lippen. Das verräterische Glitzern in Rukis Augen ließ ihm viel zu leicht einen Blick auf seine wohl tiefste Wunde seiner Seele werfen.

Doch sofort hielt er seine Gefühle wieder im Zaum, da ihre Gläser geräuschvoll zu ihnen geschoben wurden. »Danke...«, murmelte Ruki. Sein Blick wurde von der Lampe, die sich auf der Oberfläche seines Weinglases spiegelte, eingefangen. Unter normalen Umständen hätte er das nie bemerkt, aber an Tagen wie diesen waren seine Sinne geschärft und er angreifbar, in jeder Hinsicht. Der schwere Geruch von Nostalgie und Melancholie hing schwer in der Luft und lullte ihn zusätzlich ein. Bald jährte es sich zum fünften Mal. Nur deshalb nahm sich Ruki frei und besuchte seine Eltern.
»Ich vermisse den Kontakt zu dir«, versuchte Aoi das Gespräch in weniger kritische Gefilde zu lenken. Er stützte sein Kinn auf seinen gefalteten Händen auf und musterte das Gesicht von Ruki. Dieser hatte abgenommen. Seine Wangenknochen stachen mehr hervor als damals. Rukis Mundwinkel hingen weit nach unten, seine Haut war glanzlos und seine Augen matt. Die dunklen Ringe unterstrichen das ausgezehrte Bild zusätzlich.
»Du hättest anrufen können«, merkte der Blondschopf auf die Tatsache an, da Aoi wohl sentimental zu werden schien. Dabei konnte sich der Kerl so einen Scheiß wirklich sparen. Er hatte sich damals entschieden, lieber durch die Welt zu reisen und ihn hier zurückzulassen. Das tat irgendwie jeder.
»Ja, ich weiß. Ich bin ein scheiß Freund.«

»Ein sehr beschissener Freund«, fügte Ruki schmunzelnd an und nippte an seinem Glas. Sein Blick darauf sollte Aoi genug strafen. »Ja, Mann. Ich weiß. Ich ruf nie an, ich schreib keine Briefe und auch keine E-Mails.« Das entnervte Seufzen entging wohl niemandem in der kleinen Bar.
»Ich bin eben schwer beschäftigt. New York, London, Los Angeles, Paris. Das hättest du auch alles haben können, Taka-chan«, schoss Aoi nun zurück. Für sein dämliches Taka-chan wäre Ruki am liebsten über den Tisch gesprungen und hätte Aoi die Augen ausgekratzt und ihm die schwarzen Haare ausgerissen.
»Ruki, klar? Nicht Taka, nicht Taka-chan oder sonst etwas in dieser Richtung. Einfach nur R-u-k-i«, korrigierte Ruki den anderen beinahe sofort. Aoi musste das nicht verstehen und das brauchte er auch nicht. Allerdings hatte der Kerl verdammt nochmal Recht. Ruki hätte ebenfalls ein Highlife führen können. Wären die Dinge nicht anders gekommen.

»Fang nicht schon wieder damit an! Oder ich hau dir diesmal wirklich eine in die Fresse!«, folgte die sofortige Drohung. Der Blonde mochte mit einer Größe von 1.62 Meter nicht der Größte sein, aber was er sagte, schaffte er durchaus in die Tat umzusetzen. Man unterschätzte ihn ihn immer wieder.
»Mach ruhig. Mein Gesicht ist versichert«, lächelte Aoi dennoch charmant, dafür entlockte er bei Ruki für Unglauben.
»Wenn ich wüsste, dass
du nicht du wärst, würde ich das jetzt für einen schlechten Scherz halten, aber.....«, begann er darauf kopfschüttelnd. Aoi konnte das doch unmöglich ernst gemeint haben. Doch wenn er diesen so betrachtete, war wohl genau das Gegenteil der Fall. Normalerweise sollte Ruki fassungslos darüber sein, wie sich sein Freund entwickelt hatte. Anderseits wunderte ihn in der Branche, in der sie beide unterwegs waren, überhaupt nichts mehr.
„Nein, echt jetzt. Das ist mit mehreren Millionen versichert«, versicherte Aoi ihm nun deutlicher, indem er mit einem Finger kreisend auf sein Gesicht deutete. Wieder folgte der musternde Blick des Kleineren. Eine Gehirnhälfte konnte diese Information rein logisch verarbeiten. Die andere aber tat es weiterhin als ein Absurdum ab. Kein Mucks kam darauf über Rukis Lippen. Er fixierte den anderen nur unverändert mit den Augen.
»Ich bin mal in so'ne Schlägerei geraten und hatte'nen Veilchen. Dadurch konnte ich einen Job nicht machen und es gab mächtig Ärger mit der Agentur. Inklusive Vertragsstrafe aus eigener Tasche. Daher hab ich sofort danach eine Versicherung abgeschlossen. Mein Aussehen ist eben mein Kapital.« Stimmt, Aoi war ja zum Model aufgestiegen, dass offenbar den Hang dazu entwickelt hatte, sich selbst gerne reden zu hören. Ruki hätte ihn dagegen als sanfte und höfliche Persönlichkeit kennen gelernt. Jemand, der eher zuhörte als redete. Es herrschte weiterhin Stille und irgendwann schüttelte Ruki erneut ungläubig seinen Kopf. »Du hörst dich schon genau so an wie die reichen Snobs aus dem Fernsehen«, kamen dann endlich wieder Worte über seine Lippen, die er sogleich an das Weinglas legte, um offenbar diese Feststellung mit süßen Wein herunterspülen zu wollen.
»Meine Beine und mein Arsch sind auch versichert«, äußerte Aoi weitere Informationen, die zunehmend abstruser wurden.

»Sag das nicht so, als wäre das was Tolles!«, entfuhr es Ruki darauf und er rutschte auf der Holzbank ein Stück nach unten, sodass er förmlich auf dieser lümmelte. Er konnte es nicht fassen, über was sie sich hier gerade unterhielten. Und augenscheinlich konnte es Aoi nicht fassen, dass es eben nicht wahnsinnig großartig war, Versicherungen für einzelne Körperteile für den Ernstfall zu haben.
»Ich erkenn dich gar nicht wieder. Wann hast du dich bitte so verändert?«, hakte Ruki nach. Selbst wenn er die Frage an sich selbst gerichtet hätte, nahm es der Mann ihm gegenüber als Aufforderung diese zu beantworten. »Nicht mehr als du. Aber im Gegensatz zu dir, nehme ich nicht alles negativ oder ziehe mich selbst runter«, gab Aoi zu verstehen, während Ruki das Gefühl hatte, dass irgendetwas gleich eskalierte. Das, von dem Aoi sagte und das, was er erlebte, waren keine Vergleiche. Aber Aoi schien es auch nicht zu verstehen und der Blondschopf wollte dazu auch nichts sagen. Denn sonst würde er bald aufstehen und einfach gehen. Wenigstens das schien auch Aoi zu merken. Stattdessen nippte er an seinem Bier und dachte darüber nach, wie er Ruki milde stimmen konnte.
»Hast du die Kleine von gestern eigentlich noch abgeschleppt?«, fragte er stattdessen nun, um das Gespräch in eine völlig andere Richtung zu bringen. Vielleicht auch um zu verhindern, dass der Blondschopf wirklich die Flucht ergriff.

Ruki fuhr sich mit der Zunge über die Lippen, dabei schwenkte er das Weinglas in seiner Hand. »Nein, aber ihre Begleitung«, beantwortete er Aois Frage. Dieser schien seinen Worten nicht ganz folgen zu können und dieser fragende Ausdruck in seinem Gesicht war göttlich. »Warte....«, begann Aoi, der, während er einen großzügigen Schluck von seinem Bier nahm und dabei angestrengt über das Gesagte nachdachte. Dann deutete er mit dem rechten Zeigefinger auf Ruki. »...du erzählst mir gerade, dass du letzte Nacht mit einem Mann verbracht hast? Und warum hast du mir nie erzählt, dass du...auf Männer stehst?«, wollte Aoi wissen, obgleich die Antwort klar auf der Hand lag. Auf Rukis s Lippen zog ein kleines Lächeln und er legte den Kopf etwas schief, während etwas in seinen Augen aufblitzte. Nur war es dieses Mal nicht unbedingt mit Negativem behangen. »Und das nicht zum ersten Mal«, gestand er sogar recht direkt. Um den heißen Brei zu reden war hier ohnehin mehr als unnötig.
»Ja, ich bin schwul. Ja, mir sind Frauen ziemlich egal. Es interessiert mich nicht, wie hübsch sie oder wie groß Ihre Titten sind. Dennoch sehe ich mir Frauen auch sehr gern an. Nein, ich trage privat keine Frauenklamotten und auch keine Highheels. Ich möchte weiterhin als Mann wahrgenommen werden und irgendwann Kinder haben. Und nein, ich will dazu nicht mit einer Frau schlafen müssen. In einen Becher abspritzen genügt. Männer sind in meinen Augen attraktiv und ästhetisch. Trotzdem spreche ich ganz normal mit allen Menschen und mache keine schwulen Bewegungen oder laufe arschwackelnd durch die Gegend. Genauso wenig kaufe ich mir einen Kerl zum ficken und ich springe auch nicht jeden hübschen Jungen an, der mir gefällt, noch übe ich irgendwelche verwerflichen Sexpraktiken aus. Ich habe kein Aids und bin durchaus vertraut mit der Anwendung von Verhütungsmitteln. Homosexualität ist nicht ansteckend, sondern eine Entscheidung, die man für sich trifft. Die ich für mich schon lange getroffen habe«, fuhr Ruki fort, bis er einen Moment lang verharrte und schließlich sein Glas leerte. Dennoch war er sich darüber durchaus im Klaren, dass Homosexualität in seinem Heimatland alles andere als ein einfaches Unterfangen sein mochte. Weder sprach man in der Öffentlichkeit davon oder zeigte es, noch durfte davon irgendwas offiziell umgesetzt werden. Einfach weil das Land und die Gesellschaft sowas nicht tolerierte. Aber das alles änderte nichts an der Tatsache, dass der Blondschopf auf Männer stand. Dagegen konnte er einfach nichts tun.

»Wenn du noch weitere Fragen hast, dann raus damit. Aber eines kann ich dir auch noch beantworten: Ich habe dir nichts davon erzählt, da ich nicht damit hausieren gehe und du dich einfach verpisst hast«, beendete Ruki dann endlich die Antwort an Aoi, der bereits seinen Mund öffnete, jedoch von dem Klingeln eines Handy unterbrochen wurde. Dieser gab schließlich auch das Zeichen dafür, dass der andere die Klappe halten sollte. Als Takanori den Namen auf dem Display sah, überlegte er, gar nicht erst ranzugehen. Aber Ruhe würde er definitiv dann keine mehr haben.
»Ich weiß, du würdest gerne diskutieren, mein Hübscher. Aber ich möchte dich morgen auf meiner Party sehen«, sprach die dunkle Stimme am anderen Ende der Leitung. Sie jagte Ruki unangenehme Schauer über den Rücken. Er wusste auch, das ein nein definitiv nicht akzeptiert werden würde und zudem sein Job an dieser Sache hing. Er hatte sich damals verkauft, mit der Seele und vor allem mit seinem Körper. Für einen Job, der eigentlich ein anderer hätte sein können. Und jetzt konnte er sich keine Absagen leisten. Wenn der Teufel namens Susumu nach ihm verlangte, hatte er zu parieren. Oder er saß bald auf der Straße. Denn ohne Ausbildung oder dergleichen war es schwer, einen Job zu finden. Oder überhaupt Fuß zu fassen.
»Schick mir die Daten, ich werde da sein«, damit beendete Ruki das Gespräch und sah Aoi ins Gesicht. »Du wirst mich morgen begleiten.«
Mehr brauchte es nicht, um den heutigen Abend zu beenden und wie auf der Flucht ins nächste Taxi zu steigen, um nach Tokio zurückzukehren.

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