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Es war, wie jedes Mal. Ruhig und friedlich, weit weg von all der Hektik und Lautstärke einer aufgedrehten Klasse. Weit weg von allen Problemen.
Es war, wie jedes Mal. Eine Einladung.
Ich schritt zwischen den Gräbern entlang. Gras wuchs zwischen den Steinplatten, die den Weg bildeten. Manche der Platten waren locker und kippelten leicht, wenn man drauf trat. Andere waren bereits zerbrochen. Wer wohl alles bereits über sie geschritten ist?
Wenig später stand ich vor dem Grab meiner Mutter. Ich atmete tief durch, um den aufkommenden Gedankensturm zu besänftigen. Was alles passiert war... Heute, gestern, in den letzten Wochen, es war da, wollte tosen, mich von innen zerreißen. Doch ich ließ nur einen sanften Wind zu, der mich durchwehte und meine Gedanken mitnahm.
Einmal mehr bestaunte ich die Wildblumen, die jemand auf das Grab meiner Mutter gestellt hatte. Sie wirkten, als wären sie eben erst von einer Bergwiese gepflückt wurden, doch waren die Blumen bereits gestern hier gewesen. Und vorgestern. Und vorvorgestern. Wenn ich ehrlich war, waren da immer Wildblumen gewesen, auf ihrem Grab. Zuerst waren sie mir nicht weiter aufgefallen zwischen all den anderen Blumen, waren wie ein paar ungeputzte Schuhe zwischen all den perfekt zurecht geschnittenen und gebogenen Blumensträußen, den man nicht weiter beachten sollte. Jetzt jedoch bildeten sie die einzigen lebendigen Farbtüpfelchen. Das sonnige Gelb der Ringelblume. Das sanfte Lila des Thymians. Die Weiß-rosa Tupfen der Schafgarbe. Weiß und gelb der Kamille. Das kräftige Rot der Mohnblume. Das leuchtende Blau des Vergissmeinnicht. Das Orange des Habichtkrauts.
Mit gerunzelter Stirn versuchte ich mich zu entsinnen, was anders war.
Die Farbtüpfelchen! Da war ein Farbfleck, der leuchtete, als sei die Farbe noch feucht, während die anderen Farbtupfen bereits getrocknet schienen. Das ist es!, dachte ich, denn gestern sah der Wildblumenstrauß doch ein wenig anders aus. Schon bunt und leuchtend. Nur ohne die Mohnblume. Ohne das Klatschrot.
Wer auch immer es war, der die Wildblumen für das Grab pflückte, er war heute schon einmal hier gewesen.
Heute würde ich nicht so viel Zeit hier verbringen können, wie gestern. Ich hatte noch einige Schularbeiten zu erledigen. Meine Mutter hatte immer sehr darauf geachtet, dass ich sie mache und ich sagte mir, dass es ihr immer noch wichtig wäre, wichtig ist.
Weil ich mich zum Nachdenken praktisch von alleine bewegte und nicht wie ein Wachhund vor dem Grab meiner Mutter auf und ab gehen wollte, entschloss ich mich dazu, über den Friedhof zu schlendern. Hin und wieder blieb ich stehen, las die Namen, die in den Stein gemeißelt wurden, um nicht vergessen zu werden.
In den Stein gemeißelt. Unveränderlich. Was war das schon wirklich? Was stand schon absolut und unverrückbar fest?
Ich passierte einigen sehr alt wirkenden Gedenksteinen. Was auf ihnen stand konnte ich nur schwer erkennen, teilweise gar nicht mehr lesen, so sehr waren sie mit der Zeit verwittert.
Was sollte ich Theo eigentlich morgen erzählen? Dass ich jeden Tag auf den Friedhof gehe, um meine Mutter zu besuchen? Dass ich meine Freizeit damit verbrachte, zwischen Gräbern entlang zu laufen? Dass ich mich an dem Ort, wo man die Toten suchen würde besonders wohl fühle? Selbst ich bemerkte, wie absurd das alles klang. Es laut vor jemanden auszusprechen konnte es unmöglich besser klingen lassen. Würde ich mich überhaupt trauen, darüber zu sprechen?
Da waren Blumen, die auf einmal meine Aufmerksamkeit anzogen. Wieder Blumen, bemerkte ich, jedoch waren diese längst verblüht und vertrocknet. Sie schmückten einen dieser sehr alten Steine dessen Inschrift nur noch erahnbar war.
Wir alle gehen mit der Zeit. Die einen gehen mit der Zeit, um im Zeitgeschehen zu bleiben, rennen, hetzten, jagen ihr nach, um aktuell zu bleiben. Die anderen, die mit der Zeit gehen, kommen nicht wieder.
Ich schüttelte den Kopf, wie, als könnte ich damit diese Gedanken verscheuchen. Vielleicht wäre es jetzt einfach Zeit zu gehen.
Zeit nach Hause zu gehen.
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