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Ich saß auf dem Geländer, ließ die Füße baumeln und fühlte die Sonnenstrahlen auf der Haut, die sich mit einer frischen Priese vermischten. Neben mir turnten ein paar jüngere Schüler, die lautstark über die neusten Trends diskutierten. Direkt vor mir spielten andere mit einem Ball. Mit einem kritischen Blick standen sie unter Beobachtung eines Lehrers, der eindeutig nicht viel von herumfliegenden Bälle hielt und sich wahrscheinlich gerade ausmalte, wie er jemanden an den Kopf flog. Vielleicht sogar ihn selbst.

Gerade war der Ball auf mich zugeflogen und ich hatte kaum Zeit zu reagieren. Er streifte mich und zwei Schüler rannten im nächsten Moment an mir vorbei dem Ball hinterher. Ich blinzelte. Es ist eben doch möglich, zwischen dem aufgebrachten Treiben des Schulhofes zur Ruhe zu kommen, dachte ich bei mir.

Nein, nicht zwischen.

Ich sollte endlich aufhören, mich abzugrenzen. Auszugrenzen. Ich solle aufhören, unterbewusst Grenzen zu ziehen.

Der Ball flog währenddessen wieder vor mir hin und her.

Nicht zwischen sondern mittendrin. Ich war mittendrin. Mitten auf diesem Schulhof. Mitten unter Menschen in meinem Alter. Mitten im Leben.

Ich seufzte. Oder sollte es zumindest sein.

Bestimmt hätte keiner was dagegen, wenn ich mitgespielt hätte. Vielleicht hätte sich sogar jemand darüber gefreut. Zumindest darüber, dass ich nicht länger im Weg saß und mich abschießen ließ. Mein Blick huschte zum Lehrer, doch dieser hatte sich gerade von Schülerinnen vom Spielgeschehen ablenken lassen.

Ich sah mich weiter um. Überall gab es kleinere oder größere Gruppen von Schülern. Ich entdeckte Theo bei seinen Kumpels, die beisammen standen und immer wieder lachten. Ob er noch einmal versuchen würde, ein Gespräch mit mir anzufangen? Er war bisher der einzige gewesen, der es ohne Grund getan hatte. Nicht weil es irgendeine Gruppenarbeit von ihm verlangte, sondern einfach so, aus ehrlichem Interesse. Wollte ich überhaupt reden? Kurz schloss Ich die Augen.

Nie hatte ich mit jemanden darüber gesprochen. Wie sehr ich meine Mutter vermisste, wie sehr ich meinen Vater vermisste, so, wie er früher gewesen war. Wie sehr ich mein altes Leben vermisste. Nicht alles war perfekt gewesen, dass brachte es auch nicht.

Während mein Vater krampfhaft versuchte, meine Mutter auszugrenzen, hatte ich mich selbst abgegrenzt. Als wolle ich den Toten näher sein als den Lebenden, bemerkte ich trocken.

Vielleicht war es nun Zeit, diese Grenze aufzuheben.

Vielleicht sollte ich jetzt zu den Lebenden zurückkehren.

Viellicht hätte ich Theo die ganze Wahrheit sagen sollen, als er nach meinen Freizeitplänen fragte.

Aber das konnte ich immer noch tun, oder?

Fragend hob ich den Kopf, um in den Himmel schauen zu können. Das strahlende Blau war mir Antwort genug.

Grenzenlos... Ich sah dem Falken hinterher, der über mir dahinflog.

Noch gab es sie, die Grenzen, die mich fest hielten, die mich daran hintreten zu fliegen. Doch ich fasste den Entschluss, sie zu überschreiten. Und wenn ich über den Boden kriechen muss und mir die Hände schmutzig mache, dachte ich trotzig, selbst ein wenig erstaunt, woher der Wille plötzlich herkam.

Ich hatte lange genug getrauert. Ich hatte lange genug geschwiegen. Ich hatte mich lange genug distanziert. Lange genug.

Wenn Theo mich nicht ansprechen würde, dann würde ich es das nächste Mal tun. Morgen. Spätestens morgen. Es tat gut, wieder ein kleines Ziel zu haben.

Der Pausengong ertönte und die Lehrer begannen, die Schüler ins Schulgebäude zu scheuchen. Ich blieb noch einen Moment sitzen und sah den anderen hinterher. Ein paar Sekunden später wirkte der Platz wie ausgestorben.

In die entstandene Stille hinein fragte ich leise:

„Mama, wie ist es, die Grenze zwischen Leben und Tod zu überschreiten?"


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