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Meistens schwiegen wir beide. Ich brauchte ihr nichts aus der Schule zu erzählen, sie war schließlich dabei gewesen. Die Vorstellung, dass sie nun mit jeden meiner Schritte bei mir sein konnte, dass sie nur einen Gedanken von mir entfernt war, tröstete mich. Dadurch konnte zwar nicht wett gemachen werden, dass ich sie nicht mehr sehen konnte, ihre Stimme nicht mehr hören konnte, ihre Hände nicht mehr fühlen konnte, doch es half. Es half mir dabei, weiter zu machen und nach vorne zu schauen, auch wenn ich doch so oft in Gedanken bei ihr war. Zurück in der Zeit, in der wir noch gemeinsam gelacht und geweint haben.

Ich saß auf der Erde, lehnte mit dem Rücken an dem Stamm eines Baumes und sah zum Grab hinüber. Irgendwo rechts von mir lag mein Rucksack und über mir sang ein Vogel sein Lied.

Manchmal jedoch redete ich mit ihr, dann, wenn ich es nicht mehr aushielt, zu schweigen. Wenn ich die Stille zwischen uns nicht mehr ertrug.

„Mama", flüsterte ich. „Ich will nicht nach Hause. Kann ich nicht für immer hier bleiben?"

Ich wartete auf eine Antwort, auch wenn ich wusste, dass sie ausbleiben würde. Die Blätter über mir schienen von innen heraus zu leuchten.

„Zuhause", versuchte ich zu erklären, „Du fehlst. Ohne dich..."

Weiter kam ich nicht, als meine Stimme brach. Zitternd atmete ich ein und aus. In Momenten wie diesen sehnte ich mich nach ihren Armen, nach der Umarmung, die ich zuletzt nie mehr gewollt hatte.

~

„Und jetzt mach's gut, mein Herzblatt. Denk daran, dass-"

„Mama! Lass das! Die Anderen schauen alle zu!"

„Es ist doch egal was die Anderen machen, was sie über uns, über dich und mich, denken, Herzblatt."

~

Wenn ich doch wenigstens noch ein einziges Mal ihre Stimme hören könnte, für ein einziges Wort. Herzblatt.

„Wenn du doch nur hier wärst, Mama..."

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Ich wusste nicht, wie spät es war. Wie so oft hatte ich jegliches Zeitgefühl verloren. Nur der Stand der Sonne verriet mir, dass ich schon länger hier war, als es sich anfühlte.

Gerade eben hatte eine alte Frau den Friedhof betreten, durch den richtigen Eingang, nicht so wie ich durch das hintere Tor. Sie schob einen Rollator vor sich her, auf dem sie mit einer Hand ein Bund mit weißen Blumen hielt. Weiße Rosen, erkannt ich, als sie näher kam. Dann blieb sie stehen, unweit dem Grab meiner Mutter. Ich beobachtete, wie sie dastand, den Rücken leicht gekrümmt, den Blick auf den Stein vor ihr gerichtet. Ich meinte zu erkennen, dass ihre Hand, in der sie die weißen Rosen hielt, leicht zitterte.

Mehr unbewusst stand ich auf. Wie von selbst trugen mich meine Füße den Weg entlang zu den kleinen Schuppen. Dort griff ich nach einer der Vasen, die man leicht in die Erde stecken konnte. Ich drehte den Wasserhahn auf und füllte sie zur Hälfte. Dann lief ich zurück.

Die alte Frau saß mittlerweile auf ihrem Rollator, hielt weiterhin die weißen Rosen in der Hand. Schritt für Schritt ging ich auf sie zu. Als sie mich bemerkte, sah sie mich an. Vor ihr blieb ich stehen und nickte in Richtung der weißen Rosen. Sie sah mich an, dann die Vase in meiner Hand und lächelte. Ohne ein Wort zu sagen, reichte sie mir schließlich den Rosenstrauß. Nun kniete ich mich hin und platzierte die Vase auf dem Grab. Dann erhob ich mich und trat einen Schritt zurück, sodass wir beide die Gedenkstätte betrachten konnten.

Da las ich nun zum ersten Mal, was auf dem Grabstein geschrieben stand:

           »Dem Auge fern, dem Herzen ewig nah.«

Darunter ein Name.

Die Luft war erfüllt von unserem Schweigen. All diese Worte, die sonst gesprochen wurden, um die Stille zu füllen, schienen überflüssig. Es war, als sprächen wir eine vollkommen andere Sprache. Eine Sprache, die nicht auf Worten oder Lauten basierte sondern auf einer völlig anderen Ebene stattfand.

Ich drehte meinen Kopf, um die alte Frau anzusehen. Sie begegnete meinen Blick. In ihren Augen glitzerten kleine Sterne und die Welt stand ganz still.


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