𝐳𝐰𝐞𝐢 | die göttin des lebens ist ein kleinkind

Als Cassian sein Buch sinken ließ, strahlte ihm die Sonne im ersten Moment so hell ins Gesicht, dass er die Augen sofort zusammenkniff. Blinzelnd öffnete er sie wieder, in seinem Sichtfeld jetzt wieder nur Buchstaben und Zeichnungen von Nerven, Knochen und Zellen. Langsam arbeitet er sich wieder nach vorne, bis das Papier erneut aus seinem Sichtfeld verschwand.

Diesmal sah er mehr als nur einen grellen Lichtpunkt. Die ganze Weite des Himmels erstreckte sich über ihm, wie eine riesige Kuppel. Heute war wirklich gutes Wetter. Kaum eine Wolke war zu sehen.

Die meisten würden sich darüber wohl freuen, doch ihn machte das auf eine seltsame Weise unruhig. Denn erwiesener Weise war dort oben nicht nur die Sonne und ein paar Gase, sondern eine ganz eigenen Welt, und diese Welt hatte Augen. Tausende von Augen, jedes gieriger auf Informationen und Drama als das Andere.

Ob er von dort oben wohl genauso auf die anderen Menschen herabsehen können würde wie die Götter gerade auf ihn herabsahen?

Wo der Himmel, in Fachsprache auch Parys genannt, lag, war eine Frage, die er sich schon das eine oder andere Mal gestellt hatte. Die Menschen waren längst Herrscher des Luftraums, und doch waren sie nie auf etwas gestoßen, das in entferntester Weise an das Paradies erinnerte. Einen Gott zu sehen war heutzutage nicht mehr wirklich bemerkenswert, doch den Himmel selbst?

Kein Sterblicher hatte es bisher geschafft, zu diesem geheimnisvollen Ort aufzusteigen und zurückzukehren. Geschichten und Mythen gab es in Massen, doch einen Bericht? Nicht einmal ansatzweise.

Die Götter hatten ihn zwar nie sonderlich interessiert, doch trotzdem konnte er das kleine bisschen Neugier in seinen Augen nicht verstecken. Das Blau dort oben war wie ein Vorhang, eine Wand, die massenhaft an Geheimnisse versteckt hielt, da war er sich sicher. 

Lächelnd ließ er seinen Arm endgültig ins Gras sinken, genau wie sein Buch. Nachdem sein Vater und seine Geschwister mitbekommen hatten, was für einen Brief er erhalten hatten, hatten sie alle sofort wie wild angefangen, zu recherchieren. War so eine Einladung schon einmal vorgekommen, in der lange Geschichte von Göttern und Menschen? Hatte noch jemand so einen Brief bekommen? So viele Fragen, und am Ende hatten sie auf keine eine Antwort gefunden.

Vielleicht hätte er selbst durchaus etwas herausgefunden, doch leider hatte er in der letzten Woche etwas viel wichtigeres zu tun gehabt: Aussuchen, welche seiner Bücher er mitnahm. Vorbereitung war schließlich wichtig.

Sein Blick strich den grauen Rucksack, den sein Vater ihm gegeben hatte. Da drinnen befand sich weitaus mehr als Bücher, und so war das Ding doch relativ schwer geworden. Hoffentlich musste er im Himmel nicht wandern gehen, denn das wäre mit diesem Haufen wirklich eine Qual.

Als er wieder mach oben sah, eine Hand wie eine Kappe über den Augen, um sie zu schützen, entdeckte er endlich ein paar Wolken, die sich langsam in sein Sichtfeld schoben. Weiße flauschige Wattebollen, jeder eine ganz eigene Form. Er sah einen Stern, ein Blatt, eine Rose ... Und da, ein Raumschiff. Ob die Lichtritter, von denen in dem Brief die Rede gewesen waren, mit einem Raumschiff kommen würden? Wahrscheinlich nicht. 

Dann vielleicht mit der Kutsche, die sich langsam aus dem Stern und der Rose formte? Eine Kutsche, die von zwei Blättern gezogen wurde? Innerlich lachte er leise. Oh ja, das passte zu den Göttern. Eine Kutsche für die Könige dieses seltsamen Spiels mit dem Namen 'Leben'.

»Oh, 'Die Psychologie des Vergessens'? Das klingt aber nach einem spannenden Buch!«

Nicht ein Muskel zuckte in seinem Gesicht, während er sich langsam zur Seite wandte. Direkt neben ihm kniete eine junge Frau. Sie sah jung aus, jünger als Cassian selbst. Ihre großen, grünen Augen leuchteten unschuldig, wie die Augen eines Kindes. Doch als sie ihm mit einem breiten Lächeln zuzwinkerte, wusste er, dass der Schein trog.

Die Glocken begann, laut und deutlich zu läuten. Es war 10:00 Uhr. 

Anstatt zu antworten, hielt er sich eine Hand vor den Mund und gähnte leise. Er könnte ihr jetzt natürlich sagen, dass er sie längst durchschaut hatte. Die Blumen, die um sie herum plötzlich aus dem Boden gesprossen waren ... Diese Stimme, die zugleich allwissend und doch neugierig klang ... Sie war Shina, Göttin des Lebens. Maskottchen der Großen Fünf, wie sie oft auch genannt wurde. Doch das wäre einfach nur anstrengend. Dann würde sie denken, dass er schlau war, zu schlau, und hätte automatisch höhere Erwartungen.

Er wusste zwar noch nicht, was sie überhaupt von ihm wollte, doch höhere Erwartungen führten automatisch zu schwereren Aufgaben. Und darauf konnte er beim besten Willen verzichten.

»Oh, hast du nicht genug geschlafen? Das ist aber nicht gut! Du solltest dich doch gut vorbereiten! Oder hat mein Bruder das in seinem Brief nicht erwähnt?«, redete sie weiter, als ob er genauso enthusiastisch geantwortet hatte. Sie seufzte und schüttelte kurz den Kopf, bevor sie wieder zu ihm sah. 

Wenn sie jemanden suchte, der mit ihr redete und vor Energie glühte, hätte sie sich definitiv jemand anderen suchen sollen. Er hatte nämlich genug geschlafen, war nur leider grundsätzlich immer ein wenig müde.

Er antwortete immer noch nicht, sondern sah sie nur aus leblosen, silberblauen Augen an. Viele waren schon überrascht zurückgeschreckt, wenn er sie erstmal direkt angesehen hatte, doch sie kicherte nur. »Na ja, ist ja auch egal. Sonderlich viel zu reden scheinst du ja sowieso nicht. Aber das ist okay, ich rede sowieso mehr als genug für zwei Leute!«

Wenn sie so weitermachte, redete sie mehr als genug für mindestens fünf Leute.

»Also, da du nicht dumm bist, weißt du ja sicher, warum ich hier bin! Auch wenn du gar nicht zuhause geblieben bist ... Wolltest du etwa weglaufen?«, fragte sie, diesmal hatte ihr Lächeln etwas freches, herausforderndes. Er zog nur betont langsam die Augenbrauen hoch. Wenn die Menschen doch nur wüssten, dass die Götter, die sie anbeteten, sich wie Kleinkinder verhielten.

Wobei der Grund, warum er hier, inmitten eines belebten Parks, auf die Lichtritter gewartet hatte, auch nicht wirklich erwachsen war. Eigentlich machte er so etwas nicht, doch als er den Brief gelesen hatte ... Hatte er plötzlich diese große Lust gehabt, die Götter herauszufordern. Nur ein kleines bisschen. 

»Oh, bevor wir gehen, gibt es noch eine wichtig Sache zu klären!«, riss Shina ihn aus seinen Gedanken. Cassian wünschte sich langsam wirklich, dass ihn einfach zwei Lichtritter abgeholt hätten, so wie im Brief. Die wären bestimmt nicht so gesprächig gewesen. Mit großen Augen sah die allmächtige Lebensgöttin ihn an und räusperte sich, als ob sie seine Gedanken hätte lesen können. »Wie heißt du?«

Für einen Moment flammte ein wenig Unglauben in seinen sonst völlig gefühlslosen Augen auf. Dieses Kind da vor ihm war eine Göttin, sie sollte allwissend sein. Und selbst wenn nicht, er hätte erwartet, dass sie zumindest seinen Namen kannte. Entweder war er dafür einfach nicht wichtig genug, oder ... Götter waren nicht halbwegs so mächtig, wie sie behaupteten.

Als seine Antwort auf sich warten ließ, begann sie sich leicht verlegen am Kopf zu kratzen. »Ach, jetzt denkst du bestimmt, dass ich dumm bin ... Also, das stimmt zwar irgendwie, aber diesmal ist es wirklich nicht meine Schuld! Ich und mein Bruder haben eine kleines Spiel gespielt. Er hat jemanden für mich ausgewählt, und ich jemanden für ihn. Das Gemeine ist, dass ich ihm eine ganze, ordentliche Akte gegeben habe, und er mir nur einen hässlichen Zettel mit einer Adresse!«

Verzweifelt fuchtelte sie mit einem Papierfetzen vor seiner Nase herum. Für ihn klang das einfach, als ob sie entweder zu faul oder zu inkompetent gewesen wäre, für ein paar Minuten zu recherchieren. Es war einfach, anhand einer Adresse Namen und alles weiter herauszufinden. Und was für einen Sterblichen einfach war, sollte für einen Gott doch ein Kinderspiel sein.

»Ähm ... Also, lange Geschichte kurz ... Kannst du mir bitte deine Namen sagen? Bitte?«, fragte, nein, bettelte sie, jetzt endgültig mit den Hundeaugen eines Kleinkinds. Wäre es möglich gewesen, hätte er seine Augenbrauen jetzt noch höher gezogen.

»Cassian«, antwortete er aber schließlich doch, als es irgendwann so aussah, als ob ihre Augen ihn gleich anspringen würden. Wahrscheinlich war es einfacher, ihre Fragen einfach zu beantworten, sonst würde sie am Ende noch mehr reden. Wenn das überhaupt noch möglich war.

Ihr Gesicht hellte sich augenblicklich auf, und sie nickte glücklich. Schon seltsam, wie leicht man dieser Göttin eine Freude machen konnte. »Oh, ja, das passt zu dir! Ich bin Shina, aber das weißt du wahrscheinlich schon. Ich wollte dich nicht den Lichtrittern überlassen, weil die manchmal ... Ein bisschen ungehobelt sind. Deswegen bin ich selber gekommen!«

So stolz wie sie ihn gerade anblickte, war er sich nicht sicher, ob sie nicht doch eher ein Hund und kein Kleinkind war. Von ihrer bisher gezeigten Intelligenz wäre beides möglich. Obwohl er sie wahrscheinlich immer noch ansah, als ob sie nichts als ein Schwall Luft wäre, sprang sie schließlich fröhlich wieder auf die Beine und zeigte über sich in den Himmel.

»Wir müssen uns ein bisschen beeilen, da oben warten ein paar Leute auf uns. Und die können ziemlich unangenehm werden, wenn man sie zu lange stehen lässt«, erklärte sie und zog dann, als ob es völlig normal wäre, ein Schwert neben sich aus der Luft und holte aus. Auch als sich plötzlich ein Riss im Nichts bildete, zuckte er nicht einmal zusammen und begann nur langsam, sich aufzurichten. 

Während Shina ihn fast schon ein wenig enttäuscht musterte, packte er seelenruhig sein Buch ein und stand schließlich auf, seinen Rucksack locker über die Schultern gehängt. Beeindruckend, wirklich beeindruckend. Ob sie wohl aufhören würde, so viel zu reden, wenn er applaudierte? Wahrscheinlich nicht. Also blieb er still und verschwendete seine Energie nicht.

Er hatte das Gefühl, dass er von dieser in den nächsten Wochen mehr als genug brauchen würde.

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