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"Hui, da wird einem ja schon fast unheimlich, was? So leidenschaftlich gruselig, wie Falwick das mal wieder schreibt." Thanya schรผttelte sich grinsend, nachdem sie fertig mit Vorlesen war.
Marid schnaubte nur. "Pass auf, dein Tee wird kalt", sagte sie. "Falwick hat in seiner Jugend zu viele Schauergeschichten gelesen. Niemand, der noch ganz bei Verstand ist, befragt die alte Hilda. Die spuckt doch nur Moosmatsch aus."
"Nun holt er sich jedes Jahr die Seelen der Treulosen", las Thanya nochmal genรผsslich vor. "Ich frage mich manchmal wirklich, ob sie den Quatsch selbst glaubt, den sie da von sich gibt."
"Naja, es ist ihr Geschรคft. Wichtig ist nicht, ob sie es glaubt, sondern ob sie damit ihr Publikum รผberzeugt." Marid zuckte mit den Schultern und schob sich eine dicke schwarze Locke hinters Ohr.ย
Thanya folgte der Bewegung mit neidischem Blick. Ihr Haar war blassbraun und brรผchig, wie das der meisten, die in dieser Region lebten. Schwarzes Haar war schon selten, lockiges Haar war eine Sensation - beides zusammen? Das konnte man gleich vergessen.ย
Marid nahm einen Schluck von ihrem Tee. Schwarzer Tee, bitter und herb. Wie sie ihn mochte. Thanya schlรผrfte indes an ihrem Beerenaufguss.ย
"Wie lange machst du heute noch? Es wird bald dunkel. Und auch wenn Falwick aus jedem Butterpilz einen bedrohlichen Krieger macht, so hat er nicht ganz unrecht. Heute Abend solltest du nicht mehr so spรคt durch die Straรen streifen", mahnte sie Thanya.
"Hm, was meinst du? Bei dem brummenden Geschรคft, ob ich da รผberhaupt wegkomme?", scherzte Marid und schloss mit groรer Geste die gรคhnend leere Teestube ein.ย
"Heute Abend verirrt sich bestimmt niemand mehr in den Buchladen. Ich rรคume noch kurz hinten auf, dann mache ich mich auf den Weg. Geh du besser schon mal los, bevor die letzten Sonnenstrahlen verschwinden."
"Sonnenstrahlen", รคchzte Thanya, wรคhrend sie aufstand und ihre vom langen Sitzen steifen Gliedmaรen streckte. "Witzig von dir. Wรคre schรถn, wenn die sich auch mal wieder zeigen lassen wรผrden. Seit Wochen nur noch Regen, Regen und Regen. Meine ganze Wohnung ist voll von nicht trocknen wollender Wรคsche und der Schimmel wรผnscht mir abends schon eine gute Nacht."ย
Marid verzog das Gesicht und sammelte das Teegeschirr ein.ย
"Vielleicht hรถrt das Regenwetter ja bald auf, wenn der Frรผhling ins Land kommt."
Thanya winkte ab.
"Du kennst Valentirstadt. Ich kenne Valentirstadt. Der Regen klebt hier an den Scheiben wie du an deinen Teepflanzen."
Marid musste grinsen.
"Hast du was gegen unsere beschaulichen Nachmittage, an denen du kostenlos meine besten Beerensorten zubereitet bekommst?"
Sie nahm das Geschirr mit in den Hinterraum, um es auszuwaschen. Thanya folgte ihr, die Rรถcke gerafft, und seufzte.
"Dieser Tee ist heilig. Keine Ahnung, wie du den so gut hinbekommst. Manchmal habe ich das Gefรผhl, du weiรt mehr รผber Krรคuter und dieses ganze Grรผnzeug als die Heiler der Stadt." Gedankenverloren fuhr Thanya mit dem Finger รผber die Buchrรผcken, die in ordentlichen Reihen auf Regalbrettern aus dunklem Holz standen. Deswegen bemerkte sie auch nicht, wie Marids rechtes Augenlid kurz zuckte und sie fรผr einen Moment lang nachdenklich den Hinterkopf der Bรคckerstochter betrachtete. Dann wandte sie sich ab und wusch die Tassen sauber.
Thanya verabschiedete sich gleich darauf und einige Zeit spรคter verlieร auch Marid den kleinen Laden, der sich in eine schmale Gasse zwischen Schuhladen und Uhrmacher zwรคngte. Dunkelheit hatte sich wie eine Decke รผber die Stadt gelegt, Schatten lauerten in den Ecken und die nasse, kalte Luft war erfรผllt von leisen Gerรคuschen.ย
Das stetige Prasseln des Regens, die platschenden Schritte letzter Passanten, die eilig ihre warmen Hรคuser erreichen wollten und das Flattern der Flรผgel der von den Dรคchern herunterrufenden Krรคhen.
Marids Wohnung bestand eigentlich nur aus einem Zimmer. Unter das schmale Fenster war eine durchgelegene Matratze geschoben, daneben hatte sie ihre wenigen Habseligkeiten in einer Truhe verstaut, auf der eine Waschschรผssel stand. Frisches Wasser befand sich dort schon fรผr morgen frรผh.ย
Eine funktionierende Feuerstelle mit angrenzender Anrichte war Marids stolzester Besitz. Ansonsten war das kleine Zimmer von allerlei Pflanzentรถpfen, Herbarien und รคhnlichem gefรผllt. Das Leben spross aus allen Ecken, kรถnnte man sagen.
Eine Toilette mussten sich die Bewohner des Gebรคudes teilen, sie war drauรen hinter dem Haus angebracht und morgens war es dort immer fรผrchterlich kalt. Sie beneidete Thanya um den sauberen, beheizbaren Waschraum, der der Bรคckersfamilie zur Verfรผgung stand.
Marid warf der jungen Pflanze mit den abgeschnittenen Blรคttern und Frรผchten einen flรผchtigen Blick zu, dann zog sie sich ihre robusten Handschuhe รผber und verdeckte Nase und Mund mit einer selbstgebastelten Maske. Sie sah nicht sonderlich รคsthetisch aus, erfรผllte jedoch ihren Zweck. Nachdem Marid fรผr einen Moment mit dem Fenster gekรคmpft hatte, das einfach nicht aufgehen wollte, sorgte die Abendluft fรผr eine frische Brise im Zimmer.ย
Nachdem alle Kriterien erfรผllt waren, schob Marid die Truhe beiseite und รถffnete das unscheinbar wirkende Gefรคร, das dort schon seit gestern Abend auf sie wartete.
"Da seid ihr ja, meine Lieben."ย ย
Die zerdrรผckten und zerkleinerten Beeren mit dem Grรผnstich, der ihre Unreife aufwies, und die fein gehackten Blรคtter der jungen Pflanze, schwammen in dem kalten Wasser. Es war schon eine reelle Portion, das musste sie zugeben. "Zumindest kann so nichts schief gehen", murmelte sie, als sie die Pflanzenteile auffing und die Feuerstelle vorbereitete. Das kalte Extrakt deckte sie mit einem Tuch ab und stellte es vorerst beiseite.ย
In frischem Wasser mussten die Pflanzenreste nun fรผr gut eine Viertelstunde aufkochen, dann entfernte sie wieder die mittlerweile fast matschig wirkenden Blรคtter- und Beerenreste und goss beide Extrakte zusammen. Anschlieรend filterte Marid den Sud noch einmal durch ein feines Tuch, um sicherzugehen, dass sich auch wirklich keine festen Bestandteile mehr in der Flรผssigkeit befanden.
Als die glatte Oberflรคche des Tees das Kerzenlicht der Straรenlaterne, die ein paar Hรคuser weiter ihren flackernden Schein auf die Umgebung warf, reflektierte und eine leicht grรผnliche Fรคrbung hatte, holte Marid schlieรlich den kleinen Honigtopf hervor. Honig war eine Raritรคt in diesem Lande und sehr teuer, doch er verdeckte auch den verdรคchtig bitteren Geschmack ihres Tees wie kein anderer Wirkstoff, deswegen war sie sich nicht zu schade, in Abstรคnden einen solchen Topf voller zรคhflรผssigem Gold zu erwerben. "Nicht naschen", verbot sie sich selbst, als sie den Deckel abschraubte und der Honig ihr lockend zuzuzwinkern schien.
Sie fรผllte den gesรผรten Tee in eine verzierte Transportkanne, die nicht nur robust war, sondern das Getrรคnk im Inneren auch fรผr eine Weile warm halten wรผrde. So wรผrden die Wirkstoffe nicht allzu schnell verfliegen.ย
Dennoch, nun war Eile geboten!ย
Rasch verstaute Marid Handschuhe und Schutzmaske, spรคter wรผrde sie sie sorgfรคltig reinigen mรผssen. Dafรผr lockerte sie die lose Diele unter ihrer Matratze und hob die etwas muffig riechende Kleidung heraus. Sie rรผmpfte die Nase. Nun ja, eigentlich brauchte sie sich รผber den Geruch nicht wundern. Es gab nur einen Tag im Jahr, an dem sie den tintenblauen Umhang mit der breiten Kapuze und den Veilchenstickereien, die schwarzen Stiefel mit den veilchenblauen Applikationen und das nachtdunkle Gewand mit der Veilchenschรคrpe anzog.
Die Kapuze barg ihr Gesicht im Schatten, als sie wenige Augenblicke spรคter lautlos aus dem Fenster stieg und sich auf das Dach des Gebรคudes schwang. Noch immer prasselte der Regen auf sie herab und machte das Dach glitschig, doch daran war sie mittlerweile gewรถhnt.
Ihr erstes Ziel in dieser Nacht war das Haus des Krรคmers, Lorin Harfell. Lustig, dass sein Name heute morgen schon im Tรคglichen Taschenblatt vorgekommen war. Er hatte die Todesfรคlle vom Valentirstag als ein Spiel bezeichnet. Nun, er lag falsch. Ein Spiel war es sicherlich nicht. Ein Spiel war zum Vergnรผgen da. Doch diese Tode hatten einen Sinn. Einen Zweck. Das hatte nichts mit Spiel, Spaร und Vergnรผgen zu tun. Die Falten auf ihrer Stirn vertieften sich.
Die Transportkanne stieร in leichtem Rhythmus gegen ihren Oberschenkel, als sie in schneller Reihenfolge von einem Dach zum anderen sprang. Sie durfte bei solchen Sprรผngen nicht zu viel nachdenken und erst recht nicht nach unten schauen. Stur geradeaus blicken, dann wรผrde sie auch heil dort ankommen.ย
Dann stand sie auf dem Dach, dass sie, zusammen mit einer Handvoll anderen Hรคuserdรคchern, das letzte Jahr รผber regelmรครig beschattet hatte. Sie kannte sich hier bestens aus. Kannte Lorin Harfell und seine Routine, wann er das Haus verlieร, wohin er ging und wann er zurรผckkehrte. Sie konnte einschรคtzen, wann er Besuch bekam und von wem.ย
Sie wusste, dass er allein zu Hause war. Seine geliebte Frau war vor einigen Monaten tragisch verstorben; lange Wochen voller Erbrechen, Durchfall und schlieรlich Leber- und Nierenversagen. Die Heiler waren รผberfordert gewesen und hatten sie auf lange Zeit nicht retten kรถnnen. Der Grund fรผr diese Krankheit wurde nie herausgefunden.
Kinder hatte Harfell keine und mittlerweile war er zu alt, um welche zu bekommen. Frรผher war er vielleicht ein abenteuerlustiger Gesell gewesen, doch heute machte er es sich zwischen Papierstapeln und einem Haufen Geld gemรผtlich. Marid war sich sicher, dass er eine eigene Toilette besaร. Im Haus. Mit Heizung. Und flieรendem Wasser.ย
Lautlos lieร sich Marid auf das Fensterbrett unter ihr fallen, das Zimmer dahinter war dunkel. Sie schรผttelte rasch die Tropfen von ihrem Umhang, den sie mit wasserabweisendem Wachs eingerieben hatte. Dann brauchte sie einen Moment, um sich hinzuhocken und in der Dunkelheit das Schloss zu knacken, mit dem das Fenster verschlossen war. Doch schlieรlich schwang es leise nach innen auf.ย
Im nรคchsten Atemzug war sie schon im Krรคmerhaus.
Marid wusste, dass Harfell den Abend ohne seine Frau meist trinkend vor dem Kaminfeuer verbrachte. Er war im Arbeitszimmer. Es war mittlerweile schon fast ein halbes Jahr her, dass sie in sein Haus eingebrochen und unbemerkt durch die Zimmer geschlichen war. Der Einbruch wurde nie entdeckt, da sie nichts verรคndert hatte, doch den von ihr im Anschluss skizzierten Grundriss hatte sie sich sorgsam eingeprรคgt.
Als Marid an der Kรผche vorbeikam, schnappte sie sich noch zwei Tassen aus dem Glasschrank. Dann stieร sie auch schon die Tรผr des Arbeitszimmers auf.
"Guten Abend, Lorin Harfell. Ich mรถchte, dass Sie eine Tasse Tee mit mir trinken."
Der arme Harfell zuckte bei ihrem Eintreten ganz fรผrchterlich zusammen. Mit aufgerissenen blutunterlaufenen Augen starrte er die in veilchenblauer Gewandung gehรผllte Gestalt an, die da in seinem Haus aufgetaucht war. Marids Gesicht war noch immer gut in der Kapuze verborgen und sie hielt ihren Kopf so, dass die Kaminflammen es nicht beleuchteten.
"Wer- wer bist du?", stotterte er. Dann erst schien er die traditionellen Farben und Muster zu erkennen. "Valentir? Wie ... was?"
Marid trat ein paar Schritte nรคher, stellte die Tassen auf dem niedrigen Tisch vor dem Kamin ab und zog sich einen Stuhl heran, um Harfell gegenรผber Platz zu nehmen. Die Weinflasche nahm sie ihm unverfroren aus der Hand, den Inhalt schรผttete sie ins Feuer.
"Hey! Was tust du da?" Die konfuse Ehrfurcht wich entrรผsteter Empรถrung. Gut so.
Sie stellte die nun geleerte Flasche neben sich auf dem Boden ab. Dann lรถste sie die Kanne von ihrer Hรผfte und hielt sie in die Hรถhe.
"Wie schon eingangs erwรคhnt, ich mรถchte, dass Sie eine Tasse Tee mit mir trinken."
Er stierte sie unglรคubig an. Sich nicht daran stรถrend, goss Marid den noch warmen Aufguss in eine Tasse, die sie ihm reichte.ย
"Bitte, trinken Sie."
"Ich weiร nicht, ob ... Warte mal. Das ist doch die Tasse meiner Deffi! Wo hast du Dieb die her?"ย
Ohne auf seine Wut oder den Versuch, sich aus dem eingesunkenen Sessel zu erheben, einzugehen, sagte Marid ruhig: "Ich weiร, was mit Definia geschehen ist."
Er schnaubte und entgegnete: "Na klar weiรt du das, jeder hat es damals mitbekommen." Doch er bleib sitzen und seine Hรคnde begannen zu zittern. Wahrscheinlich mehr, um dieses Zittern zu kontrollieren, als um etwas zu trinken, nahm er die Tasse in die Hand.
"Trinken Sie ruhig", sagte sie und fรผhrte ihre eigene Tasse an den Mund. Der starke Geschmack des Tees rann ihr die Kehle hinab. "Er ist nicht vergiftet", scherzte sie und setzte die Tasse wieder ab. Harfell lachte nervรถs und nahm einen fahrigen Schluck.ย
"Ich weiร, was mit ihr geschehen ist", wiederholte Marid. "Woran sie gestorben ist." Harfell machte den Mund auf, doch Marid lieร ihn gar nicht erst zu Wort kommen. "Haben Sie ihre schรถne Halskette noch, die mit den polierten Perlen?"
Er wirkte verwirrt.ย
"Ja, natรผrlich. Deffi hat die Kette so gerne getragen." Dann wurde er misstrauisch.ย
"Wenn du die Perlen stehlen willst, dann-"
"Dann hรคtte ich das schon lรคngst getan. Sie haben mein Eindringen in Ihr Haus erst bemerkt, als ich mit Ihren Tassen in der Hand vor Ihnen stand", sagte sie spรถttisch.ย
Ohne seine sicherlich gekrรคnkte Erwiderung abzuwarten, schob sie hinterher: "Und ihr Verlobungsring? Haben Sie den auch noch?"
"Nein, den habe ich mit ihr begraben lassen. Er sollte sie anstelle von mir mit ins Jenseits begleiten und sie immer an mich erinnern, wenn sie woanders ist", antwortete er und wirkte darauf so tieftraurig und verloren, dass Marid fast so etwas wie Mitleid fรผr dieses Monster empfand.
Sie schnaubte. "Gut, schlau von ihnen. Der Ring war nรคmlich vergiftet. Ebenso die Perlenkette. Durch das stรคndige Tragen auf der Haut wurden die Wirkstoffe von ihrem Kรถrper aufgenommen, sodass sie langsam aber sicher dahingesiecht ist. Bis sie, nun ja, nicht mehr dahinsiechte." Sie erlaubte sich diese kleine Provokation.
Harfell trank einen groรen Schluck vom Tee, als wollte er sich eine vorschnelle Erwiderung verbeiรen. Marid beobachtete ihn aufmerksam. Er verzog das Gesicht.
"Bah, das Gebrรคu ist ja wirklich scheuรlich bitter. Aber gut. Ich glaube, das tut gut nach dem Wein." Er nickte kameradschaftlich zur leeren Flasche. Sie hob die Augenbrauen angesichts dieser Stimmungsschwankungen. Kein sonderlich gefestigter Charakter, doch das war keine รberraschung, angesichts seiner vergangenen Verbrechen. "Wo hast du den Tee her? Hole ich mir vielleicht รถfter mal. Hilft gegen die Kopfschmerzen."ย
Das war ihr neu. Interessante Wirkung.
"Ich habe ihn selbst gebraut", sagte sie sรผรlich.ย
"Ach so. Hm. Wahrscheinlich bringt es mir nichts, dich zu fragen, wer zum Urt du รผberhaupt bist, oder?" Er betrachtete eingehend Marids Verkleidung.
"Gut kombiniert."ย
"Ich habe Erfahrung mit solchen Gestalten wie dir", belehrte er sie fachmรคnnisch und trank noch einen krรคftigen Schluck. Sie war beeindruckt, das lief ja wie am Schnรผrchen.ย
"Soso", sagte sie bloร.ย
"Nun. Wer du bist, werde ich wohl erstmal nicht herausfinden. Doch was willst du? Warum bist du hier und erzรคhlst mir diesen Moosmatsch von vergiftetem Schmuck?" Er schien sich immer selbstsicherer zu werden, nachdem der erste Schreck รผberwunden war.
"Ich mรถchte eine Tasse Tee mit Ihnen trinken", wiederholte sie zum dritten Mal und grinste in den Schatten ihrer Kapuze.ย
Harfell verdrehte die Augen.
"Geld? Gold? Willst du den Schmuck, den du mir da so madig zu reden versuchst? Den werde ich dir nicht geben, doch vielleicht lรคsst sich รผber Gold im Gegenwert verhandeln."
Er schien schon wieder vergessen zu haben, dass sie ihm die Perlenkette problemlos aus der rechten Jackentasche klauen kรถnnte, wenn sie wollte. Sie beschloss, den Albernheiten ein Ende zu setzen.
Marid stellte ihre Tasse hart auf der Tischoberflรคche ab, sodass beinahe etwas vom Tee verschรผttet wurde. Sie beugte sich vor.ย
"Ich brauche und will Ihr schmutziges Geld nicht. Es klebt Blut an Ihren Hรคnden, Harfell. Und da sie die klebrigen Spritzerchen sicherlich nicht mehr auseinanderhalten kรถnnen, werde ich Ihnen etwas auf die Sprรผnge helfen." Marids Stimme war kalt und bedrohlich, in ihrem Inneren begann es zu brodeln.ย
"Erzรคhlen Sie mir, was Sie am vierzehnten Februar vor zwanzig Jahren gemacht haben."
Harfell blinzelte begriffsstutzig.ย
"Am vierzehnten Februar? Da war Tag des Valentir. Wieso sollte ich mich daran erinnern, was ich an einem Valentirstag vor zwanzig Jahren getan habe?"
"Weil ich mich erinnere. Und das sehr genau." Sie war gefรคhrlich ruhig und das schien auch Harfell aufzufallen, denn mit einem Mal rutschte er unbehaglich auf dem Polster hin und her.ย
"Hรถr mal, Kleines. Ich weiร nicht, wer du bist und es interessiert mich auch nicht. Doch hierherzukommen und mich blรถd vollzuquatschen kannst du dir sparen."
Marid stand auf. Sie รผberragte den sitzenden Mann und das Feuer im Kamin warf sein flackerndes Licht auf sie.ย
"Erzรคhlen Sie mir, was Sie am vierzehnten Februar vor zwanzig Jahren getan haben oder diesen Raum wird heute Nacht nur eine lebende Person verlassen."
Die Klinge eines langen Messers blitzte auf einmal auf. Im nรคchsten Moment war das Messer auch schon wieder verschwunden, doch Harfell hatte es gesehen. In seinen Augen stand endlich die Angst, die ihn sprechen lieร.
"Mein Gedรคchtnis ist nicht mehr das beste, ehrlich. Doch ich werde erzรคhlen, woran ich mich erinnere. Also ich bin morgens aufgestanden und da war meine Deffi ..." Sie schnitt ihm das Wort ab.
"Wir spulen zum Nachmittag vor. Sagt Ihnen der Name Khonruh etwas? Vielleicht hilft Ihnen das beim Erinnern."
Er erbleichte.ย
"Woher ...?"
"Nicht wichtig. Sprechen Sie."
"Aber das ... Wir waren nur eine Gruppe von vierzehn und alle haben vorher geschworen, dichtzuhalten!", empรถrte er sich.ย
"Wie es das Schicksal so will, ist nur noch die Hรคlfte von ihnen am Leben", stellte sie gefรผhllos fest.
"Das ist der einzige Zusammenhang zwischen den Todesopfern der letzten vier Jahre, nicht wahr? Neben den schwarzen Verfรคrbungen. Nun, davon weiร auch die รffentlichkeit. Doch von diesem netten kleinen Zusammenhang wissen nur die Eingeschworenen."
Harfell schluckte schwer.ย
"Wer bist du?"
"Jemand, der Vergeltung รผbt."
"Aber es waren doch nur elende Vampire! Dreckige Vampirgestalten, die da unter einem Dach hausten und das Wohl der Gesellschaft bedrohten. Warum wรผrde irgendjemand fรผr die Rache nehmen wollen?" Er bekam nun hektische Flecken am Hals und nahm zur Beruhigung noch einen Schluck vom Tee.ย
Marid hรคtte ihn am liebsten angebrรผllt, doch sie beherrschte sich.
"Das war eine Familie. Eine Familie mit Kindern. Kinder, die Geschwister und Eltern hatten. Sie lebten fernab von jeglicher Zivilisation und krรผmmten niemandem auch nur ein Haar. Sie lebten friedlich zusammen, bis eines Tages eine Horde Dummkรถpfe auf ihr Grundstรผck einfiel, 'Fรผr Valentir!' grรถlten und eine wehrlose Familie vรถllig grundlos niedermetzelten. Was seid ihr nur fรผr Monster, einem Siebenjรคhrigen die Kehle durchzuschneiden?"
Harfell starrte sie vollkommen regungslos an, als sie ihm diese pure Hasswelle entgegenschleuderte.
"Wer zum Urt bist du? Woher weiรt du das?"
"Ihr wart nicht grรผndlich genug beim Kinderschlachten."
Sie zog sich mit einem Ruck die Kapuze vom Kopf und enthรผllte die festen, glรคnzenden Locken, die dunkle, im Licht des Feuers beinahe schimmernde Haut und die vor Hass und Schmerz verzerrten Gesichtszรผge.ย
"Meine Mutter hat mich im Schrank zwischen den Mรคnteln versteckt, als ihr kamt. Sie wollte auch noch Kasin zu mir bringen - das war der siebenjรคhrige Junge, dessen Blut ihr so leicht vergieรen konntet - doch ihr wart zu schnell. Ich war vier Jahre alt, als ich mit ansehen musste, wie meine Mutter und mein รคlterer Bruder abgeschlachtet wurden wie Hรผhner hinter dem Schlachterhof. Im Holz der Schranktรผr war ein Loch, durch das ich alles beobachten konnte."
Sie musste Luft holen, so aufgebracht war sie. Harfell besaร den Anstand, zumindest betroffen auszusehen. Doch das kaufte sie einem Mann nicht ab, der unschuldige Wesen umbringen konnte. Fรผr Reue war es nun zu spรคt, Marid war erwachsen geworden und hatte ihr Leben damit verbracht, die Mรคnner von damals aufzusuchen. Auch zwei Frauen hatten an dem schrecklichen Spektakel teilgenommen, ihre Leben waren verwirkt gewesen, als Marid ihre Namen gefunden hatte.ย
Sie war nach Valentirstadt gezogen, weil dort die meisten ihrer kรผnftigen Opfer wohnten. Ein ausgeartetes Klassentreffen, hatte einer sie zu beschwichtigen versucht, als sie mit der dampfenden Teetasse in der Hand vor seinem Bett gestanden hatte. Am nรคchsten Morgen hatte man seine Leiche zwischen den Decken aufgefunden, schwarze Verfรคrbungen am Mund.ย
Jedes Jahr sammelte sie die Informationen, die sie brauchte, um am 14. Februar zuzuschlagen. In Valentirstadt und der Umgebung hatte man ein lรคcherlich kรผmmerliches Wissen um Pflanzen, am ehesten konnten ihr da noch die Heiler das Wasser reichen, doch da in dieser Region kaum Pflanzen wuchsen, machte sich auch niemand die Mรผhe, sie ausgehender zu studieren.ย
Dass Marid ein Zimmer voller Giftpflanzen beherbergte, erkannte dementsprechend niemand. Besonders der Schwarze Nachtschatten hatte es ihr angetan, sie mochte das Prozedere, das Gift zu einem Tee zu kochen und ihren Opfern so ihren eigenen Tod schlรผrfen zu lassen.
Die unheimliche Schwarzfรคrbung von Lippen und Zunge waren dabei natรผrlich besonders hรผbsch, sie entstanden durch Risse in der dehydrierten Haut, in denen Blut und Giftstoffe oxidierten und schwarz erschienen. Auรerdem zerstรถrte das Gift Schleimhautzellen, die sich verdunkelten und nekrotisch wurden.ย
Harfell hatte seinen Tee mittlerweile vollstรคndig ausgetrunken. Innerhalb der nรคchsten 15โ30 Minuten sollte ihm leicht รผbel werden und er sollte ein brennendes Gefรผhl im Mund und Rachen bekommen. Spรคter gesellten sich dann starkes Erbrechen und Durchfall, oft begleitet von Bauchkrรคmpfen dazu. Zwischen ein bis drei Stunden nach dem Trinken des Tees wird Harfell mรถglicherweise beginnen, undeutlich zu sprechen oder Schwierigkeiten zu haben, einfache Fragen zu beantworten.ย
Muskelzittern, Krรคmpfe und Lรคhmungserscheinungen beginnen in den Extremitรคten. Herzrasen wechselt sich mit einem gefรคhrlich langsamen Herzschlag ab. Und schlieรlich wird sein Blutdruck rapide sinken. Das Gift hat die Atemmuskulatur dann schon genug geschwรคcht, um ihn in Atemnot zu versetzen. Anschlieรend wird Harfell ohnmรคchtig werden und ein Wettrennen zwischen Herz und Atem beginnt; wer versagt als Erstes?
So oder so, Harfell wรผrde in den nรคchsten sechs Stunden sterben und mit den ersten Morgenstunden das letzte Mal die Luft in seine Lungen saugen.ย
Sie wusste, was jetzt kam. Harfell wรผrde seine Reue beteuern, vielleicht noch ein paar Ausreden auftischen und ein Drama vom Feinsten servieren. Statt sich damit auseinanderzusetzen, schloss sie sein Arbeitszimmer von auรen ab, wobei sie die Schlรผssel nutzte, die Harfell unรผberlegterweise neben dem Herd hatte liegen lassen, und schlieรlich auch jede andere Tรผr abschloss, die er hรคtte nutzen kรถnnen, um Hilfe zu suchen. Dann wusch sie die beiden benutzten Tassen sorgsam aus und stellte sie zurรผck in den Schrank, wobei sie die Tรคtigkeit auf bizarre Art an ihre Beschรคftigung im Buchladen erinnerte.ย
Sie schรผttelte den Kopf รผber sich selbst. Thanya sah in ihr eine teeliebende junge Frau, deren Leben aus Bรผchern und Krรคutern bestand und keine dramatischere Vergangenheit besaร, als dass sie schon in jungen Jahren aus dem Haus ihrer liebenden Eltern ausgezogen war, um sich die Welt anzusehen. Wie sie sich wรผnschte, tatsรคchlich dieses sorglose Mรคdchen sein zu kรถnnen.
Stattdessen stand sie hier, zerfressen von Trauer und Hass, in der dunklen und kalten Kรผche eines Mannes, der dabei mitgeholfen hatte, dass sie ihr Zuhause und ihre Familie verlor. Und nun รผbte sie Vergeltung.ย
"Fรผr Valentir", wiederholte sie die Parole leise, die die Mรคnner damals wieder und wieder gerufen hatten, wรคhrend sie durch ihr Haus getrampelt waren.ย
Hatten sie ihr Handeln wirklich fรผr gerechtfertigt gehalten? Vampire wurden schon den kleinen Kindern durch schaurige Mรคrchen als bรถse Kreaturen dargestellt, dabei konnten die meisten Menschen einen Vampir nicht von einem normalen Menschen unterscheiden. Am grรถรten war da natรผrlich die Geschichte des heiligen Valentirs, Namensgeber dieser Stadt. Er lebte vor hunderten von Jahren und hatte die Fรคhigkeit, Menschen zu heilen, weshalb ein jeder ihn liebte. Der Geschichte nach war er mit einer Vampirfrau zusammen, deren Name nie in den Geschichten vorkam, die ihn jedoch eines Tages verlieร und mit einem anderen Vampir davonzog. Demnach verfluchte Valentir alle Vampire, nannte sie bรถsartig und sagte, dass jeder treulose Mensch auf dem Weg war, ein Vampir zu werden. Als ob Vampire das Ergebnis von schlechtem Verhalten wรคren.
Andere, weniger bekannte Versionen der Geschichte erzรคhlten, dass die Vampirfrau ein so gutes Pflanzenverstรคndnis hatte, dass sie und ihr Mann damit all den Menschen zur Genesung verhelfen konnten. Doch Valentir mochte die Bewunderung und wertschรคtzte es nicht, das Lob zu teilen, weshalb er seine Frau immer wieder รถffentlich geringschรคtzte und ihre Fรคhigkeiten nicht anerkennen wollte. In dieser Version war es nicht sonderlich erstaunlich, dass die namenlose Vampirfrau Valentir schlieรlich verlieร, um mit jemand anderem glรผcklich zu werden.
Ihr Symbol soll damals das Veilchen gewesen sein, das heute jeder nur noch mit Valentir in Verbindung brachte.
Vampire waren weitaus weniger anders, als es diesen Menschen, die sie jagten, lieb war. Marid schluckte und atmete tief durch.
"Fort mit den Gedanken, die Nacht ist noch nicht vorbei."
Sie verbarg ihr Gesicht wieder im Schutz der Kapuze und verschwand aus dem Krรคmerhaus wie ein unbeachteter Windhauch.ย
Sie hatte noch viel zu erledigen.
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