𝗤𝗨𝗔𝗥𝗧𝗘𝗥 𝗣𝗔𝗦𝗧 𝗧𝗪𝗢
— DAS EINZIGE, WAS MAN HÖRTE, war das Rauschen des Meeres und unser schweres Atmen, das der aufziehende Wind über den Partystrand von Boneyard hinfort trug.
Unermüdlich hämmerte mein Herz gegen meinen Brustkorb, meine Rippen schmerzten bei jedem Schlag. Jetzt, so nah im Schatten von JJ stehend, konnte ich immer noch den Alkohol riechen, der wie eine Benzinspur von ihm ausging.
Dann endlich, nach einem Moment des gelähmten Schweigens, wagte er es zu sprechen.
„Verschwinde verdammt noch mal.", spie er mir entgegen. Trotz seines bösartigen Knurrens bewegte ich mich nicht. Ich konnte mich nicht bewegen.
Erst als JJ mich berührte, es wagte, seine Arme auf meine knochigen nackten Schultern zu legen und mich zu schubsen, bewegte ich mich endlich. Ich taumelte einige Schritte zurück.
Mein Körper zitterte bei dem Gedanken an die geladene Waffe - wie viel hätte schief gehen können. Wie viele Leben hätten beendet werden können. Topper, Rafe, John B, Pope und JJ.
Sogar mein Leben, hätte ich es nicht gewagt, die Waffe aus seinen kaputten Händen zu schlagen.
„Was ist nur los mit dir?", fragte ich leise. So leise, dass nur er es hören konnte. Seine Mundwinkel zuckten. Dann machte ich kehrt, verschwand ohne ein weiteres Wort vom Boneyard. Dass dieser Strand Kulisse einer Katastrophe werden würde, hätte ich mir nie erträumt.
Selbst als ich spürte, wie mir die Augen von JJ, John B und Pope in die Schatten der Nacht folgten, blickte ich nicht zurück. Es war besser so.
Rafe. Das Armband. JJ Maybank.
Meine Gedanken kreisten.
⌇ ⌇ ⌇
„Jemma?"
„Geht es dir gut?"
Die Stimme klang scharf, besorgt und tief. Aufmerksam hob ich meinen Kopf und blickte nach rechts. Meine Augen verharrten in der Nähe einer kleinen Gruppe von verdorrtem Treibgut, auf der vor einigen Minuten noch betrunkene Touris gesessen hatten.
Es war Nathan, mein Bruder. Der große, braunhaarige Junge stand in den Schatten einiger dunkler Bäume, welche am Rand des Weges schwankten. Sein gebräuntes Gesicht sah merkwürdig verzerrt aus.
Er schien glücklich, mich gefunden zu haben - in Sicherheit und am Leben. All die Wut, die er mir in den letzten Tagen zuteil hatte werden lassen, wich.
Zum ersten Mal seit Jahren sah ich sowas wie Besorgnis in seinen braunen Augen.
„Oh, mein Gott.", brachte ich schließlich hervor. Ich brach aus meiner Starre, lief zu meinem Bruder hinüber und zog ihn in eine hastige Umarmung.
Ich konnte nicht begreifen, was geschehen war. Sicher, Schlägereien kamen häufig vor - so häufig, dass normalerweise jemand einen Verbandskasten herumliegen hatte, um die Folgen zu beseitigen - aber noch nie hatte eine Party mit erhobener Waffe geendet.
Ich konnte das Bild von der Wut in JJs Gesicht nicht abschütteln, von der Angst in Toppers eigenem Gesichtsausdruck, wissend, dass sein Leben in den Händen eines Pogues lag. JJ hätte den Abzug betätigen können.
Ich wollte gar nicht wissen, woher er die Waffe hatte, oder wer sie ihm gegeben hatte. Ich bezweifelte stark, dass sie legal war, angesichts der kriminellen Wurzeln, die sich wie ein Spinnennetz durch den Maybank-Stammbaum zogen.
„Alles okay?", fragte ich schließlich und zog mich von ihm zurück. Ich konnte sehen, wie seine Augen über meinen zitternden Körper wanderten - auf der Suche nach einer Schussverletzung.
„Ich dachte, diese verrückten Pogues haben dich kaltgemacht.", erwiderte er und seine Stimme klang heiser. „Wieso zum Teufel bist du nicht weggelaufen?"
Seine großen Hände packten mich an den Schultern.
Ich wusste nicht, warum ich es getan hatte. Er würde mir nie verzeihen können, wenn er erfahren würde, dass ich mein eigenes Leben für die Anderen aufs Spiel gesetzt hatte.
„Ich hatte einfach Angst, Nate.", gab ich von mir und das Gesicht meines Bruders erweichte. Er fiel auf meinen Bluff herein.
Nach einem langen Moment reinen, tröstlichen Schweigens zog ich mich zurück und blickte wieder auf das Wasser des offenen Atlantiks jenseits der Insel.
„Dad darf auf gar keinen Fall davon erfahren.", murmelte ich. „Sonst können wir uns gleich ein Grab ausheben."
Nathan antwortete nicht. Stattdessen sah er mich an und lächelte schwach. Ich sah, dass es ein erzwungenes Lächeln war. Das erste Lächeln seit Tagen. Es fühlte sich an wie Ewigkeit.
Ich war mir sicher, dass uns jemand, irgendjemand, inzwischen gesehen haben musste. Dem Weg folgend, blieben wir dicht beieinander, während wir durch den weichen Sand wateten und dem Rand des Meeres so weit folgten, wie es uns möglich war.
Wir waren beinahe Zuhause als ich die Stille nicht mehr ertragen konnte und innehielt. Nathan, welcher vorausgelaufen war, merkte erst nach einigen Metern, dass ich angehalten hatte.
„Bist du mir noch böse?", fragte ich leise und sah zu ihm auf. Kaum merklich schüttelte er den Kopf.
„Nicht mehr.", erwiderte Nathan. „Ich war wütend. Aber dann habe ich gemerkt, wie bescheuert das war. Dir hätte an diesem Tag sonst was passieren können und ich war sauer über mein verdammtes Auto."
„Als ich dich nicht mehr gesehen habe, habe ich Panik bekommen, Jemma. Ich dachte, JJ würde Topper erschießen... oder dich. ", gestand er leise wie ein Flüstern.
„Er war kurz davor. Aber nachdem alle vom Strand verschwunden waren und nur noch er und seine Freunde und Topper und Sarah ... und ich...", zögerte ich. Ich wollte und konnte ihm nicht sagen, was ich getan hatte.
„John B hat ihn beruhigt. Und dann bin ich gegangen." Ich log ohne das Gesicht zu verziehen. Ein kleines Schlucken, dann wagte ich, die Momente in der Dunkelheit meines Verstandes loszulassen. Blitze von eisigem Blau spähten in den Schatten zu mir zurück.
Es war, als würde JJ direkt vor mir stehen.
„Keiner wurde verletzt."
„Das wird ein Nachspiel haben.", flüsterte Nathan und drehte sich um. Er richtete seinen Blick auf das Meer und bewegte sich langsam auf dem Sand.
„Das wird es.", pflichtete ich ihm bei und versuchte, den blonden Pogue aus meinen Gedanken zu verbannen.
Schließlich liefen wir die letzten Meter, kreuzten die Landstraße und machten uns auf den Weg hinauf zu unserer Auffahrt. Dad's Wagen und Nate's Jeep standen einsam in der Dunkelheit der Einfahrt. Er musste schlafen gegangen sein.
„Wie spät ist es?", fragte ich Nate, als wir die Treppe zur Veranda emporstiegen und er den Haustürschlüssel aus den Tiefen seiner Baggypants fischte.
„Viertel nach zwei." „Oh, Gott."
Wir waren Katastrophen, zwei betrunkene Kinder. Als ich so dastand und schwer atmend zu meinem großen Bruder aufsah, wurde mir bewusst, wie schwer es Dad mit uns hatte.
Einige Minuten später trennten sich unsere Wege. Wir torkelten zu den Türen unserer Schlafzimmer.
Ich wartete, bis er seine geschlossen hatte, bevor ich einen langen, angespannten Atemzug ausatmete und schließlich in mein Zimmer ging. Es dauerte nicht lange und ich sackte vor meinem Bett zusammen.
Für einen kurzen Moment wurde das Pochen in meinem Hinterkopf stärker und ich erinnerte mich das, was Rafe im Boneyard zu mir gesagt hatte. All die furchtbaren Dinge und Beleidigungen, die Anschuldigungen.
Ich erinnerte mich daran, wie meine Hand mit seinem Gesicht kollidiert war und stieß einen erschöpften Laut aus. Schließlich raffte ich mich auf und fiel mit letzter Kraft ins Bett. Plötzlich waren meine Augenlider schwer wie Blei.
⌇ ⌇ ⌇
„Jemma! Rafe ist hier!"
Ich verzog das Gesicht, als ich mich in meinen Laken drehte und tief ausatmete. Es dauerte einige Sekunden, bis ich meine
müden Augen öffnete und benommen auf die geschlossene Tür meines Kleiderschrankes starrte.
Die Erinnerungen an letzte Nacht versetzten mir einen Stich. Ich spürte, wie sich der Knoten in meinem Magen krampfartig zusammenzog und wieder löste.
In diesem Moment wollte ich ihn nicht sehen, ihn und seine blauen Augen. Er hatte furchtbare Sachen gesagt, er hatte mir Angst gemacht. Tief in meinem Inneren hatte ich gewusst, dass er zu solchen Dingen in der Lage war.
Doch ich hatte es ignoriert, so wie ich seine Lügen ignorierte.
Erst, als mein Vater erneut nach mir rief, kämpfte ich mich aus meinem viel zu gemütlichen Bett.
Langsam aber sicher zog ich eine kurze Jeans und ein weißes Oberteil an - perfekt für einen faulen Sommersamstag. Als ich mich auf den Weg zur Tür machte, schaute ich mich verwirrt um und versuchte mich zu erinnern, wo meine Sandalen geblieben waren.
Der Boneyard.
Schließlich lief ich die Treppe herab und blickte in die blauen Augen meines Vaters. Er trug seine gammlige Shorts, die er immer für die Gartenarbeit nutzte. Die Hände steckten in gelben Handschuhen, die er sich fürs Rosenumtopfen zugelegt hatte.
Erwartungsvoll sah er zu mir auf. „Ich wusste gar nicht, dass ihr beide heute wegfahrt. Ist das mit Ward abgesprochen?", fragte er mit gehobener Augenbraue und ich kräuselte die Stirn.
„Der blaue Bentley steht in unserer Auffahrt. Rafe wartet auf der Veranda.", ertönte es verschlafen und mein Bruder trat in Shorts aus der Küche hervor. Er hielt eine riesige Flasche Orangensaft in seiner rechten Hand.
Auf seiner gebräunten Brust schimmerten feine Wasserperlen. Er musste geduscht haben.
„Rafe ist hier?", fragte ich und er nickte. „War wohl 'ne Überraschung. Passt schön auf euch auf, Kinder.", sagte mein Dad und lächelte, ehe er wieder durch die Hintertür zum Garten verschwand.
Erneut drehte ich mich zu Nathan um, doch der zuckte nur mit den Schultern und verschwand anschließend wieder in der Küche.
Mein Herz schlug schnell, als ich zur Eingangstür hinüberlief und nach draußen trat. Als ich sah, wer da auf unserer Veranda war, stieg mir Galle den Hals empor.
Es war niemand Geringeres als Rafe Cameron, der seelenruhig auf unserer Schaukel saß und mit seinen Fingern spielte. Als mich der Kook bemerkte, erhellten sich sich seine müden Gesichtszüge. Er sprang von der Schaukel und lief auf mich zu, wobei ich deutlich sehen konnte, dass er noch leicht torkelte.
„Babe, es tut mir furchtbar leid. Ich habe einen Fehler gemacht.", sprach er mit erhobenen Händen und küsste mich. Er platzierte sie an meinen halbbedeckten Schultern und entlockte mir einen leises Zischen.
„Rafe, ich weiß nicht, ob ich dich gerade sehen will.", erwiderte ich leise, berührte meine Lippen und sah zu Boden. Ich konnte ihm nicht in die Augen sehen.
„Jemma, ich meine es ernst. Es tut mir leid. Ich hätte das nicht sagen sollen. Ich war betrunken." Er verzog das Gesicht und sah wehleidig auf mich herab.
Es war, als würde eine Faust mein Herz umklammern. Es tat furchtbar weh. Ich konnte es nicht ertragen, ihn zu sehen. Am liebsten hätte ich ihn erneut geschlagen und gesagt, was für ein absoluter Idiot er doch war. Vielleicht war Konfrontation genau das, was ich gerade brauchte.
Ich hatte die Wahl. Ich konnte zurück in mein Zimmer gehen und vergessen, was gestern am Strand geschehen war oder mich wehren und den Pogues - allen voran JJ - meine Meinung geigen.
Als ich gedankenverloren auf mein Handgelenk herabblickte und mich an das Armband erinnerte, wurde mir bewusst, dass ich bereits eine Entscheidung getroffen hatte.
„Ich brauche etwas Zeit. Bitte geh", sagte ich schließlich, ehe ich mich umdrehte und die Tür vor Rafes' Nase zuknallte. Der Blonde weitete perplex die Augen, während ich im Inneren unseres Hauses verschwand, um meine Converse und Dads' Autoschlüssel zu holen.
Ich hatte JJ Maybank bereits ein Mal die Stirn geboten. Und ich würde es wieder tun.
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