05


Verwirrt sieht Yoongi zwischen den Zwei hin und her, ehe er langsam die Hände von Jungkooks Kragen nimmt und einen Schritt zurücktritt.

"Okay", äußert er immernoch ein wenig misstrauisch und räuspert sich, "Auf deine Verantwortung, Tae. Falls es Probleme gibt, ruf mich."

Sein Nachbar nickt ihm einmal dankbar zu, was Yoongi erwidert, bevor er in sein eigenes Heim verschwindet.

Nun wieder unter sich, stehen Taehyung und Jungkook etwas unbeholfen nebeneinander und wissen nicht so recht, wie sie ein Gespräch beginnen sollen.

"Warum bist du wieder hier?", will Taehyung schließlich wissen, "Ich sprach von einer Nacht."

"Ich weiß. Tut mir leid", Jungkook sieht ihn aus schuldbewussten Augen an und zieht die Nase hoch, "Ich wusste bloß nicht, wo ich sonst hin soll. Wenn du mich nicht hereinbeten willst, verstehe ich das. Wirklich."

Er sieht zu Boden und tut, als würde es ihn nicht interessieren, wie Taehyung sich entscheidet, aber dieser erkennt nur zu deutlich, wie grässlich kalt ihm wieder ist. Innerlich schimpft er mit sich selbst, weil er zu diesem Jungen einfach nicht Nein sagen kann.

"Hast du heute schon etwas gegessen?"

"Ist schon okay, Taehyung. Ich hätte nicht kommen sollen, tut mir leid. Danke nochmal für letzte Nacht."

Er will sich tatsächlich aus dem Staub machen, aber diesmal liegt es an Taehyung, ihn aufzuhalten. Er weiß nicht, weshalb er es tut. Ist es bloß Mitleid? Freut ihn die Aussicht auf Gesellschaft vielleicht ein kleines bisschen? Oder ist es einfach dieser Junge, der sich seit ihrem ersten Blickkontakt unweigerlich in seine Gedanken gebrannt hat?

"Jetzt komm schon rein", seufzt Taehyung, solange er das Schloss aufschließt, "Hier draußen holst du dir noch den Tod."

Unmittelbar schnellt der Kopf des Schwarzhaarigen zu ihm zurück und seine Miene hellt sich sichtbar auf. "Wirklich?"

"Wirklich. Aber beeil dich, bevor ich es mir doch anders überlegen sollte."

Das lässt Jungkook sich nicht zweimal sagen, sodass er keine zwei Minuten später wieder im Wageninneren hockt und hinter sich die Schiebetür einrasten hört.

Von da an läuft der Abend genauso ab, wie der vorherige. Dieses Mal jedoch mit einer gewissen Routine, als würden sie sich schon seit Wochen kennen und jeden Tag so miteinander verbringen.

Sie essen schweigsam, spülen mit geschmolzenem Schnee ab, kochen Wasser für die Wärmflasche, machen sich bettfertig und zwängen sich gemeinsam in den Schlafsack.

Jungkook kommt es so vor, als wäre seit dem Gestern und dem Heute überhaupt keine Zeit vergangen, als würde er schon ewig hier wohnen, so wohl fühlt er sich in diesem verrosteten Wagen, in diesem Schlafsack, bei Taehyung, dessen Brust an seinen Rücken gedrückt wird.

Eine ganze Weile ist es schon still zwischen ihnen und Jungkook hätte schwören können, dass Taehyung bereits eingeschlafen ist, weil er dessen ruhigen Atem stetig in seinem Nacken spüren kann, als eben dieser im Flüsterton spricht: "Jungkook? Bist du noch wach?"

"Ja."

"Sehr gut", seufzt er erleichtert, "mein Arm ist eingeschlafen, weil ich die ganze Zeit darauf liege."

"Bist du sicher, dass es nicht die Kälte ist?"

"Ja."

"Und jetzt?"

Er räuspert sich betreten. "Ich kann mich nicht umdrehen, dafür ist es zu eng..."

"Oh. Sollen wir–"

"Darf ich dich in den Arm nehmen?"

Für einen Wimpernschlag scheint Jungkooks Herz auszusetzen und er schluckt nervös, während sich ein unbekanntes, sanftes Kribbeln in seinem Inneren freisetzt. Im selben Moment fragt er sich, woher diese befremdliche Reaktion stammt; sie sind so nah aneinadergeschmiegt, dass es eigentlich keinen Unterschied mehr macht, ob Taehyung seine Arme um ihn legt oder nicht.

"Okay", stimmt er also leise zu und dennoch ein wenig aufgeregt. Er hat noch nie jemanden so schlafen sehen, bis auf Namjoon und Jin.

Vorsichtig platziert Taehyung seinen linken Arm unter Jungkooks Kopf und schiebt den rechten über seine knochige Taille, sodass seine Hand über den Stoff an seinem Bauch streift und direkt ein noch größeres, geballteres Kribbeln in ihm auslöst.

"Danke", wispert Taehyung und sein Atem kitzelt an Jungkooks Ohr. Auf einmal ist dieser wieder hellwach und seltsam aufgeregt, als hätte jemand den Takt seines Herzens mit einem Drehschalter nach oben katapultiert. Trotzdem würde er diesen Moment für nichts auf der Welt eintauschen. Er genießt das Gefühl, gehalten zu werden; sicher zu sein. Dergleichen hat er noch nie empfunden und schon jetzt ist er Taehyung so dankbar dafür, dass er am liebsten losheulen würde.

Aber der Lockenkopf hinter ihm scheint auch nicht wirklich schlafen zu können, weil er nach einer Weile wieder eine Frage stellt: "Wie alt bist du eigentlich, Jungkook?"

"Neunzehn", antwortet er wahrheitsgemäß, "Und du?"

"Einundzwanzig", erwidert Taehyung.

"Dann bist du zwei Jahre älter als ich."

"Du kannst zählen. Ich bin beeindruckt", kommentiert Taehyung spöttisch, dabei ist er tatsächlich ein wenig beeindruckt. Ein mathematisches Grundverständnis ist nichts selbstverständliches. Jimin hat ihm damals zählen beigebracht, so wie eigentlich alles, was er heutzutage weiß, aber Lesen und Schreiben hat er nie gelernt. Wie auch? Er durfte nie eine Schule besuchen.

Plötzlich wird ihm wieder einmal schmerzlich bewusst, wie sehr er seinen besten Freund vermisst.

Es gibt einen Grund, warum er die Regel keine Freunde immer so konsequent umgesetzt hat und streng genommen ist Jungkooks Anwesenheit schon ein Regelbruch.

Trotzdem könnte ihn nichts und niemand dazu bringen, Jungkook loszulassen, weil es sich einfach viel zu gut anfühlt, jemanden zu halten. Er ist so ruhig und entspannt wie seit Jahren nicht mehr und weiß, dass er heute Nacht gut schlafen wird, weil er nicht alleine ist.

"Seit wann lebst du hier in den Waggons, Tae?", fragt Jungkook in die Stille und reißt ihn damit aus seinen Gedanken.

"Tae?", wiederholt der Angesprochene kritisch.

"Oh ähm", druckst Jungkook etwas verunsichert herum, "Ich dachte, weil dieser Yoongi dich auch so genannt hat...?"

Taehyung seufzt leise. "Ich werde dich eh nicht davon abhalten können, meinen Spitznamen zu verwenden, hab ich recht? Erwarte bloß nicht, dass ich dir auch einen gebe."

"Tu ich nicht", verspricht Jungkook schnell.

"Also zu deiner Frage, ich lebe hier seit etwa einem Jahr. Ich habe diese Waggons letzten Winter durch Yoongi gefunden, weil ich ihm heimlich gefolgt bin. Er war der Erste, der die Wagen entdeckt und als Versteck genutzt hat. Mit der Zeit kamen dann ein paar andere hinzu."

"Und davor?"

"Ich hatte keinen wirklichen Schlafplatz, bin hin und her gezogen. Und du? Wo hast du die letzten Nächte verbracht? Also, bevor du dich bei mir eingenistet hast."

"Ich hab mich nicht bei dir-"

"Jungkook", unterbricht Taehyung ihn leicht amüsiert, "Ich will dich nur ein wenig aufziehen."

Der Junge in seinen Armen seufzt leise. "Unter der Brücke, an Bushaltestellen, im Park, einmal habe ich mich sogar in einer öffentlichen Toilette eingeschlossen, weil es so stark gewindet hat."

"Und du hattest nie eine Decke?", fragt Taehyung erschüttert, "Dein Körper muss wirklich mehr als alles andere leben wollen, wenn du das überstanden hast."

"Am Anfang hatte ich auch einen Schlafsack. Aber den hat mir irgendwer geklaut."

Das kommt nicht selten vor. Man muss seine Sachen immer im Blick behalten, wenn man auf der Straße lebt und weiß, dass andere das auch tun.

"Und du bist immer ganz allein hier?", hakt Jungkook weiter nach und lenkt somit von seiner Wohnsituation weg.

"Ja."

"Und die anderen Wagenbewohner?"

"Ich habe keine Freunde, wenn du das meinst."

"Ich auch nicht... Nicht mehr."

"Das tut mir leid."

Bilder erscheinen vor Jungkooks innerem Auge, Bilder von Namjoon und Jin, ihrem Lachen, ihrer Liebe, ihrem Tod. Doch niemand vermisst sie, weil niemand weiß, dass es sie gab, bis auf Jungkook selbst. Sie existieren nicht mehr, haben nie existiert.

Diese Stadt hat sie ausgelöscht.

Auf einmal hat er den dringenden Wunsch, Taehyung alles zu erzählen und wenigstens ihm von den zwei wunderbarsten Menschen in seinem Leben zu berichten. Er kennt Taehyung kaum und vielleicht interessiert es ihn auch gar nicht, aber das ist nicht so wichtig. Der Jüngere atmet zitternd ein. "Ist es in Ordnung, wenn ich von ihnen erzähle?"

"Natürlich."

Und so erzählt er.

Er erzählt von Namjoon, seinem vier Jahre älteren Bruder und dessen besten Freund Jin. Er erzählt, dass sie eigentlich mehr als beste Freunde waren.

Von klein auf sind sie immer zusammen umhergezogen. Namjoon und Jungkook haben Jin eines Nachts unter einer Brücke kennengelernt, Jungkook ist gerade einmal sieben Jahre alt gewesen. Der Rauch von Feuer hat sie in jener Frühlingsnacht unter die Brücke gelockt und dort saß Jin, ganz allein und grillte ein paar Würstchen über dem Lagerfeuer. Ohne Umschweife hat er die zwei Brüder zu sich eingeladen und sein Essen mit ihnen geteilt. Noch heute kann Jungkook seine Stimme hören.

"Ich bin Jin. Wollt ihr auch was?"

Das Erste, was Jungkook an Jin aufgefallen ist, war wie warm und einladend seine Augen geglänzt haben, trotz seines dürren Körpers. Er ist sich nicht zu schade gewesen, alles mit ihnen zu teilen, obwohl er selbst so gut wie nichts besaß.

Er erinnert sich noch, wie Jin während ihrer Mahlzeit gesagt hat:

"Wisst ihr, heute ist mein Geburtstag. Ich werde 13. Das ist lustig, weil ich habe mir früher immer eine Party gewünscht und nie eine bekommen. Nun ja, ich schätze, nun seid ihr meine Gäste. Vielleicht ist das mein Geschenk."

In dieser Nacht, an Jins 13. Geburtstag haben sie sich zusammengeschlossen und keinen Tag mehr getrennt verbracht.

Es ist nicht schwierig gewesen, über die Jahre hinweg zu beobachten, wie Namjoons und Jins Beziehung sich veränderte. Wenn möglich, wurde sie von Tag zu Tag intensiver, bis verstohlene Küsse oder Händchenhalten irgendwann wie selbstverständlich hinzugekommen sind. Jungkook wird wohl nie die liebevollen Blicke und Berührungen vergessen, die die Beiden ständig ausgetauscht haben. Trotzdem hat er sich zu keinem Zeitpunkt wie das dritte Rad am Wagen gefühlt. Jin und Namjoon waren immer für ihn da, haben ihn beschützt und alles dafür getan, dass es ihm gut ging.

Egal wie aussichtslos die Umstände auch gewesen sind, er hat stets seine kleine Familie gehabt, auf die er sich felsenfest verlassen konnte.

Und dann dieser Tag, der alles veränderte. Ganze zwei Jahre sind inzwischen vergangen, seit Jin gestorben ist. Von einer auf die andere Sekunde ausgelöscht. Wenn Jungkook eine Sache in seinem Leben rückgängig machen könnte, würde er diesen Moment wählen, in welchem sie losgegangen sind, um am Bahnhof ein Abendessen zu beschaffen. Die Chancen sind dafür sehr hoch, weil täglich allerlei Menschen aus und ein gehen, sodass die Mülleimer immer gefüllt sind – oder man mit viel Geschick und einem Hauch von Glück die reinsten Schätze abluchsen kann.

Doch im Nachhinein kommt Jungkook diese Option so schrecklich leichtsinnig vor, denn diese kleine Abluchserei hat einen reichen Snob dazu veranlasst, Jin in rasender Wut auf die Gleise zu schubsen. Genau in den Moment, als ein Zug einfuhr.

Es hat niemanden geschockt, weil es niemanden interessiert hat. Bei Diebstahl kennen sie nichts.

Namjoon war nie wieder der Selbe. Anfangs schrie er jede Nacht, weinte sich stundenlang in dem Schlaf und wurde kurz darauf von Schuldgefühlen durchtränkten Albträumen geweckt. Es ist seine Idee gewesen, zum Bahnhof zu gehen und das hat er sich nie vergeben. Dann wurde sein ganzes Dasein einfach nur furchtbar emotionslos, gar unbeteiligt und er wollte nicht essen, wollte nicht reden, wollte eigentlich überhaupt nichts tun und tat es dennoch. Wegen Jungkook.

Ein Jahr später wurde er schließlich krank und konnte nur noch hustend und fiebrig unter der Brücke liegen. Obwohl er sich ständig dafür entschuldigte, eine Last für Jungkook sein zu müssen, ist diesem sofort aufgefallen, wie erleichtert sein Bruder insgeheim gewesen ist. Zwar nahm mit seinem stetig schlechteren Zustand auch das schlechte Gewissen zu, weil er Jungkook ebenfalls im Stich lassen würde – und das hat ihn aufrichtig geschmerzt – aber trotz allem konnte er nicht anders, als eine erlösende Freude im Hinblick auf sein Ende zu verspüren.

Vor vier Monaten war es dann so weit. Namjoon war ganz friedlich, kurz vor seinem Tod. Während Jungkook vergebens versucht hat, seine Tränen zurückzuhalten, hat Namjoon sich flüsternd verabschiedet.

"Es ist okay, Jungkook. Mir geht es gut."

Seitdem ist Jungkook alleine und versucht aller Trauer zum Trotz dennoch weiterzumachen.

"Du warst schon immer stark, womöglich viel stärker als Jin und ich zusammen."

Nicht aufgeben. Nicht aufgeben...

"Irgendwann werden wir uns wiedersehen, so wie ich Jin heute wiedersehen werde. Und dann sind wir wieder vereint, okay?"

Es ist quälend und schwer. So schwer.

"Es tut mir leid, dass ich dir das nicht ersparen kann, Jungkook. Es tut mir so leid."

Und er ist unendlich dankbar für einen Moment wie diesen, in dem er all das mit jemandem teilen kann.

"Pass auf dich auf. Ich hab dich lieb, JK."

Er weint und weint, während Taehyung nichts anderes tut als ihn zu halten – wenn überhaupt möglich, noch fester als sowieso schon, so lange, bis er schließlich in einen unruhigen Schlaf fällt.

Eine Weile betrachtet der Ältere die Umrisse des Jungen in seinen Armen nachdenklich. Nach allem, was dieser ihm gerade erzählt hat, fühlt der Ältere eine Art Verpflichtung, Jungkook zu beschützen – und zwar mit allem, was er besitzt und mit allem, was er geben kann. Tief in seinem Herzen spürt er, dass es mehr als eine Verpflichtung ist; es ist ein inniger Wunsch, ein Bedürfnis, ein Verlangen.

Plötzlich erkennt Taehyung, dass er all seine Regeln in in genau diesem Moment verworfen hat, als er zum ersten Mal in diese großen, tiefen Augen geblickt hat. Und dass er insgeheim den ganzen Tag über darauf gehofft hat, Jungkook wiederzusehen.


——

Honestly i'm a little insecure? Ich weiß auch nicht, irgendwie bin ich immer so zwiegespalten, weil mir das Schreiben auf der einen Seite wirklich Spaß macht, aber auf der anderen Seite bin ich sooo perfektionistisch und will mein ganzes Zeug nie veröffentlichen, weil ich immer denke: Aber du kannst es noch besser.

Uff. I hate my brain. Na ja. Ich veröffentliche es trotzdem, weil es mir Freude macht und weil ich der festen Überzeugung bin, dass man sich auch nur durch Feedback verbessern kann. Ich habe in meinem direkten Umfeld nämlich niemanden, den ich meinen Scheiß hier Probe lesen lasse – weil es irgendwie cringe ist, auf non-armys zuzugehen und ihnen eine Fanfiction mit Smut unter die Nase zu halten. 💀

Also lasst Kommentare da höhö. ( ͡° ͜ʖ ͡°)_/¯

Und an jeden, der das liest: Liebe für dich ♡

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