❀ Kapitel 5 - Die erste Partie

„Alle Mann aufwachen! Das Essen ist da, es gibt Schinkenbrote und Schokocroissants!", durchbrach Leos Stimme die Stille der müden Wiese. Das Sonnenlicht fiel auf ihr Gesicht nieder und kitzelte sie vollständig wach. Die Morgendämmerung kündigte einen neuen Tag an. Einen Tag, der wie jeder andere war und sich doch unterschied. Die Umgebung war zweifellos schön. Und doch bevorzugte sie es nun viel mehr, jeden Morgen zu Hause zu erwachen.

Schnell verließen die Jüngsten ihre Schlafplätze, hopsten wie kleine Hasen zum Postkasten dahin. Anuk folgte ihrem Beispiel, denn auch sie bekam mit jeder Sekunde die Leere in ihrem Magen deutlicher zu spüren.

Der gelbe Kasten. Auch davon wurde ihr bereits erzählt. Es war dasselbe Prinzip wie das mit dem Zimmer. Gewisse „Obere" schickten ihnen jeden Tag morgens und abends Essen durch den gelben Kasten, als würde dies alles wiedergutmachen, was sie ihnen angetan hatten.

„Langsamer, es ist für jeden was da!", ermahnte Leo die drängelnden Jüngeren, die sich wie Kleinkinder aufführten. Sie schienen keine Geduld zu kennen, denn sie stürzten sich auf das Frühstück wie hungrige Hyänen auf ihre Beute.

Schon bald bekam auch Anuk ein Brot in die Hand gedrückt und als sie ein Stück davon kostete, war sie überwältigt davon, wie gut es schmeckte. Sie hatte selten gehungert, doch die Nahrung war übel gewesen, als sie erst auf der Zunge gelegen hatte, und das Menü hatte nicht gerade mit seiner Vielfältigkeit geglänzt. Es war immer genug da gewesen, um sich am Leben zu halten, aber zu wenig, um sich lebendig zu fühlen. Um wirklich einmal richtig satt zu sein.

„Shaik oder? Wie war die erste Nacht?" Sie zuckte, als Kjelds sanfte Stimme direkt neben ihr ertönte. Anuks Atem beschleunigte sich und sie spürte, wie ihre Wangen förmlich aufglühten. Im Mund wurde es trocken. Sie wollte im Moment nichts anderes, als so weit weg von ihm zu sein und gleichzeitig so nah wie möglich.

Sie hasste diese Wirkung, die Kjeld auf sie hatte. Sie hasste es, von etwas abhängig zu sein.

„Es war schon okay", erwiderte sie flüsternd. Er fuhr sich durch die schulterlangen Haare, die im Sonnenlicht besonders seidig glänzten. Wie betäubt erstarrte Anuk bei seiner Geste. Sie schluckte hart und erkannte im nächsten Moment, dass sie sich lieber in den Griff bekommen sollte. Doch ihr Kopf war wie leergefegt. Dort befand sich nur ein einziger Gedanke und nur ein Name.

„Hast du etwas vor für heute Nachmittag? Wir könnten etwas zusammen unternehmen." Die Frage brachte sie noch mehr aus der Fassung, als sie ohnehin schon war.

„Nein ... Ja, doch. Ich denke schon. Ich habe dich gestern Schach spielen sehen. Wie wäre es mit einer Partie?", schlug sie schnell vor, noch bevor ihr Verstand sie davon abhalten konnte.

Plötzlich wechselte sich die Stimmung. Kjelds Augen erfüllten sich mit eiserner Kälte. Sie wurden grau, wie zwei leblose Steine, ohne Gnade, ohne den Glanz, den sie noch vor Kurzem ausgestrahlt hatten. Diese Augen musterten genauestens ihre Gesichtszüge und schauten auf, nein, in ihre Augen hinein, als wären diese eine Tür in ihre Gedanken, in ihr armes Herz, das jeden Moment vor Schreck zu stoppen drohte. Dann lächelte er. Es war kein offenes Lächeln sowie letztes Mal, sondern eher ein Auslachen. Er zwinkerte ihr spielerisch zu, ehe er dann zur Rede kam.

„Und du meinst Schach spielen zu können? Gegen mich ankommen zu können?" Er schien amüsiert zu sein, während Anuks eigene Laune sich in eine tiefe Schlucht zurückzog. Sie hätte mit allem gerechnet, nur nicht mit dem. Kjeld nahm sie auf einmal nicht mehr ernst. Vielleicht kamen ihm keine guten Erinnerungen, wenn er an das Brettspiel dachte? Sie wusste wie es war, unerwartet und eiskalt von seinen eigenen Gedanken erwischt zu werden.

„Es ist schon gut, ich wollte eh noch ..."

„Nein, nein. Du könntest es versuchen. Man sieht es mir vielleicht nicht an, doch ich schaue gerne meinen Gegnern beim Scheitern zu. Du könntest es aber auch jetzt, nicht erst am Nachmittag hinter dich bringen", sagte er und führte sie zu seinem Heuhafen hin, zog sein Schachbrett zu sich, so schnell und heimlich, dass Anuk den Eindruck bekam, er hätte es aus der Luft gezaubert.

„Welche Farbe bevorzugst du?", fragte er, während er behutsam die Bauern auf ihren Feldern abstellte.

„Es ist mir gleich."

„Das ist die falsche Antwort." Überrascht sah sie zu ihm rüber. Er hingegen sah sie nicht an, musterte äußerst aufmerksam das Schachfeld. „Es sollte dir nicht gleich sein. Das Spiel beginnt bereits vor dem Spiel. Jedes Wort, das du sagst, trägt seine Bedeutung bei. Ich rate dir, immer Schwarz zu nehmen."

„Wieso denn nur? Was bringt es mir, als Zweite meinen Zug zu machen?"

„Wenn du keine Angst hast, deinem Gegner Vorrang zu geben, wird dieser denken, dass du weißt, was du tust. Während der ganzen Partie wird er sich damit quälen, bei jedem Zug zu erraten, was genau du vorhast, auch wenn deine Züge keine weitere Bedeutung tragen. Er wird nervös sein und sich nicht konzentrieren können. Das ist die Psyche eines jeden Menschen."

Anuk zitterte vor Empörung. Sie hatte so etwas nicht kommen sehen. Evans belehrte sie, so wie ihre Mutter sie belehrt hatte. So wie ihre großen Schwestern und die wenigen Freundinnen es immer taten. Sie hatte gehofft, mit Kjeld auf einer Augenhöhe sprechen zu dürfen, zumindest annähernd so zu sein, wie sie war und nicht wie andere sie haben wollten. Sie hatte unrecht gehabt.

„Woher kommst du? Erzähle mir was von dir!" Es klang eher wie ein Befehl, als eine Bitte. Doch Anuk zögerte. Sie hatte Angst, dass er sie wegen ihrer Armut nicht akzeptieren würde. Sie wollte ebenso wenig Mitleid. Sie wollte bloß so wie alle anderen sein. Dazugehören.

„Es gibt nicht viel zu erzählen", entgegnete sie und sah zu, wie Kjeld auf dem Brett ihren Läufer tötete. Dabei hatte das Spiel gerade erst seinen Anfang gefunden. Das Ende stand aber bereits vor der Tür. Anuk war bewusst, dass sie nie gegen Evans ankommen würde. Sie wurde von Geburt an dazu bestimmt, eine Verliererin zu sein.

„Jeder hier hat was zu erzählen, Shaik." Sein Lachen klang schwer, als es über seine Lippen purzelte.

„Woher willst du das wissen?" Sie zupfte nervös an dem Gras, auf dem sie gerade saßen. Das Gespräch wurde mit jeder Sekunde unangenehmer und sie wünschte sich im Moment nichts sehnlicher, als wegzukommen und nie wieder etwas mit Kjeld zu tun zu haben. Gleichzeitig strebte jedoch ihr Inneres danach, Evans näher kennenzulernen. Er war mysteriös und unvorhersehbar. Darin lag sein Charme.

„Ich beantworte dir die Frage, aber erst wenn du mir meine beantwortest. Du brauchst keine Angst zu haben, du kannst mir vertrauen. Also nun – Wo kommst du her?"

Ihr Verstand ließ im Druck ihrer Gefühle nach. Neugierde breitete sich immer weiter aus. Anuk fragte sich, wie er auf ihr kleines Geheimnis reagieren würde. Obendrein wollte sie kein verschrecktes Mädchen mehr sein, das eine Schraube locker hatte. Nun musste sie sich aber entscheiden. Hier und jetzt.

„Eine kleine Stadt – Cherrapunji, das ist in Indien. Ich lebe dort mit meiner Mutter, meinem Onkel und zwei älteren Schwestern. Wir sind nicht sonderlich reich, verstehst du?" Sie hielt sein Gesicht im Fokus, wartete geduldig auf eine Antwort, doch sie kam lange nicht. Erst, als sie vier weitere Züge gemacht hatten, erklang Kjelds Stimme erneut.

„Deswegen bist du nun also so verzagt. Ich habe es geahnt, wie du deine Züge setzt und deine Art zu reden spiegeln deinen Charakter wider, samt deiner Vergangenheit. Du würdest wenig Gewinn damit machen, nehme ich an. Hör her, ich gebe dir einen Tipp: Du verteidigst dich zu viel. Es bringt dir nichts, wenn du ständig mit deinem König davon läufst, ohne meine Figuren zu bestürmen. Warum gehst du denn nicht mit der Dame?" Sie wunderte sich, dass er fragte, denn es schien ihr selbstverständlich zu sein.

„Sie ist zu stark. Ich möchte sie nicht verlieren."

„Doch du verlierst das ganze Spiel, wenn du nichts riskierst. Behalte das immer im Kopf, Shaik. Und greife lieber mit der Dame an, immer."

Mit diesen Worten stellte er ihr Schachmatt. Für sie war dieses Spiel nichts anderes als purer Stress. Für Kjeld maximal eine unterhaltsame Angelegenheit. Es sah so aus, als hätte er nicht einmal mit seiner halben Kraft gespielt. Doch eins war ganz klar – Kjeld Evans kannte sich mit der Natur eines Menschen aus. Er wusste ganz genau, was in ihrem Kopf vorging, wovor sie Angst hatte. Er las sie wie ein offenes Buch. Es war ihr nun egal, wie merkwürdig er sich benahm, aber sie wollte zu ihm halten, denn sie konnte was von ihm lernen.

Aber sie verstand auch, dass sie vorsichtiger mit Evans sein sollte. Sie konnte ihn nicht einschätzen, nicht verstehen. Sie musste ihm deswegen klar und deutlich zu verstehen geben, was sie von ihm wollte.

„Ich habe dir deine Frage beantwortet", sagte sie, „jetzt bist du dran. Warum sind wir hier? Erzähle es mir. Ich will alles wissen." Mit Stolz erfüllt, schaute sie ihm in die Augen. Sie sah Evans lächeln.

„Du lernst schnell, Shaik. Ich schätze mal, wir könnten uns gut verstehen. Nun gut, du bekommst deine Antworten."

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