❀ Kapitel 2 - Das weiße Zimmer
2019, unbekannter Tag, unbekannter Ort
In solchen Augenblicken, wie diesem hier, in dem man meinte, auf der Grenze zwischen Leben und Tod zu stehen, nisteten sich zwangsläufig entscheidende Noemata und Überlegungen in den Kopf des Unglücklichen ein. Nur zu bizarr, dass es bei Anuk die Erinnerungen an das absurde Märchen ihrer durchgeknallten Grandma waren. Oh ja, nachdem sie im versperrten Raum ohne jegliche Fenster schweißgebadet aufgewacht war, dachte sie an ganz andere Dinge zurück, anstatt das Leben gedanklich nochmal durchzuleben.
„... Noch bis heute glaube ich fest daran, dass Dämonen existieren. Dass sie an einem sonnigen Tage kommen und sich an uns, Sterblichen, rächen werden", so hatte ihre Oma jede ihrer verrückten Geschichten beendet, unabhängig davon, wie sehr Anuks Mutter mit ihr nörgelte.
Sie versuchte, ihre Atemzüge zu zählen, doch wurde schon bei five unterbrochen.
„Du bist die Letzte und ... du wirst sterben." „Ein jeder von euch."
Sie zitterte am ganzen Körper. Das Blut gefror ihr in den Adern. Fieberhaft tasteten ihre Augen den Innenraum ab. Niemand. Sie eilte zu der schneeweißen Holztür, die der einzige Ausgang aus diesem seltsamen Ort zu sein schien, und zog gewaltsam an der Klinke. Aber alles umsonst. Sie bekam Angst und das nicht nur, weil sie sich in einem abgesperrten Zimmer aufhielt, wo es keine Fenster gab und es doch mit Licht gefühlt wurde. Unbewusst bemerkte sie, dass sie das Sportmagazin weiterhin in der Hand hielt. Aber sie schenkte dem keine Bedeutung: Das war ihr geringstes Problem.
„Wer ist hier? Ich fürchte mich nicht!" Sie erkannte ihre Stimme kaum wieder, so wehleidig wie sie klang. Ein Gelächter drang an ihre Ohren. Es hallte durch das schneeweiße Zimmer, schien nirgendwo und überall zu verweilen. Sie spürte das Aufstellen ihrer Nackenhaare. Die Trockenheit auf ihrer Zunge. Das Rasen der Pumpe im Inneren ihres Mechanismus. Sie hatte die Stimmen erkannt. Sie klangen wie Emir. Jede einzelne.
Anuk dachte daran, dass es möglicherweise sogar Sinn ergab. Emir war ein Dämon, so blöd es auch klingen mochte. Vielleicht war sie eben des Lebens nicht würdig, wenn sie zu seinem Opfer geworden war. Jedoch lebte sie noch und wusste nicht, ob sie glücklich darüber war oder eher einen gegensätzlichen Verlauf der Dinge bevorzugt hätte.
„Solch eine tolle Überraschung! Du hörst uns ja! Doch wenn wir schon dabei sind: Wen lügst du an? Du bist die Letzte, daher beginnen bald die Spiele. Ab da wird sich jeder von euch fürchten. Man nennt uns Drider, kleine Seherin, aber du brauchst nicht so zu zittern. Wir tun dir noch nichts."
Sie antwortete nichts darauf, aber auch, wenn sie die Wahrheit sagten, wusste sie, dass sie den Stimmen niemals trauen könnte. Sie hatte keine Ahnung, wer Drider waren, aber „Dämonen" passte ihrer Meinung nach mehr zu ihnen. Und sie würde nicht aufhören, sie so zu nennen.
Das vertraute Gefühl in ihrer Kehle tauchte plötzlich wieder auf. Sie hatte es in diesen dreizehn Jahren sehr gut kennenlernen können. Ihre Kehle stach und kratzte und sie bekam plötzlich keine Luft mehr, als hätte sie jemand am Hals gepackt und sie zu erwürgen versucht. So war es immer, wenn sie unbewusst gegen die Tränen ankämpfte. Für den Bruchteil einer Sekunde verringerte sich jedoch der Widerstand und ein Schleier aus Tränen legte sich über ihre Augen. Ihre Sicht verschwamm. An den Schläfen pochte es mehrmals. Dann war es vorüber.
Sie fühlte sich leichter, als wäre ihr eine unsichtbare Last von den Schultern genommen worden. Sie schaffte es sogar, wieder klar denken zu können und entschied von nun an, einen kühlen Kopf zu bewahren.
„Du denkst bestimmt, wir sind fiese Schurken, junge Seherin. Doch hier unterscheidet man nicht zwischen gut und böse. Nur sein eigenes Leben zählt. Hör her, wir wollen dir etwas anbieten, etwas, was uns beiden von Vorteil wäre."
„Ich weiß nicht einmal, mit wem ich es hier zu tun habe. Wie soll ich euch da vertrauen, geschweige denn ein Geschäft mit euch anfangen!", entgegnete sie tapfer, während sie den Raum musterte. Man musste keinen großen Wortschatz haben, um es beschreiben zu können. Alles weiß. Hell. Eine Tür. Keine Fenster.
Plötzlich bemerkte sie etwas an der hinteren Wand. Unbekannte Buchstaben formten sich zu Wörtern. Diese wurden zu einem Satz. Einem Satz, den sie gegen alle Gesetze der Natur lesen konnte, ohne zu verstehen wie.
Jeder Atemzug kann zu deinem letzten werden.
„Oh. Hast es wohl auch bemerkt. Dies haben unsere Herrscher geschrieben. Die Oberen, wie ihr sie nennt ... Wir haben keine Zeit mehr, gleich kommt jemand. Hast du es dir nicht anders überlegt?"
„Nein. Das ist meine endgültige Entscheidung." Sie sah sich wieder um. Hoffte insgeheim, zu finden, wo sich die Dämonen verbargen. Doch sie wurde nicht fündig. Sie besaß nicht den Hauch einer Ahnung, wo man sich in solch einem kleinen Raum vor ihren Adleraugen verstecken könnte.
„Wie es dir lieb ist, Seherin. Du verstehst wahrscheinlich noch nicht, dass die Entscheidung dein Leben kosten könnte. Aus diesem Grund würden wir später auf das Angebot zurückkommen. Noch hast du Zeit."
Sie zuckte zurück, als die Tür aus edlem Holz auf einmal aufgerissen wurde. Am Eingang stand ein Teenager. Das Erste, was Anuk auffiel, als sie ihn sah, war sein Gesichtsausdruck. Die vollen Lippen hielt er zu einer geraden Linie zusammengepresst und die buschigen Augenbrauen berührten sich fast am Nasenrücken. Darunter blinzelten unzufrieden die tiefschwarzen Augen, wobei eines fast gänzlich von dem seidigen hellen Haar verdeckt war. Sein gut gebauter Körper war verpackt in eine dunkle Lederjacke und eine einfache blaue Jeans.
„Wann werden die Oberen mir endlich einen Gefallen tun und aufhören, weitere Kinder herzuschicken?", stellte er die rhetorische Frage anstelle einer Begrüßung. Er sprach fließendes Englisch. „Nichts gegen dich, aber langsam macht mich das echt fertig. Wo kommst du überhaupt her?"
„Cherrapunji", piepste sie zurück. Im Moment fühlte sie sich ... bescheuert. Ja, genau dieses Wort empfand sie als treffend. Sie hatte zu viele Fragen. Und auf keine einzige eine Antwort.
„Aha", gab der Jugendliche unbeeindruckt von sich. Wahrscheinlich kannte er nicht einmal eine solche Stadt, war aber zu faul oder zu desinteressiert, um sich zu erkundigen.
„Dämonen haben mit mir gesprochen. Sie haben gesagt, wir würden bald sterben. Ich habe Angst." Auf die Antwort wartend, starrte sie gen Boden. Schon gleich bereute sie ihr Wagnis - der neue Bekannte schien nicht die richtige Person zu sein, der man einfach so sein Herz ausschütten konnte.
„Was redest du da? Du hilfst niemanden mit deinen Märchen", brummte er. Dennoch wurde sein Blick gleich etwas weicher. „Ich verstehe schon, dass du gerade verschreckt bist und doch ist es kein Grund, gleich Theater zu machen. Sag mir besser, wie du heißt."
Sie fand es nicht fair, Fragen zu stellen und auf keine selbst eine Antwort zu geben. Warum durfte sie nichts sagen, außer banal auf das Gefragte zu reagieren?
„Anuk Shaik, du?"
„Leo."
Sie zupfte an ihrer filzigen Jacke. Den Name des Jungen rollte sie mehrmals über die Zunge, als würde sie lange nachdenken, ob dieser ihr gefiel oder nicht.
„Komischer Name", beschloss sie endlich. Plötzlich sah sie Leo lächeln. Sie konnte sich kaum an jemanden erinnern, der sie je so fröhlich angesehen hatte, dabei kam Leo noch vor einer Minute ziemlich missgelaunt rüber.
„Und das sagst genau du."
Sie erkannte, dass es wohl der richtige Moment wäre, Leo etwas zu fragen. Etwas Wichtiges und Entscheidendes, doch was? Vielleicht, was genau der Satz an der Wand bedeutete? Oder ob er wusste, wer dieser Emir war, der nach ihrem Foto so nachdrücklich verlangt hatte? Auch würde es sie interessieren, wer genau die Oberen waren. Doch stattdessen kam ihr was ganz anderes über die Lippen.
„Leo. Wo sind wir hier?" Sie schaute ihm todernst in die Augen. Der Funke in seinem Blick erlosch, der Gesichtsausdruck verfinsterte sich abermals, als würde er sich an etwas Schreckliches erinnern, das er so sehr versucht hatte, zu verdrängen. Grob packte er sie am Arm, zerrte sie durch die hölzerne Zimmertür nach draußen, während sie erschrocken herum wirbelte. Nicht mehr lange. Sie erstarrte und er ließ sie frei.
„Willkommen in der perfekten Welt", sagte er wenig begeistert und blickte unter seinen langen Wimpern hervor feindselig auf die Landschaft, welche sich vor ihnen ausbreitete.
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