❀ Kapitel 14 - Die geheime Freundschaft

„Es ist vorbei. Ich werde mit dem nächsten Sonnenaufgang fortgehen müssen." Anuk hätte alles von sich erwartet, als sie die wenigen Worte aussprach, vor denen sie sich die letzten Tage so sehr gefürchtet hatte. Angst. Trauer. Verzweiflung. Und ja, sogar Wut.

Doch nichts dergleichen kam. Es waren Leere und Gleichgültigkeit. Sie hatte keine Angst vor der Einsamkeit, obwohl sie es leid war, Kjeld und Runa zu verlieren. Sie hatte keine Angst vor dem Tod, obwohl sie das Leben in der fremden Welt so sehr ins Herz geschlossen hatte. Trotz des Heimwehs. Trotz des Kummers. Trotz der Drider.

„Nein ... Das kann Leo einfach nicht bringen. Du hast viel für uns getan, das Armband allein reicht nicht aus, um eine Schuld beweisen zu können." Runa rutschte näher an sie heran und berührte leicht Anuks Unterarm. Die Haut der Schwarzhaarigen fühlte sich eiskalt auf ihrer an, doch ehe Anuk fragen konnte, ob das schüchterne Mädchen vielleicht fror, glitt sie schon eilig wieder von ihr weg, der Blick der dunklen Augen noch schwärzer vor Unruhe und Panik. Es versetzte einen Stich in Anuks Herz und die Erkenntnis, dass ihre neue Freundin die Freundschaft niemals offen zeigen würde, schmerzte noch mehr, als sie es eigentlich sollte.

Sie tröstete sich mit dem Gedanken, dass dieses Verhalten ganz normal war, auch für eine Freundin. Vielleicht hätte Anuk genauso gehandelt, wäre sie an Runas Stelle. Wäre sie keine Verräterin mehr, für die sie andere offenbar hielten. Zwar hatte Leo nichts über ihr Gespräch erzählt, nicht einmal ihren Namen in diesem Kontext hatte er erwähnt und doch musste es jemand anderes getan haben. Vielleicht war es sogar der zweite Seher, der Verräter, der sie belauscht hatte?
Doch sie konnte tun und lassen, was sie auch wollte: nun wussten alle davon. Die Nachricht hatte sich in wenigen Minuten verbreitet und das alles zusammengerechnet führte Anuk zu dem Gedanken, dass das Spiel gegen die Oberen bereits sein Ende gefunden hatte, ohne je einen Anfang gehabt zu haben.

„Offensichtlich hat es ausgereicht." Anuks Stimme blieb ohne jeglichen Sarkasmus. Ihr Blick glitt an sich herunter und blieb an dem Schmuckstück um ihr Handgelenk hängen. Das billige Material glänzte in der hellen Sonne wie echtes Gold, reflektierte das Licht und trank es gleichzeitig leer. Es war das Geschenk ihrer Mutter gewesen.

Die Leere in ihr füllte sich plötzlich mit Wut und Zorn. Wer von ihnen konnte nur so grausam sein und seine Schuld auf sie schieben? Wer von ihnen schlief und aß unter ihnen, während seine Seele so verdorben war wie ein verfaulter Apfel?

„Wenn alle anderen gleich aufwachen und wir frühstücken gehen ... wäre es in Ordnung, wenn ich etwas abseits von dir sitzen würde?" In Runas tiefen Augen funkelte an der Oberfläche etwas Bedauern. Tiefer weilte die Hoffnung. Die Hoffnung, dass Anuk ihre Frage bejahen würde.

Anuk nickte knapp, ignorierte das unwohle Gefühl in ihr, dass es falsch war und echte Freunde zu ihr halten würden. Wie Kjeld es tat. Die Angst, ihn zu verlieren, übertraf die Freude, dass er zurzeit noch immer für sie da war. Doch bald würde sie für immer fort sein.

„Es tut mir so unendlich leid." Runas zarte Wispern war getränkt mit Mitleid und Trauer. Anuk wusste, dass die letzten zwei Tage für die Schwarzhaarige genauso Fluch wie Segen gewesen waren. Runa hatte Anuk kennengelernt und in ihr ihre erste und einzige Freundin gefunden. Jedoch musste auch ihr bewusst sein, dass ihre Freundschaft nicht lange andauern würde. Dennoch brauchte Runa sie, wie Anuk Kjeld brauchte.

„Ist schon gut."

Sie schwiegen beide und beobachteten still, wie sich Licht Sekunde für Sekunde über den Horizont verteilte. Die Mädchen genossen diesen letzten Sonnenaufgang beisammen und die Stille zwischen ihnen sagte mehr aus, als jegliche Worte. Man könnte meinen, dass sie sich noch nicht lange genug kannten. Ihre Freundschaft war schließlich noch jung und zerbrechlich wie Glas. Und doch schätzte man eine einzige Freundin umso mehr, wenn man sonst keine hatte.

𓃦

Es überraschte Anuk, als Talita und ihre Freundinnen Mailin und Siti sie und Runa beim Frühstück zu sich riefen und dazu einluden, mit ihnen die frisch belegten Brötchen aus dem gelben Kasten zu verspeisen. Die Anspannung zwischen ihnen war mit jeder Faser des Körpers zu spüren und Anuk wurde das Gefühl nicht los, dass etwas nicht stimmte. Ihr wurde flau im Magen und der Appetit, der ohnehin fast gar nicht da gewesen war, ging vollständig unter den komischen Blicken der drei Mädchen.

Runa schien es ähnlich zu gehen. Sie starrte auf ihren vollen Teller und ihr Atem ging stockend, als ob die schwere Luft ihr diesen rauben würde. Und wieder machte sich Runa klein, wie ein Hase vor Wölfen es tun würde, in der letzten geringen Hoffnung, übersehen zu werden.

„Wie heißt du gleich nochmal? Anuk, oder?" Siti,das zwölfjährige malaysische Mädchen, wickelte sich spielerisch eine aschbraun farbene Haarsträhne um den Finger und lächelte ihr zu. Doch das Lächeln, das nun immer breiter wurde und gar ansteckend wirken konnte, erreichte ihre Augen nicht.

Anuk merkte das empörte Zittern ihres Körpers, die innere Stimme, die nun lauter, als es Anuk lieb war, um Vorsicht schrie.
Das junge Mädchen vor ihr wusste, wie sie hieß – alle kannten den Namen der Verräterin. Weshalb fragte sie also nach? Weshalb spielte sie mit ihrem Schmerz und ihrer Verzweiflung?
Doch die Antwort kam in ihr hoch, wie eine Lawine, die immer wieder aufs Neue, sie von den Füßen reißen und gänzlich in sich vergraben wollte: Sie sehnten sich nach Rache.

„Ich möchte mit dir reden, Anuk. Nur kurz, ja?" Siti sprang auf und deutete in die Richtung der Brombeerbüsche, die an der Grenze des Lagers und Waldes ihre Früchte zeugten. „Kommst du mit?"
Anuk zögerte, hoffte vergeblich, dass ihr die leichte Brise oder das Rauschen der Blätter einen Grund verraten würden, es nicht zu tun. Hoffte, dass sie nicht gleich diesem jungen Mädchen gegenüberstehen würde, ganz allein. Siti war erst zwölf, ja. Aber sie war ein böser Wolf, genauso wie alle anderen. Der böse Wolf konnte dem verlorenen Welpen die Schärfe der Wörter ins Fell versenken und Blut über diesen in Strömen fließen lassen - Ihre Seele abermals zum Bluten bringen. Immer und immer wieder.

Bevor Anuk der Malayeserin folgte, blickte sie zu Runa rüber, doch sie war still wie zuvor. Sie würde sie gehen lassen und es spielte keine Rolle, ob sie merkte, dass Anuk es nicht wollte. Aber sie würde sie nicht aufhalten. Natürlich nicht.

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top