❀ Kapitel 13 - Das elegante Armband

2019, unbekannter Tag, unbekannter Ort

Das Gras rauschte leise unter Talitas Füßen. Vorsichtig setzte sie einen Fuß vor dem anderen, hielt inne und bewegte sich dann unbemerkbar weiter. Sie fühlte sich wie eine edle Löwin auf der Jagd, mit dem Unterschied, dass sie Leo und Anuk belauschen wollte. Keine Angelegenheit, mit der sich eine wahre Königin die Zeit vertreiben würde. Nein, da war nichts außer ihrer majestätischen Haltung, was sie mit einer Löwin glich. Und absolut gar nichts, was sie edel machte.

„Aber warum willst du mit mir darüber reden? Was habe ich gemacht?", hörte sie die graue Maus fragen. Ihre Stimme passte zu ihrem Aussehen. Selbst von Weitem konnte man ihre zitternde Gestalt erkennen; ihr stark bebender Körper, gehüllt in eine hässliche Jacke, offenbarte ihre Aufregung. Stinknormales dunkelbraunes Haar, das ihr an der feuchten Stirn klebte, Augen in derselben Farbe, weit aufgerissen und beinah schon tränend. Alles verdammt langweilig.
Doch das mal ausgenommen: Wie konnte Anuk nur so leben, nicht ahnend, dass man jede ihrer Emotionen lesen konnte, ihre Energie wie Blut trinken, als wäre man ein Vampir oder selbst als eine undeutbare Mücke? Doch trotz dieser Tatsache hatte Talita sie falsch eingeschätzt. Anuk hatte ihnen die Karte gebracht. Ihren einzigen Anhaltspunkt. Die Inderin musste also mehr draufhaben, als es auf den ersten Blick aussah.

Doch was genau machte diese Maus zum Löwen? Ihre Feigheit zum Mut? Ein Nichts zu einem Held? Etwa Angst oder Heimweh? Das konnte sie sich beim besten Willen nicht vorstellen!
Und dieser Name erst – Anuk. So nannte man höchstens Hunde in Talitas Land! Nein, irgendwas stimmt mit diesem Mädchen wahrlich nicht.

„Leo, bleib stehen. Wir sind sehr weit gegangen. Uns wird niemand hören." Talita schnaubte. Wenn sie nur wüsste.
Das Gebüsch verbarg Talita vor unerwünschten Blicken. Man hatte ihr oft schon gesagt, dass sie sich gut verstecken konnte, dass ihre ruhige Art manchmal dazu beitrug, dass man sie übersah. Aber das machte nichts, denn das Wichtigste war, dass sie jeden sehen konnte. Niemanden hatte es je gegeben, der dem scharfen Blick der giftgrünen Augen entgehen konnte und es gab niemanden, den sie nicht mit Leichtigkeit durchschauen konnte. Niemanden. Außer Kjeld und Anuk. Die zwei Durchgeknallten, wie sie sie immer nannte.

„Hör zu, Leo, die Karte führt nicht zum Schlüssel. Sie ist also gar nicht weiter wichtig." Mit einem spöttischen Lachen auf den Lippen schien Leo etwas Sarkastisches erwidern zu wollen, doch Anuk ließ ihn nicht. „Ich hatte eine Vision. Ich weiß das." Und dann begann sie zu reden. Sie sprach lange und durcheinander, die Worte flossen aus ihr heraus, als hätten sie sich die ganzen Jahre über in ihr gesammelt und erst jetzt alle auf einmal herausgekommen. Talita kam nicht hinterher, sie verstand nicht worüber Anuk sprach, doch es klang überzeugend und ehrlich. Dennoch schien Leo ihr kein Wort zu glauben. Er verzog eine Grimasse und würdigte ihrer langen Erklärung keine Chance.

„Du meinst also, dass die Karte unwichtig ist? Glaubst du wirklich, dass ich dir nach allem glaube? Nachdem du die Karte gestohlen hast?"

Talita erstarrte. Der Gedanke daran, dass die Karte weg sein musste, ließ ihr eine eisige Gänsehaut über den Rücken jagen. Die Härchen auf ihren Oberarmen stellten sich unangenehm auf und die Pupillen weiteten sich, als würde sie bereits ihrem Tod gegenüberstehen und zu seinen leeren Augen aufschauen.
Und Anuk sollte sie gestohlen haben? Anuk, die ihnen die Karte selbst gebracht hatte? Das ergab keinen Sinn. Warum sollte sie das klauen, was schon ohnehin ihr gehören könnte?

Sie fuhr zusammen, unerwünschte Gedanken krochen in ihren Kopf und ließen sie abermals schwer schlucken. Sie erinnerten sie daran, dass Talita schwach und unsicher war und dass es nur eine Maske war, hinter der sie sich versteckte. Es war nicht sie allein, der es so ging. Viele waren in Wirklichkeit bloß verlorene Welpen, die sich hinter breiten Grinsen oder frechen Kommentaren versteckten, während der Schmerz in ihrem Innern sich langsam in die Seele fraß.
Talita bewunderte ehrliche Menschen wie die junge Inderin. Sie waren zwar nicht furchtlos, doch tapfer genug, sich nicht unter unzähligen Fassaden zu verstecken, was viele ausnutzten. Und auch Talita. So sehr ihr das auch leid tat, aber so war es nun mal und so würde es auf ewig bleiben: fressen oder gefressen werden. Das war Leben. Und gegen dieses kämpfte man üblicherweise nicht - wenn Leben ging, dann kam nun einmal der Tod.

Nebenbei bekam Talita mit, wie Anuk herumwirbelte. Ihre Augen erreichten die Größe von denen eines verschreckten Rehs und auch die Emotionen darin waren die eines Beutetieres. Sag doch was, widersprich! Spuck es ihm ins Gesicht, nun trau dich schon!, schoss es ihr durch den Kopf und nur mit Mühe unterdrückte sie die peinliche innere Stimme.

Doch da stimmte etwas nicht. Leo hob misstrauisch seine linke Braue und stieß empört die Luft aus. Talita wusste, dass er es immer so tat, wenn etwas nicht passte. Sie standen seitlich zu ihr und die Büsche verdarben ihr das Sichtfeld, doch sie konnte sich das aufgebrachte Aufleuchten in seinen dunklen Augen bildlich vorstellen. Es schien, sein Erscheinungsbild würde nicht hierher passen. Der erste Buchstabe brachte zwar seine Folgen mit sich, doch auf den ersten Blick war der Himmel noch immer klar und die Sonne hell. Auch Anuk oder jemand anderes von ihnen – den Vierzehn – wirkte kaum harmonisch mit der perfekten Welt. Nein, es war umgekehrt. Nicht sie passten nicht zu der fröhlichen Welt, sondern die Welt passte nicht zu ihnen. Sie waren Menschen mit eigenen Ecken und Kanten. Mit ihren eigenen Emotionen, wenn man diese auch trinken konnte wie Blut, als wäre man ein Vampir, oder wenn sie in einem brodelten und die Augen gefährlich auffunkeln ließ: sie waren Menschen und sie hatten das Recht dazu. Die Welt hingegen trug den falschen Schein.

„Du schweigst, weil du weißt, dass ich recht habe, oder? Weil du weißt, dass ich dich wie ein Rätsel gelöst habe. Du warst leise, weil du Vertrauen gewinnen wolltest, stimmt das so? Spionin der Oberen ... hm ... vielleicht hatte ja Talita recht gehabt? Nun sag mir, stimmt das?" Seine Stimme wurde mit jeder Sekunde rauer und tiefer. Ein bedrohlicher Unterton hörte man darin, sodass sogar Talita kurz den Atem anhalten musste. Sie nahm die Furcht wahr, die Anuk verspürte, als wäre es ihre eigene.

„Ich ... Ich war das nicht ... Ich ..." Anuk stolperte rückwärts, als sich ihr Knöchel an einer Baumwurzel verfing und sie kreischend auf die Knie fiel. Tränen bahnten sich aus ihren Augen und niemand von ihnen vermochte zu sagen, ob sie vom Schmerz oder von Kränkung gebärt wurden, vermutlich nicht einmal Anuk selbst. „Ich war das doch nicht! Ich würde so etwas nie im Leben ... nie ..." Sie schluchzte. „Ich wollte doch helfen ... Wir verfolgen das gleiche Ziel. Es gibt einen Verräter und der ..."

„Bist du!", warf ihr Leo gereizt vor und schmiss ihr etwas hin. Talita musste ihre Augen ordentlich spannen, um zu erkennen, was das war. Doch mit etwas Zeit schaffte sie es. Es war ein Armband, das sie lange davor auf Anuks Handgelenk registriert gehabt hatte. Ein einfaches, günstiges Schmuckstück aus mehreren miteinander verwobenen Fäden, dick und elegant zugleich.

„Ich habe es dort gefunden, wo noch heute Nacht die Karte gelegen hatte." Leo machte den Eindruck, dass er jederzeit auf sie hinabstürzen würde und Talita konnte es ihm schon in der nächsten Sekunde nicht verübeln. Ein Blick auf Anuk genügte und schon wusste sie ganz sicher, dass das Armband Anuks war. Die Inderin starrte ungläubig auf ihr Eigentum und nur noch einzelne Tränen rannten über ihre Wangen, tropften auf die Erde, die die Gaben sofort entgegennahm.

Und wenn Talita noch irgendwo Hoffnungen übrig hatte, dann waren sie verflogen, als Anuk seine letzten Worte leise bestätigte. „Es ist meines. Meines, aber es war nicht ich. Jemand musste es mir gestohlen haben, während ich schlief."

Doch Talita hörte nicht mehr zu, denn Anuk konnte nichts mehr rechtfertigen. Wie hatte sie ihr nur trauen können? Wie konnte es sein, dass die einzige Person, auf die sie alle ihre Hoffnungen gelegt hatten, sie so im Stich lassen würde? Wie konnte das sein? Fressen oder gefressen werden, kam ihr wieder in den Sinn. Ach ja, so war es also. Hieß es denn, wenn man gründlich überlegte, dass Anuk richtig gehandelt hatte und es Talitas Fehler gewesen war? Dass sie, die scharfäugige Allwissende, etwas übersehen hatte?

„Ich gebe dir drei Tage, Anuk. Wenn du uns in der Zeit nicht die Karte wiedergibst, dann wirst du uns bei der Morgenröte verlassen." Leo ging leise. Der Sonnenaufgang legte sich über seine Gestalt und es dauerte keinen Wimpernschlag, bis sie endgültig in der Ferne verblasste.
Zwei tiefe Seufzer. Ein Knirschen der Zähne. Und auch Talita verließ den Platz, ließ die weinende Anuk hinter ihrem Rücken, obwohl etwas in ihr schrie, dass das alles vielleicht nicht stimmte. Doch Talita unterdrückte dieses Etwas. Es war keine Zeit übrig für weitere Fehler. Keine Zeit für Wölfe in Schafspelzen.

Talita zitterte, doch nicht vor Kälte. Es war die Unwissenheit, die Furcht, die Wut ...
Das alles traf sie tief ins Herz. Normalerweise konnte sie es unter Kontrolle halten. Doch hier ging es um ihr Leben.

Wie würde sie sich nur zurückhalten können, alles für sich behalten, wenn Anuk zurück ins Lager kam – nachdem sie sich beruhigt hatte? Wie würde es weitergehen? Würde sie, die Scharfäugige, ihre Beherrschung tatsächlich verlieren, sobald sie wieder Anuks unschuldiges Gesicht sah? Dieses ekelige, stinknormale Gesicht?

Talita spürte, wie sich ihre Gefühle eins nach dem anderen in ihre Knochen bis ins Mark einschlichen. Sie hatte keine Ahnung, wie es weitergehen sollte. Obwohl sie die Allwissende war – hatte sie keine Ahnung.

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