❀ Kapitel 12 - Die schrillen Schreie
„Seherin!"
Und aufs Neue, der Ruf. Nicht freudig und mild, sondern streng, laut, herrisch. Ein wenig weiter vor ihr stand er wieder, gelassen und ruhig, während in der echten Welt da draußen alles in den Bach unterging.
„Warum rufst du mich? Ist es dir denn nicht leid, was uns bevorsteht?" Ein unwohles Kribbeln kroch ihren Rücken hoch, als sie an den baldigen Aufbruch dachte. „Komm später wieder, wenn wir den Schlüssel gefunden haben, mithilfe der Karte!"
Sie waren wieder im Wald. Dasselbe Szenario.
Der rote Fuchs gab sich Zeit mit seiner Antwort, er näherte sich ihr mit der Eleganz einer Katze, sodass man das Gefühl nicht loswurde, er würde über der Erde schweben - ohne, dass seine Pfoten diese berührten.
„Und das soll der Dank dafür sein, dass ich dich gerade aus deinem, hm, höchst interessanten Traum gerissen habe? Schließlich war es das erste Mal, dass ich jemanden etwas zugute getan habe - ohne dazu verpflichtet zu sein."
Anuk kaufte es ihm mit Leichtigkeit ab. Sie sah nicht wirklich einen treuen Helfer in ihm, nur ein Tier, das ab und an aus Langeweile Gutes tat. Ihm musste egal sein, was in der realen Welt vorging, denn er schien irgendwo anders zu leben. In seiner eigenen, friedlichen Welt.
Der Fuchs gähnte genüsslich, was ihre Gedanken nur bestätigte.
„Übrigens: Wo du dir denn schon so sicher bist, dass die Karte zum Schlüssel führt. Ich muss dich leider enttäuschen!"
Für einen Moment wurde es still. Nicht einmal ein Herzklopfen durchbrach die zerbrechliche Stille: Das von Anuk, weil ihr Herz für den Augenblick stehengeblieben war; das des listigen Hüters - weil er keines hatte.
Vor Schreck gaben ihre Beine nach und sie landete schmerzhaft auf dem Moos, das den steinharten Waldboden jedoch kein bisschen weicher werden ließ. Der Schmerz kümmerte sie dennoch beinah gar nicht, es war nichts im Vergleich zu dem, was auf sie zukam. „Aber ... Nein, das kann nicht sein. Du lügst!" Sie hielt inne, als das rote Wesen argwöhnisch grinste. Sicherlich genoss es ihre Verzweiflung; genoss das Wissen, über das es mehr verfügte.
„Doch wenn die Karte nicht zu dem Schlüssel führt, wo führt sie denn dann hin? Und wo soll dann der Schlüssel sein?" Ihre Stimme ging wie ein Hofhund von der Kette. Sie schrie jämmerlich und sie glaubte, dass ihr Schrei etwas in den Augen des arroganten Fuchses erweckte.
„Hör auf damit, hör auf zu schreien!" Ein Knurren verließ seine Kehle, gefolgt von seinen nächsten Worten. „Ich kann dir leider diese Fragen nicht beantworten. Wo der Schlüssel ist, darf nur euer anderer Seher wissen. Wenn ihr euch zusammentut, habt ihr noch eine Chance."
„Ein anderer Seher?" Ungläubig starrte sie auf seine spitze Schnauze, in seine Augen voller Weisheit, in denen sie nun ganz deutlich Schmerz aufleuchten sah. „Es gibt tatsächlich einen zweiten Seher? Ich dachte, wir wären eine Ausnahme, da keiner außer mir etwas offenbart hat ... Warum hast du's mir nicht vorher erzählt? Und wer ist er?"
Ihr wurde klar: Wenn er ihr heute nichts beantworten würde, explodierte ihr Kopf vor Fragen, noch bevor die übrigen Buchstaben auftauchten.
„Der zweite Seher hat die andere Seite gewählt. Die Drider sind genauso schlau wie ich, doch sie nutzen jede Möglichkeit aus, um die Seher für sich zu gewinnen." Er seufzte und schien sich zu überlegen, ob er Weiteres verraten sollte. „Sie haben ihm etwas versprochen. Etwas, das er nicht in der Lage war, abzulehnen. Und jetzt ist er unter euch, der Driders Diener, tut alles, um euch zu schaden und daran zu hindern, endlich den Schlüssel zu finden."
So war das also. Aber was dann? Was sollte sie tun, wenn der Verräter unter ihnen ihre ganze Mühe zunichtemachte? Es waren dreizehn. Und niemanden davon kannte sie gut genug.
„Da muss doch noch irgendwo eine Lösung sein! Auch wenn du mir die Visionen, die für den anderen Seher gedacht sind, nicht zeigen darfst, muss es doch irgendwo trotzdem einen Ausweg geben, es muss doch ..."
„Nein. Ohne den zweiten Seher seid ihr verloren." Er sah überall hin: In den pastellblauen Himmel, auf den saftig-grünen Moosteppich unter ihnen, zu dem lustigen Eichhörnchen, das einen Baumstab hochkrabbelte, nur nicht in ihre Augen, um die Trauer zu verbergen, die seine eigenen widerspiegelten. Er schien zu wissen, was der Satz in ihr auslösen würde. Und seine Worte trafen sie wie ein Pfeil; noch viel schmerzhafter, als es ein echter je hätte tun können.
„Du hast doch gestern das Tagebuch gefunden, habe ich recht? Dann wird es Zeit, dass ich dir zeige, was damals passiert ist."
Noch ehe sie etwas entgegnen konnte, fing die Welt an, sich um sie sich zu drehen und sich aus einzelnen Puzzleteilen in ein komplett anderes Bild zu formen.
Nur noch vereinzelt sah man Bäume in den Himmel ragen, als wären sie vom Rudel ausgestoßene Hunde, die auf der Suche nach einem Zuhause umherirrten, zurückgelassen und vergessen. Verlorene Welpen.
Sie wuchsen niedrig, die nackten Äste zum Himmel gehoben, als würden sie den Allmächtigen um ein Erbarmen bitten. Doch der Himmel in diesem Teil der Welt war gräulich; zornig und grollend rollte Donner über ihn hinweg und erinnerte sie an den vertrauten Donner ihrer Heimat. Im Gegensatz zu Cherrapunji war es hier jedoch stickig und die Luft schwer vor der bedrückenden Stimmung, die über die Landschaft herrschte.
Auch die Erde war kahl, nicht einmal einen einsamen Grashalm konnte Anuk auf ihrer rissigen Struktur erkennen. Es war ein verlassener Ort. Verflucht und vergessen.
„Grausam eintönig, findest du nicht?" Der Fuchs tauchte neben ihr auf, undurchschaubar und gefühllos wie zuvor. Er reichte ihr knapp über die Knie, doch ihr schien, als würde er dank seiner Weisheit viel größer als sie sein. Viel wichtiger. „Wir sind im Süden von der perfekten Welt, jenseits der blühenden Wälder. Jenseits der Lügen."
Jenseits der Lügen? Bedeutete dies, so sah die Wahrheit aus? So schrecklich grau? Sie ertappte sich bei dem Gedanken, dass sie solch eine Wahrheit gar nicht wollte. Dass ihr farbenfrohe Lügen viel lieber wären.
„Ist es eine Vision?"
„Nein. Bloß meine Erinnerung. Ich bin der Hüter. Ich bin unsichtbar, doch kann alles sehen." Also kannst du uns heimlich beobachten, wann auch immer du willst?, wollte sie fragen, doch ein lauter Ruf stahl ihr die Möglichkeit.
„Daiki, nicht! Du weiß doch gar nicht, was dort alles lauern könnte. Es ist schließlich eine andere Welt!" Ein Mädchen lief einem barfüßigen Jungen hinterher, nahe an ihnen vorbei und ohne sie zu bemerken. Ihr seidiges Haar war zu einem hohen Zopf zusammengebunden und wehte beim Laufen wie eine einsame Fahne. Der Junge blieb mehrere Meter von ihren entfernt stehen, so auch das Mädchen. Anuk konnte kaum ihre Rücken erkennen, doch die Stimmen drangen lauter an ihre Ohren als es ihr lieb war.
„Aber was soll ich machen, Milena? Gestern ist schon das sechste Kind gekommen, das seiner Heimat einfach entrissen wurde. Soll ich warten? Nichts tun? Zusehen, wie sie weinen und den Verstand verlieren?" Der Junge, Daiki, musste kaum älter als zwölf Jahre sein. Er war klein und doch war seine Ausdrucksweise die eines Erwachsenen. „Diese Stimmen ... Drider haben sie sich genannt, sie machen mich verrückt. Verstehst du denn nicht? Ich will nach Hause! Vielleicht ist es dort im Nebel! Vielleicht fehlt mir nur noch der letzte Schritt. Vielleicht ..."
Das Mädchen schüttelte energisch den Kopf, als würde sie den Gedanken, dass das alles stimmen könnte, verdrängen wollen. „Doch was, wenn nicht? Sieh dir an, wie grau hier alles ist. Es ist nicht gut ... Ich habe kein gutes Gefühl."
Anuk hatte es ebenfalls nicht. Sie sprintete auf die Jugendlichen zu und stellte sich vor Daiki. „Tue das nicht! Bitte tue das nicht! Die anderen brauchen dich doch." Doch das Gesicht des Jungen zeigte keine Reaktion. Jetzt, wo sie direkt vor ihm stand, konnte sie seine Augen sehen. Groß, haselnussbraun und unnatürlich erwachsen. Sie waren mandelförmig, wie die des Asiaten, welcher der Kumpel ihres Onkels war und über welchen ihr dieser viel erzählt hatte. Doch der Junge sah an ihr vorbei, als würde sie ein Geist sein, nicht er. Daiki sagte etwas, leise und entschuldigend; Milena hinter ihr erwiderte irgendwas. Aber Anuk war nicht in der Lage, es zu verstehen. Sie wusste bereits, was als nächstes kommen würde.
Eine einsame Träne kullerte ihr die Wange hinunter, während der Junge, den sie so kurzfristig schon ins Herz geschlossen hatte, im grauen Nebel irgendwo auf ihrer Linken verschwand. Und wieder der Tagebucheintrag in ihrem Kopf.
„Er wollte nach einem Ausgang suchen und hat stattdessen den Tod gefunden."
Sie standen da noch lang, fünf Minuten oder zehn und nichts passierte. Milena war bereits gegangen, der Horizont hatte ihre zitternde Gestalt verschluckt.
Die Stille war wieder aufgebrochen, doch so schnell wie sie gekommen war, war sie wieder fort. Ein schriller Schrei, kurz und doch abschreckend, hallte aus der Ferne. Es schrie der Junge mit den großen Augen.
Anuk war wie erstarrt, lauschte den Worten des Fuchses, während die Tränen ihr immer schneller über das Kinn tropften.
„Diese Schreie ... Sie verfolgen mich in meinen Erinnerungen, jagen mich, bis ich nicht mehr kann. Sie sind ein Teil von der perfekten Welt, diese Schreie, und es waren noch so viel mehr. Ich habe sie alle sterben hören. Wie dreckig und unnötig ihre Tode doch waren! Aber das ist nun mal die Wahrheit jenseits der Lügen. Daiki ist gestorben, weil er nicht warten wollte. Er war temperamentvoll, doch genau das, sein Temperament, hat ihn umgebracht und die anderen mit in den Tod gezogen. Ohne den zweiten Seher ist man verloren. Doch euer Seher ist noch nicht tot. Du musst ihn finden und ihm seine Augen öffnen." Seine Stimme war getränkt mit Trauer und Schmerz. Er machte sich nicht mehr die Mühe, das Offensichtliche zu verbergen. Er war nicht so hinterhältig und fies, wie er aussah. Er war ein Hüter, gefangen in einer Welt voller Lügen, wo unschuldige Kinder ständig ihre Leben ließen. Nein, auch er war nicht perfekt. Doch in ihm steckte etwas Warmes und Menschliches. In ihm steckte etwas Echtes.
„Kehre zurück, Seherin und sehe, dass du es gebacken bekommst. Ich habe keine Lust die nächsten Vierzehn sterben zu wissen. Wenn du mich brauchst, wirst du ahnen, wo du mich findest."
Sie schreckte aus ihrer Vision auf. Tränen und Schweißtröpfchen rannten noch immer ihre Wangen hinunter. Sie schluchzte und vergrub ihr Gesicht in den Händen, um sich von der realen Welt für einen kurzen Augenblick abzugrenzen. Sie konnte einfach nicht mehr. Sie wollte nicht.
„Gut, dass du endlich wach bist, Anuk. Wir müssen reden." Es war Leo, der vor ihr stand. Wut und Empörung weilten in seinem dunklen Blick. „Die Karte ist weg."
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𝐀𝐧𝐦𝐞𝐫𝐤𝐮𝐧𝐠:
𝐃𝐚 𝐦𝐢𝐫 𝐝𝐚𝐬 𝐊𝐚𝐩𝐢𝐭𝐞𝐥 𝐬𝐞𝐡𝐫 𝐬𝐜𝐡𝐰𝐞𝐫𝐠𝐞𝐟𝐚𝐥𝐥𝐞𝐧 𝐢𝐬𝐭, 𝐰𝐮̈𝐫𝐝𝐞 𝐢𝐜𝐡 𝐞𝐮𝐜𝐡 𝐠𝐞𝐫𝐧𝐞 𝐞𝐢𝐧 𝐩𝐚𝐚𝐫 𝐅𝐫𝐚𝐠𝐞𝐧 𝐬𝐭𝐞𝐥𝐥𝐞𝐧, 𝐮𝐦 𝐡𝐞𝐫𝐚𝐮𝐬𝐳𝐮𝐟𝐢𝐧𝐝𝐞𝐧, 𝐨𝐛 𝐞𝐬 𝐛𝐞𝐢 𝐋𝐞𝐬𝐞𝐫𝐧 𝐬𝐨 𝐚𝐧𝐤𝐨𝐦𝐦𝐭, 𝐰𝐢𝐞 𝐞𝐬 𝐬𝐨𝐥𝐥𝐭𝐞.
- 𝐖𝐚𝐫 𝐝𝐢𝐞 𝐄𝐫𝐢𝐧𝐧𝐞𝐫𝐮𝐧𝐠 𝐝𝐞𝐬 𝐅𝐮𝐜𝐡𝐬𝐞𝐬 𝐯𝐞𝐫𝐬𝐭𝐚̈𝐧𝐝𝐥𝐢𝐜𝐡, 𝐧𝐢𝐜𝐡𝐭 𝐯𝐞𝐫𝐰𝐢𝐫𝐫𝐞𝐧𝐝?
- 𝐕𝐞𝐫𝐬𝐭𝐞𝐡𝐭 𝐦𝐚𝐧 𝐠𝐞𝐧𝐞𝐫𝐞𝐥𝐥 𝐛𝐢𝐬 𝐡𝐢𝐞𝐫𝐡𝐢𝐧 𝐚𝐥𝐥𝐞𝐬 𝐨𝐝𝐞𝐫 𝐢𝐬𝐭 𝐦𝐚𝐧 𝐝𝐮𝐫𝐜𝐡𝐞𝐢𝐧𝐚𝐧𝐝𝐞𝐫?
- 𝐈𝐬𝐭 𝐝𝐚𝐬 𝐊𝐚𝐩𝐢𝐭𝐞𝐥 𝐳𝐮 𝐥𝐚𝐧𝐠?
- 𝐈𝐬𝐭 𝐝𝐢𝐞 𝐤𝐮𝐫𝐬𝐢𝐯𝐞 𝐒𝐜𝐡𝐫𝐢𝐟𝐭 𝐛𝐞𝐢 𝐝𝐞𝐧 𝐕𝐢𝐬𝐢𝐨𝐧𝐞𝐧 𝐧𝐞𝐫𝐯𝐢𝐠?
- 𝐒𝐨𝐧𝐬𝐭𝐢𝐠𝐞𝐬?
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