❀ Kapitel 10 - Der gefürchtete Beginn

„Verstehe ich das richtig? Wir suchen einen Baum?" Kjeld wirkte geübt darin, seine Emotionen im Zaum zu halten, dennoch brach seine Ausdauer unter dem Druck des leeren Bauchs und der wachsenden Erschöpfung. „Und das, weil es dir ein Fuchs gesagt hat, in einem Traum?" Anuk betete darum, dass er nicht umkehrte, sondern ihr weiterhin blind vertraute. Es gab keinen anderen Weg, als still zu hoffen, denn sie hatte weder Beweise, noch die Sicherheit, dass alles, was geschehen war, nicht bloß ihrer kranken Fantasie entsprang. Sie zweifelte an sich noch mehr, als es Evans tat.

„Kein Traum. Es war eine Vision."

Sie stolperten mühsam vorwärts und es schien, als würde es ihnen der Wald so schwer wie möglich machen wollen: Die Sonne brannte trotz der Pracht der Kronen erbarmungslos auf ihre Häupter nieder, Äste wuchsen wie aus dem Nichts auf dem Weg und kratzten an ihrer Haut, der Wind pustete Blätter ins Gesicht und verdarb ihnen das Blickfeld. Sie waren unerwünschte Gäste in diesem Wald, nichts weiter als Gegenstände, die hier gar nicht hingehörten.

„Wir sind fast da. Es ist irgendwo in der Nähe", flüsterte sie so erschrocken, als würde ihnen der Baum weglaufen, sobald er sie hörte. Die Lichtung erstreckte sich über mehrere Meter, die Strahlen verliehen der gewöhnlichen Wiese etwas sonderbar Magisches. Etwas, wonach sich Anuks junge Seele seit jeher gesehnt hatte. Nach Glück. Nach Stille. Nach Frieden. Es war ein Ort, wo das Licht die Erde küsste.

„Es ist irgendwo hier ..." Ihre Worte erstarben allmählich, als sie ihn sah. Der Baum glich dem, den sie in ihrer Vision gesehen hatte. Er streckte seine Zweige nach oben, als würde er die Sonne für sich behaupten wollen; sie den anderen Pflanzen nehmen. Er wuchs höher und breiter als andere und seine Rinde hatte einen viel dunkleren Ton, eine besonders grobe und raue Struktur.

„Ist er das?" Kjeld hatte ihren Blick, der auf dem Gehölz ruhte, bemerkt. Das Misstrauen, das er gegen sie hegte, musste verflogen sein, als er wahrnahm, wie ernst ihr die Sache lag und mit welchem verheimlichten Kummer sie die himmelhohe Pflanze betrachtete.

„Ja", entgegnete sie knapp, ehe sie perplex die Luft ausstieß und sich auf den Weg zum Baum machte. In lautlosen Schritten folgte Kjeld ihr wie ein dunkler Schatten. Anuk wusste, dass er ihr den Moment gönnte. Er fühlte, wie angespannt sie ihren Körper hielt, fühlte, wie wichtig ihr der Baum war, obwohl niemand von ihnen den Grund dafür wusste. Keiner von beiden hatte Ahnung, wie sie zueinander standen. Sie waren weniger als Freunde, doch mehr als bloß Unglücksgefährte. Sie steckten irgendwo mittendrin. Es war ein ewiger und komplizierter Kampf. Zwischen Neutralität und Sympathie, gemischt mit einer Prise Misstrauen.

„Hier ist sogar auch ein Baumloch ... Schau mal, da ist etwas drinnen." Ihre sanfte Hand glitt vorsichtig ins Innern der tiefen Öffnung. Sie betastete rasch die Rinde, ehe Anuk zögerlich etwas herauszog.

„Ein Buch!" Kjeld tauchte binnen Sekunden neben ihr auf und starrte den Gegenstand mit großen Augen an. „Aber ... Wie kann das sein?" Sein Blick wanderte auf dem azurblauen Cover hin und her, berührte den fingerdünnen Einband. Gespannt und aufmerksam.

„Ich weiß es nicht", hauchte sie gegen das Buch, um welches sie schützend die Hände hielt. Sie klammerte sich an den Fund, als wäre es ihre letzte Hoffnung. Als würde es mit ihnen allen vorbei sein, sobald sie ihn losließ.

„Öffne es doch. Worauf wartest du?"

Anuk nickte. Ihre Finger zitterten verräterisch, als sie die erste Seite aufschlug. Das Papier leuchtete makellos weiß, obwohl es zusammen mit dem Jahr, das unterstrichen ganz oben geschrieben stand, ganz absurd wirkte.

1992, Milena Piotrowskia; unbekanntes Datum: unbekannte Uhrzeit; unbekannter Ort

„Es ist ein Tagebuch!", rief sie aus voller Kehle. Sie hatte bisher noch gar nicht Notiz genommen, dass sie in Kjelds Gegenwart lauter und selbstbewusster zu sprechen begann. Ihr primäres Ziel schien sie zu verbinden und sie gleichwertig zu machen. Sie fühlte sich in Kjelds Nähe mehr gebraucht. Sie fühlte sich das erste Mal menschlich.

„Lies weiter, Shaik. Das, was da steht – es hört sich nicht gut an." Seine zusammengekniffene Augenbrauen offenbarten seine Konzentration; seine zwei dunkelblauen Diamanten darunter waren hingegen nur schwer lesbar. Komisches Licht leuchtete dann und wann auf, mehr war darin so gut wie nichts zu erkennen. Es waren zwei der tiefsten Seen der Welt. Und keiner wusste, was sie verbargen.
Anuk lenkte ihren Blick von Kjeld auf das Buch. Sie wollte auf keinen Fall in zwei Ozeanen festsitzen wie ein Fisch im Netz. Sie wollte nicht untergehen. Es war einfach der falsche Zeitpunkt.

Wenn ihr das liest, dann heißt es eins: Wir sind alle längst tot. Doch wir sind nicht die Ersten, auch nicht die Letzten, die ihr Leben an diesem Ort lassen werden. Ob wohl irgendwann jemand überleben wird? Irgendjemand? Keiner kann das beantworten.

Anuk runzelte die Stirn, trennte ihren Blick von dem englischen Gekritzel auf dem schneeweißen, von Zeit unabhängigen Papier. Das, was da stand ... Es war doch wohl nicht ernst gemeint!?

Auf Wunsch des geheimnisvollen Fuchses wurde alles, was wir bisher von dieser Welt erfahren durften, für zukünftige Vierzehn niedergeschrieben. Ob man etwas damit anfangen kann? Das weiß ich genauso wenig wie alles andere – leider.
Viel zu sagen habe ich ohnehin nicht. Ja, ich bin Seherin, doch der Fuchs spricht in Rätseln und diese vermag kaum jemand zu lösen.
Ihr müsst zusammenhalten. Egal wie unterschiedlich ihr seid, allein kommt niemand weiter. Ich weiß noch, es war wie gestern (vielleicht war es das sogar? Ich habe keine Antwort darauf), Daiki, unser zweiter Seher, ist ins Nebel jenseits des blühenden Waldes gegangen und nie wieder hergekommen. Er wollte nach einem Ausgang suchen und hat stattdessen den Tod gefunden.
Drider ... Sie sind überall. Gebt Acht. Sie sind schlau, wie der Fuchs, nur listig wie die Schlange. Sie können aussehen, wie sie mögen, dürfen tun was sie wollen, ohne den Preis dafür zu zahlen. Was kann schlimmer sein? Nur die Oberen. Ich könnte sie in Stücke reißen, wenn ich sie nur einmal zu Gesicht bekommen würde! Doch sie verkriechen sich wie Ratten in ihren Löchern. Diese Feiglinge!
Hütet eure zwei Seher, hütet die Karte und jeden Hinweis. Denn wenn die drei Buchstaben der Inschrift auf der Wand stehen, gibt es für euch keine Rettung mehr.

Ungläubig blieb Anuks Blick zum zigsten Mal auf Kjeld hängen. Sie hatte den Tagebucheintrag nun mindestens drei Mal durchgelesen, doch ihr Gefährte schwieg noch immer. „Hast du irgendetwas von dem verstanden?"

„Wenn ich ehrlich bin – Nein." Er seufzte tief und fasste sich schläfrig an der Stirn. „Es ist viel zu viel auf einmal, ich komme gar nicht hinterher. Irgendwas von deinem Fuchs, irgendeiner Inschrift und unserem Tod, der früher oder später zuschlagen wird. Die Zusammenhänge sind überhaupt nicht klar. Schau mal nach, steht da noch etwas?"

Anuk blätterte und blätterte, doch zur Sicht kam bloß das Weiß der leeren Seiten. Konnte es wirklich sein, dass das alles war? Eindeutig zu wenig und ungenau, um etwas Sinnvolles damit anfangen zu können.

Dort findest du die Karte und noch etwas, was dir als Hilfe dienen könnte, erinnerte sie sich an die Worte des Rotwesens. Wenn er das unnötige Tagebuch als Hinweis meinte, wo befand sich dann die Karte?
Schnell wurde sie fündig. Etwa nur ein paar Zentimeter tiefer im Baumloch war die ganze Zeit über das gelbliche Papier verschimmelt. Es machte einen Gegensatz zum Tagebuch, denn es war feucht und man hatte Mühe, etwas darauf erkennen zu können.

„Ah, die Karte hast du also schon gefunden, flinke Seherin! Glaubst du denn auch nicht, dass es der perfekte Anlass fürs Beginn des Spiels ist?", erklang es von überall her. Anuk fuhr herum, ihre Muskeln verkrampft vor Angespanntheit. „Dann sollen die Spiele von nun an beginnen!"

Anuk legte die angejahrte Karte schweigsam ins Tagebuch und klappte dieses zu. Sie hatte weder Mut noch die Lust übrig, länger auf der Lichtung zu bleiben. Ein Unbehagen drang in ihr Inneres ein, ihre Haut fing an mehreren Stellen an zu jucken. Sie schlug ihr Gewand enger um ihren Körper, ehe sie sich voller Beklemmung Kjeld zuwandte.

„Hast du es gehört? Die Drider haben gesprochen. Wir müssen zurück, ich habe ein schlechtes Gefühl bei der ganzen Sache." Ohne die Antwort abzuwarten sprintete Anuk los, getrieben vom erwähnten Gefühl.

Wortlos folgte ihr Kjeld, er hatte vermutlich kaum noch die Kraft, über ihr Verhalten nachzugrübeln. Wahrscheinlich vertraute er ihr einfach blind, sowie sie es dachte, denn er musste ihre Besorgnis spüren. Ihre Furcht in den Augen sehen. Ihre Angst  in der klaren Luft riechen. Anuk spürte, dass er der Einzige von allen war, der ihr uneigennützig helfen wollte.

𓃦

Wenn der Weg hin sich wie ein Monat angefühlt hatte, musste der Weg zurück wohl nicht kürzer als ein Jahrhundert andauern. Wenngleich jeder Anuk misstraute, fühlte sie sich ärgerlicherweise für alle Kinder verantwortlich. Sie wusste einfach mehr als andere und sah es als ihre Aufgabe, die Jugendlichen aus der gefälschten Welt herauszuholen. Lebend.

Sie drückte ihre Hände fester um das Tagebuch, trotz ihrer stark zitternden Finger. Ungewollt stoppte sie dann vor dem weißen Zimmer. Kjeld blieb neben ihr stehen, blickte sie fragend an, doch das Verständnis für ihr Handeln kam, als er zu der sonst so sauberen Wand hinüberblickte.

Der Buchstabe „D" stand dort in Schwarz mannshoch eingraviert.

„Was soll das heißen?", murmelte Anuk ins Leere, doch wusste die Antwort, schon bevor sie die Frage zu Ende gesprochen hatte.

Der letzte Satz aus dem mysteriösen Tagebuch.

Denn wenn die drei Buchstaben der Inschrift auf der Wand stehen, gibt es für euch keine Rettung mehr ...

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