007. Eine Erinnerung
02. Septemer 1998
Am nächsten Morgen wachte Harry mit einem brummendem Schädel auf. Die ganze Nacht hatten ihn Nevilles ohrenbetäubendes Schnarchen und Rons unruhiges Gezappel wachgehalten... zusätzlich zu den Albträumen. Als Harry seine Rückreise nach Hogwarts angetreten war, war er sich der möglichen Konsequenzen bewusst gewesen, dass ihn die Schuld und die Vergangenheit in seinen Träumen wieder einholen könnte und doch hatte er nicht in solch einem Ausmaß damit gerechnet. Die Stimmen, die nach ihm riefen, ihn anflehten - er hatte sie im Stich gelassen. Sie alle.
Die anderen Jungs lagen noch in ihren Betten, in ihrem alten Gryffindorschlafsaal, schlaftrunken, ohne sich zu rühren oder einen Mucks von sich zu geben, doch Harry wusste, dass zumindest Ron nicht mehr schlief. Seine Atmung ging viel zu unregelmäßig, als dass er noch friedlich seinen Träumen nachhing, doch sollte er nichts sagen, würde Harry ebenfalls schweigen und die Ruhe genießen.
Zögerlich richtete er sich auf und griff nach der Armbanduhr auf seinem Nachttisch. Er stöhnte.
"Es ist kurz nach sechs", ertönte Rons Stimme.
"Seid ihr auch schon wach?", fragte Neville.
"Ja", riefen Dean und Seamus im Chor.
Kurze Stille, dann fing Ron an leise zu lachen, Dean und Neville stiegen mit ein, Seamus grinste und Harry schloss lächelnd die Augen und ließ sich zurück in die Kissen sinken. Genau das hatte ihm so sehr gefehlt. Einfach jung und unbeschwert sein, doch wie immer hielt es nicht lange an...
"Wann erwartet uns McGonagall in ihrem Büro?", fragte Neville, sein rundliches Gesicht noch ganz zerknautscht von den Kissen, in denen er bis eben gemütlich geruht hatte.
"Vor dem Frühstück", erwiderte Ron, "also gegen sieben."
"Na dann haben wir keine Zeit zu verlieren, denn ob ihr es glaubt oder nicht, ich habe Hunger", sagte Dean ein Grinsen huschte über sein Gesicht, als er sich als erster auf den Weg ins Badezimmer machte.
"Dean!", rief Seamus aufgebracht. "Ich muss aufs Klo!"
Doch Dean hatte die Tür schon abgeschlossen, nur noch sein Lachen war von der anderen Seite zu hören, in das die anderen Jungen gerne mit einstiegen.
**
"Was glaubt ihr, möchte McGonagall uns sagen?", fragte Hermine von einem Fuß auf den anderen wippend, ihr Blick stets zwischen ihren Freunden hin und her huschend.
"Sie wird dich rauswerfen", gluckste Harry, woraufhin Hermine ihm mit ihrer Buchtasche eins über die Rübe zog, dass ihm die Brille von der Nase rutschte.
"Hey!"
Ron fing die Brille auf, ein Grinsen huschte über sein Gesicht. Lachend duckte sich der junge Potter, als seine beste Freundin ein zweites Mal mit der Buchtasche ausholte.
"Das ist nicht witzig, Harry", gab Hermine beleidigt von sich, doch auch ihre Mundwinkel zuckten verräterisch nach oben.
Die Schüler diskutierten allesamt vor dem Büro der Schulleiterin, was sie wohl für Worte an sie richten könnte, ob es Aufgaben oder Regeln waren, ob sie von der Schule verwiesen oder frühzeitig den Abschluss machen könnten. Die Einfälle wurden immer abstruser, bis das Gespräch schließlich abrupt verstummte, als zwei Slytherins die Treppen zu ihnen hinauf stiegen.
Harrys Blick war fest auf Draco Malfoy gerichtet, der seinem versuchte aus dem Weg zu gehen. Neben ihm trudelte Blaise Zabini ein, einer der wenigen Freunde, die dem Blonden noch geblieben waren.
Unwohl verlagerte Draco Malfoy das Gewicht von einem auf den anderen Fuß, nicht so recht wissend, was und ob er überhaupt etwas sagen sollte. Blaise rümpfte bei den verängstigten Blicken einiger Schüler die Nase und zog Draco mit ihm ein paar Meter von den anderen fort. Harry sah unwohl zwischen seinen Freunden und dem Malfoy hin und her.
Gerade als das Gespräch so langsam wieder an Fahrt aufnehmen wollte, hüpfte der Wasserspeier zur Seite, ohne das auch nur einer die Anstalten gemacht hatte, das Passwort zu erraten.
"McGonagall ist wohl bereit für uns", sagte Harry und stieg als erster auf die Treppen, die sich bei der Berührung in Bewegung setzten und ihn nach oben trugen, direkt vor die Tür zum Schulleiterbüro.
Und so war es auch. McGonagall erwartete die Schüler des siebten Jahres schon herzlich. Das Büro der Schulleiterin hatte sich seit Dumbledore und Snape stark verändert. Wo früher verspielte Instrumente gestanden hatten, schienen nun Bücher zu sein. Generell fühlte Harry sich mehr wie in einer Bibliothek als in einem Büro. Es ähnelte McGonagalls früherem Büro und doch, war es so anders, so seltsam nicht den alten weißbärtigen Mann hinter dem Schreibtisch sitzen zu sehen, der hinter seinen halbmondförmigen Brillengläsern mit blitzenden blauen Augen und einem seichten Lächeln auf den Lippen zu ihnen aufsah. Doch Dumbledore war nicht mehr da, zurückgeblieben war nur sein Geist, eine Erinnerung und das Portrait, das ihn hin und wieder zeigte, wie er in einem schönen roten Samtsessel Socken strickte.
"Es freut mich, dass sie sich alle hier eingefunden haben", eröffnete McGonagall und trat um den Schreibtisch herum.
Harry bemerkte nun zum ersten Mal, dass das Denkarium offen da stand, als hätte McGonagall gerade noch in Erinnerungen geschwelgt, als sie bemerkt hatte, wie spät es wirklich war. Harry hätte zu gerne gewusst, an welche Zeit sie sich zurückerinnern wollte, doch er verwarf den Gedanken, als sie fortfuhr.
"Mir ist bewusst, dass es für einige von ihnen nicht leicht war, wieder zurückzukommen, um ihre UTZs nachzuholen. Aufgrund der Aktivitäten im letzten Jahr und den verlorenen Unterrichtsstunden, hat das Ministerium zusammen mit meiner Beratung beschlossen, Förderkurse anzubieten, die sie entweder besuchen oder auch mit leiten können, um den jüngeren Schülern, die ebenfalls viel versäumt haben, unter die Arme zu greifen."
McGonagall lächelte ihnen zu.
"Die Listen für Interessenten werden ab morgen in ihren Gemeinschaftsräumen ausgehängt, jedoch hielt ich es für unabdingbar, sie davon selbst in Kenntnis zu setzen und auch darum zu bitten, es sich zu überlegen. Einige von Ihnen haben, soweit ich weiß, ein Talent als Lehrer zu fungieren."
Ihr Blick huschte zu Harry. Die Schüler begannen untereinander wieder zu tuscheln, als durch eines der großen Fenster ein silberner Pfau stürzte, ein Patronus. Ein Ravenclaw Mädchen keuchte kurz auf, als sie dachte das Fenster würde zerspringen, natürlich geschah jedoch nichts dergleichen.
Der Pfau, der Patronus von Horace Slughorn, wie Harry erkannte, kam vor Professor McGonagall zum Halt, und sprach: Minerva, es gab eine Explosion in der großen Halle, nachdem sich zwei Schüler duellierten. Ihre Dienste sind von Nöten.
Der Pfau verpuffte in dicken Nebelschwaden, die sich im Rauch der Kerzen und Fackeln verliefen.
"Kein Tag in Hogwarts und schon fliegt wieder etwas in die Luft", murmelte Hermine.
"Diesmal sind wir wenigstens nicht Schuld", lachte Ron.
McGonagall wirkte weniger erleichtert bei dem Gedanken, sie schüttelte erbost den Kopf und hechtete auf die Tür zu. "Gehen Sie, ich muss mich darum kümmern." Und sie verschwand, ohne noch einen Blick zurückzuwerfen. Hätte sie doch nur gewartet...
Die meisten waren der Schulleiterin schon nachgestiegen, da stolperte Neville über seinen Umhang und stieß Malfoy gegen den Rücken, so dass dieser beinahe gegen das nächstgelegene Bücherregal lief.
"Pass doch auf, Longbottom!", schnarrte er wütend.
" 'tschuldige, Malfoy, bin gestolpert", erwiderte Neville mit erhobenen Händen, doch da mischte sich Blaise Zabini ein und zog seinen Zauberstab.
"Was ein Wunder. Longbottom stolpert, pass gefälligst auf, wo du hintrittst!"
"Hey Leute, jetzt reicht es aber", sagte Hermine.
"Du hast mir gar nichts zu sagen!", rief Blaise und schob sich zwischen Draco und Hermine.
Draco rollte mit den Augen und verschränkte die Arme, ihm schien die ganze Situation unfassbar unangenehm zu sein.
Ron ergriff nun das Wort: "Rede nicht so mit ihr!"
Harry hatte den Zauberstab gezogen, sollte er eingreifen müssen, doch es sah nicht danach aus, das Zabini etwas unternehmen würde, er war wütend, wütend wie viele der Slytherins, denn auch er stand mittlerweile ziemlich mittellos da. Seine Mutter war ähnlich wie Dracos Vater der schwarzen Magie bezichtigt worden und mit vielen anderen Todessern nach Azkaban verfrachtet worden. Irgendwie taten sie Harry leid, doch sollten sie sich weiter so aufführen...
"Es reicht, verdammt!", sagte er. "Wir sind doch nicht immer noch so unreif und duellieren uns bei jeder Gelegenheit..."
"So wie dein ach-so-toller Vater, Potter?", zischte Malfoy.
"Wie bitte?!"
"Draco, wir hauen ab", lenkte Zabini nun ein, als er den düsteren Ausdruck in Harrys Augen bemerkte, doch der blonde Slytherin schien gerade erst warm zu werden.
"Der Mobber, der er war - ich weiß so einiges Potter, stell dir vor."
"Mein Vater war ein großer Mann!"
Aber seine Stimme klang nicht so überzeugt wie sie das noch vor einigen Jahren gewesen wäre... er wusste nun so einiges über seinen Vater, über die Dinge, die er getan hatte und nicht selten fragte er sich, ob Menschen wie Severus Snape nicht Recht daran getan hatten, ihn zu hassen und so sehr er sich für den Gedanken schämte, wusste er einfach nicht, wie James Potter es geschafft hatte, Lily Evans davon zu überzeugen, ihn zu lieben, wo sie ihn doch - trotz Sirius' Worten - scheinbar gehasst hatte. Lupin und Sirius waren James' beste Freunde gewesen, sicher hätten sie nichts schlechtes von James gedacht, doch Snape hatte vielleicht eine andere Sicht auf die Dinge... vielleicht, war an all dem ja etwas dran.
Er senkte den Blick, er hasste sich dafür, so zu denken, doch wie sollte er anders, wenn all das, was er je von James Potter gesehen hatte, Anschläge auf einen unschuldigen Schüler gewesen waren? Ob er schuld daran war, dass Snape die Seite gewechselt hatte? Er und die anderen Rumtreiber?
"Ja sicher!", lachte Draco, "Ein großer Versager ohne Job!"
"Draco-", murmelte Zabini, doch Harry hatte den Arm gehoben, mit vor Wut zitternder Hand zielte er mit der Spitze seines Zauberstabs direkt auf Malfoys Kehle.
"Harry, das ist es nicht-", setzte Ron an, doch das Grinsen auf Dracos Lippen, dieses provozierende Grinsen war genug und Harry schritt weiter auf Malfoy zu.
"Ich verschwinde", gab Blaise von sich und huschte durch die Tür.
"Na Potter, Angst?"
"Träum weiter-" und er schoss den ersten Zauber ab, rote Funken stoben aus der Spitze seines Zauberstabs und verfehlten Draco nur um Zentimeter, als dieser zur Seite sprang.
"Ist das alles, Potter?"
"Harry!", riefen Hermine, Ron und Neville, doch es half nichts.
Draco schoss einen lilanen Blitz auf Harry, den dieser mit einem Protego abwehrte und zurückschleuderte, jedoch traf er nicht Draco, sondern schoss an ihm vorbei und traf das Denkarium.
Ein lauter Knall, ein Blitz, und ein Surren erfüllte die Luft.
"Verflucht, Malfoy, was hast du getan!", schrie Hermine wütend und verängstigt.
Harry rannte auf das Denkarium zu, flüssiges Silber ergoss sich in einer Art Sturzflut über den Boden, immer und immer mehr. Erinnerungsfetzen leuchteten auf, hier und da und dicker Nebel hüllte das ganze Büro ein.
"Verdammt, was ist das?", fragte Neville, seine Stimme zitterte.
"Keine Ahnung", erwiderten Harry und Draco gleichzeitig.
Harry hatte das Gefühl, sich aufzulösen. Es war seltsam und beängstigend zugleich. Er betrachtete erstaunt seine Finger, wie einer nach dem anderen mit der Umgebung verschmolz, er stand schon bis zu den Knöcheln in dem silber schimmernden Wasser.
"Wir müssen hier raus!" Hermines Stimme erklang von ganz weit weg, wurde immer mehr zu einem Rauschen, zu einem leisen Fiepen, eine Erinnerung...
Neville griff nach dem Türknauf, doch seine halb unsichtbaren Finger glitten einfach nur hindurch.
Es gab kein Entkommen und so sehr das Harry alles beunruhigen müsste, so beruhigend war das Gefühl, das ihn erfüllte. Eine Art Erleichterung von all seinen Problemen und der Realität.
Er löste sich vollständig auf.
Und dann war es vorbei.
Er stolperte nach vorne und flog beinahe über den Schreibtisch der Schulleiterin.
"Boah, voll krass", sagte Ron hinter ihm und sah sich um. Das Büro sah anders aus, und doch so unfassbar vertraut.
Kleine metallene Geräte erfüllten den Raum, wo vorher noch die Bücherregale gestanden hatten.
Doch Harry bemerkte zuerst den feuerroten Vogel, der auf seinem alten Platz saß und leise krächzte, es war bald wieder Zeit in Flammen aufzugehen.
"Fawkes?", fragte Harry.
"Hat McGonagall eben gerade renoviert oder was war das?", fragte Neville nervös.
Draco rollte mit den Augen und verschwand, nun da er den Türgriff wieder berühren konnte, ohne ein weiteres Wort aus dem Büro. So hoffte er, würde er nicht für die Zerstörung des Denkariums zur Verantwortung gezogen werden, doch Harry stellte mit Erstaunen fest, dass das Denkarium an seinem alten Platz stand, völlig unversehrt.
Hermine verlagerte das Gewicht unwohl von einem auf das andere Bein. In ihrem Kopf schienen gerade mehrere Prozesse gleichzeitig abzulaufen, jede Möglichkeit rotierte durch ihren Kopf, jede plausible Erklärung wurde auf ihre Wahrscheinlichkeit geprüft... doch wie es aussah, war sie mit dem Ergebnis nicht zufrieden.
Ihr Blick traf Harrys, um zu sehen, ob er etwas ähnliches wie sie gedacht hatte, doch dieser war einfach nur verwirrt und zog seinen Stundenplan aus seiner Umhangtasche hervor.
"Was glaubt ihr, was hier passiert ist?", fragte Ron.
"Das finden wir schon noch raus, spätestens wenn McGonagall uns Nachsitzen aufbrummt, weil wir ihr Büro umdekoriert haben", lachte Harry, doch es klang unehrlich, so als wüsste er selbst gerne, was das alles zu bedeuten hatte.
Mit der Wahrheit hätten sie wohl nie gerechnet...
"Hey, die erste Stunde fängt gleich an", brach Neville die Stille, als sie alle stumm hintereinander aus dem Büro stiefelten. Hermine warf bei jedem Schritt einen verwirrten Blick zurück, irgendwas passte ihr nicht und sie konnte nicht genau einordnen, was es war.
"Die erste Stunde ist Verwandlung bei unserem neuen Hauslehrer mit den Ravenclaws."
"Na dann lernen wir mal unseren neuen Lehrer kennen", sagte Ron.
Er schnappte sich Hermines Hand und legte den anderen Arm um Harrys Schultern.
Sie bogen in den Verwandlungskorridor ein und erblickten einen großen Mann mit dunkelbraunen Haaren und einem ziemlich monströsen Schnurrbart.
"Das muss er sein", murmelte Ron.
Der Mann blickte auf, als er sie kommen hörte, er zog die Augenbrauen zusammen, bis sein Blick auf Harry landete.
"Potter mach hin! Wo sind deine kleinen Freunde? Erster Tag und schon zu spät, Albus und Minerva haben mich gewarnt..."
Ron runzelte die Stirn und Hermine sah erschrocken auf.
Der junge Potter schluckte, und wollte gerade dem Lehrer ins Klassenzimmer folgen, als ihn eine Stimme erstarren ließ.
"Oi, Krone, ich glaube Moony macht dieses Jahr nicht unsere Hausaufgaben - wie sollen wir das nur überleben?!"
Harry blickte den Gang hinab und sah vier Jungen um die Ecke biegen. Ihm blieb das Herz stehen.
Hermine wusste nun, was sie so verstörte, doch...
Wie war das nur möglich?
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