Kapitel 2

Tatsächlich benötigte mein Gehirn nur drei Sekunden, um sich zwischen der Wut und dem Unwohlsein zu entscheiden. Es entschied sich für die Wut. Ich schnappte mir den Ball, und spürte eine neue Entschlossenheit in mir, als ich ihn mit beiden Händen festhielt und kurz das gegnerische Spielfeld nach einem geeigneten Opfer absuchte. Henry konnte ich nicht direkt abwerfen, er würde meinen Ball vermutlich fangen. Bei ihm musste ich auf den richtigen Moment warten.

Also brauchte ich jemanden, der nicht so fokussiert auf dieses Spiel war.

Aileen Cooper wurde zu meinem Ziel, und sobald der Ball ihre Beine traf, machte ich mich auf den Weg in mein Feld. Ash und Noa wünschten mir noch viel Spaß und Glück.

›Glückstreffer‹, hörte ich Henrys Stimme in meinem Kopf.

Meya sah sichtlich erleichtert aus, als ich über die Linie trat und somit wieder im Spiel war.

Sobald ich das Spielfeld betrat, kam es mir vor, als würde mich jeder anstarren, als würden sie von mir erwarten, dass mich der nächste Ball schon wieder treffen würde und ich dann wieder draußen wäre. Besonders Henry erwartete das von mir, er sah mich mehr als eine lästige Fliege, anstatt eines ernstzunehmenden Gegner.  Mit Sicherheit war ich nicht so gut wie all die sportbesessen Fast-Erwachsenen um mich herum, aber wenigstens konnte ich mit Bällen umgehen. Außerdem kam mir meine liebe zum Völkerball vielleicht zugute. Und ich hatte nicht das Bedürfnis, mich dramatisch in jede Flugbahn des Balls zu werfen, nur um diesen noch irgendwie zu erwischen.

Vielleicht, ganz vielleicht hatte ich doch eine Chance, zumindest diesem überheblichen Idioten auf der anderen Seite zu zeigen, dass ich mehr wahr als meine Körperform.

Der Ball, den ich gerade noch benutzt hatte, um mich wieder ins Spiel einzuwerfen, war mittlerweile im Aus des gegnerischen Teams gelandet, wo er von links nach rechts geworfen wurde, und Meya und mich dazu brachte, immer hin und her zu rennen, um nicht getroffen zu werden. Meya machte wirklich einen guten Job und ich bewunderte ihr Durchhaltevermögen.

Jemand brüllte vom gegnerischen Spielfeld aus, dass die beiden Typen, die sich hier gegenseitig die Bälle zuwarfen, endlich angreifen sollten. Auf Worte folgten Taten, und schon flog ein Ball in Meyas Richtung, den sie nicht kommen sehen konnte. Der Ball traf ihren Rücken. Meya war draußen.

Ich fühlte mich, als stünde ich mitten auf einer Bühne, die Scheinwerfer grell auf mich gerichtet und niemandem anders hier oben. Mein Magen verknotete sich und mir brach der kalte Schweiß aus. Was hatte ich mir nur hierbei gedacht? Wieso um Himmels Willen hatte ich mich wieder ins Spiel geworfen. Ich hätte einfach draußen bleiben können und alles wäre gut gewesen. Aber nein, stattdessen hatte ich mich ja unbedingt von Henry, dem einzigen Mitschüler, den ich aus tiefstem Herzen abgrundtief hasste, provozieren lassen müssen. Und das ohne dass er es überhaupt mitbekam. Am liebsten würde ich mir für meine Dummheit in den Hintern beißen.

Die Bälle flogen wieder hin und her und genau wie sie rannte ich von der einen zur anderen Seite. In meinem Kopf ging ich die einzelnen Optionen durch. Ich könnte mich treffen lassen, dann käme der König rein und wir würden höchstwahrscheinlich verlieren. Ich könnte wieder nach draußen und mich wieder in eine Ecke verkriechen. Allerdings würden wir dann verlieren, und das verletzte meinen Völkerballstolz. Vermutlich war ich die einzige Person auf diesem Planeten, die diesen Stolz besaß.

Ich keuchte angestrengt auf, als ich wieder das rechte Ende des Feld erreichte. Die zweite Option wäre, dass ich hier bleiben und vielleicht dafür sorgen könnte, dass mein Team wenigstens mit Würde untergehen würde. Mein Völkerballstolz wäre nicht so verletzt wie bei der ersten Option und außerdem könnte ich Henry so vielleicht ein bisschen nerven – ein Argument, das fast mehr wog als mein Völkerballstolz. Dagegen sprach, dass ich vollkommen allein hier war, und so alle mich anstarrten, anstatt sich um ihren eigenen Mist zu kümmern. Schon jetzt spürte ich ihre wertenden Blicke.

Ich fühlte mich unwohl und aufgeregt zugleich. Einerseits liebte ich Völkerball, andererseits hasste ich öffentliche Aufmerksamkeit.

Ich wünschte, ich könnte wenigstens für eine Sekunde einfach still stehen und überlegen, die Argumente ganz sorgfältig abwägen und mich dann entscheiden.

›So viel also zur großartigen Völkerball-Fettie. Sie kann doch nichts außer hin und her rennen. Und selbst dafür scheint sie zu unsportlich zu sein. Sie vergeudet doch nur ihre Energie und unsere Zeit.‹

Die Entscheidung war gefallen. Ich blieb.

Einfach nur, um Henry zu nerven.

Gute zehn Minuten später war ich vollkommen aus der Puste. Dennoch verspürte ich Euphorie in mir, gepaart mit Adrenalin. Innerhalb von zehn Minuten hatte ich es geschafft, Henry so weit zu nerven, dass er mittlerweile verbissen darum kämpfte, alle Bälle noch vor seinen Teamkollegen abzufangen und sie mir entgegen zu schleudern.

Ich hatte es derweil geschafft, einige Bälle zu fangen, und diese an meine Teamkollegen ins Aus zu werfen. Demnach zählte unsere Hälfte nun wieder ganze sechs Mitspieler. So schnell konnte sich das Blatt wenden.

Vielleicht hatten Noa und Ash rech gehabt mit ihrer Voraussicht, dass wir noch gewinnen konnten. Wenn das Spiel weiter so lief, war das gar nicht mal so unrealistisch.

Ein weiterer Ball sauste abgefeuert von Henry, in meine Richtung, direkt auf idealer Fanghöhe. Kaum hatte ich den Ball in meinen Händen, warf ich ihn direkt zurück auf ihn.

Man merkte mittlerweile, dass auch Henry nicht unendliche Kraft- und Ausdauerkapazitäten besaß. Noch dazu musste er nicht nur meinen Bällen hin und wieder ausweichen, sondern auch denen, die ich erfolgreich ins Aus zu meinen Mitspielern beförderte. Henry schwitzte genauso wie ich – wobei er vermutlich wesentlich besser dabei aussah als ich – und seine Wangen waren rot, während bei mir vermutlich das ganze Gesicht wie eine Tomate aussah.

Meine Haare hatten sich zur Genüge aus dem Zopf befreit, und standen wild von meinem Kopf ab. Vermutlich sah ich aus wie irgendein Horror-Clown. Ein dicker Horror-Clown.

Mein Ball hatte auf Henrys Füße gezielt, die er allerdings nicht traf, da Henry leider geschickt auswich. Blödmann.

Wie es anders nicht zu erwarten gewesen wäre, hob Henry den Ball auf, holte aus, und zielte dabei direkt auf meine Oberschenkel. Er traf sie ebenfalls nicht.

›Verdammt! Warum hat Fettie so viel Glück? Irgendwie muss ich sie ja mal treffen!‹

Ich musste zugeben, dass das Spaß machte. Es machte Spaß, ich zu reizen. So oft war er es, der austeilte und mich und meine Erscheinung komplett in den Dreck zog. Vielleicht war das meine Art, ihn ein bisschen leiden zu lassen. Indem ich ihn beim Völkerball nervte.

Ich glaube nicht, dass Henrys Empfindung wirklich Wut war. Dafür spielten wir vermutlich zu kurz in dieser Konstellation und außerdem bedeutete ich diesem Idioten vermutlich zu wenig, als dass er wirklich wütend auf mich werden würde. Viel mehr sah er mich vielleicht als lästiges Insekt. Ein hartnäckiges, lästiges Insekt.

Henrys Gedanken stachelten mich weiter an. Ich würde lügen, wenn ich sagen würde, dass mir diese Situation nicht bis zu einem gewissen Grad gefallen würde. Es machte Spaß, Henrys Nerven zu reizen. Viel zu viel Spaß.

Dieses Mal traf mein Ball Henry sogar, und er musste das Feld verlassen. Meinen Triumph darüber konnte man nicht in Worte fassen. Ich, Hannah Kinnley hatte Henry Macintosh aus dem Spiel geworfen. Den Typ, der sich für den besten Spieler hier überhaupt hielt. Innerlich führte ich einen Freudentanz auf.

Henrys Miene war unbezahlbar, als er realisierte, dass er raus war – und vor allem wer ihn rausgeworfen hatte. Verschiedene Emotionen spiegelten sich in seinem erhitzten Gesicht. Hauptsächlich konnte ich Wut erkennen. Aber auch Unglauben darüber, dass das gerade passiert war, und ich ihn getroffen hatte. Gleichzeitig konnte ich auch augenblicklich eine ebenfalls von Wut getriebene Entschlossenheit ausmachen.

Henry würde in den nächsten Minuten vermutlich alles daran setzten, mich ebenfalls zu treffen.

Wie ich das sah, stand ich am unteren Ende der Pyramide, da wo der Abschaum hingehörte. Und Henry gehörte zu einer der oberen Schichten, über allem thronend und auf das gemeine Fußvolk hinabschauend. Die typische Schulhierarchie.

Und genauso, wie früher kein Bauer den Prinzen auch nur berühren, geschweige denn sich seines Platzes bemächtigen durfte, so war es auch heute. Eine uncoole, nerdige und dicke Hannah warf keinen coolen, beliebten und sportlichen Henry Macintosh aus dem Spiel.

Ich wusste, was Henry vorhatte. Und alle anderen wussten das auch. Wenn es ganz dumm lief, würden diese sensationslüsternen Schüler die Bälle extra an Henry weiterreichen, nur um zu sehen, wie toll er mich abwarf, und was für eine schlechte Figur ich dabei machte.

Allerdings hatte ich keine Lust. Nicht heute. Henry würde mich nicht vor allen bloßstellen, und selbst wenn, würde ich mich genauso schnell wieder reinwerfen, wie er »Völkerball« sagen konnte.

Ich wusste auch nicht, woher dieser Kampfgeist und das Selbstbewusstsein kamen, aber ich nahm beides dankend entgegen.

Henry Macintosh, deine Bälle können kommen.

Wie es nicht anders zu erwarten gewesen war, warf Henry mich fast ununterbrochen ab. Bisher hatte ich alle seine Bälle erfolgreich gefangen oder war ihnen ausgewichen. Bis auf zwei kleine Zwischenfälle, bei denen mir der Ball einmal fast wieder vom Arm und das andere Mal vom Fuß abgeprallt waren, schlug ich mich gut.

Vermutlich sah ich grausam aus. Rot und verschwitzt, als käme ich gerade aus der Sauna. Nicht, dass ich je in einer gewesen wäre. Meine Haare standen mir, wenn möglich, noch wilder als zuvor vom Kopf und das Sportshirt begann an meinem Rücken zu kleben.

Aber wen interessierte schon das Aussehen, wenn man sich auf so viel interessantere Dinge konzentrieren konnte. Zum Beispiel auf Henrys steigende Wut. Ich liebte es, wie er immer verbissener wurde, und wie er sich immer mehr ärgerte. Was gab es schöneres, als einen verdammt wütenden Vollidioten?

Wieder flog ein Ball auf mich zu, zielstrebig und genau abgeworfen, und mit so viel Kraft, dass man meinen könnte, Henry wolle mich mit seinen Geschossen nicht nur ab-, sondern gleich umwerfen. Der Ball erwischte mich an der Schulter und prallte von dort nach oben ab. Reflexartig drehte ich mich und fing ich ihn doch noch.

Mit einem triumphierenden Blick in Henrys Richtung warf ich ihn zu Noa und Ash, die immer noch an der Turnhallenwand lehnten. Sie sollten mal wieder richtig mitspielen!

Kaum hatte ich mich wieder Henry zugewandt, flog auch schon der nächste Ball auf mich zu. Man sollte meinen, Henry produzierte Bälle. Zumindest kam es mir so vor, als würde er über einen unerschöpflichen Vorrat an Bällen verfügen, dabei waren nur zwei davon im Spiel. Oder meine verehrten Mitspieler spielten ihm extra die Bälle zu.

Allmählich begann ich, jegliches Zeitgefühl zu verlieren. Mein Fokus lag auf Henry und seinen Bällen, die mich immer noch nicht trafen, oder die ich erfolgreich fang.

Zusammen mit seinen Freunden hatte Henry schon versucht, mich von beiden Seiten abzuwerfen, allerdings hatte ich ihren Plan dank seiner Gedanken schon gewusst, und konnte somit beiden Bällen ausweichen. Henrys Bälle wurden langsam ungenauer, was mir zeigte, dass ich nicht die einzige war, die allmählich zu schwächeln begann.

Unsere Hälfte zählte wieder ganze vierzehn Spieler, darunter auch Noa, die wohl doch wieder Lust auf das Spiel bekommen hatte, und sich gerade hineingeworfen hatte.  Ash beobachtete das ganze weiterhin von der Turnhallenwand aus. Henrys Hälfte hingegen hatte Spieler einbüßen müssen, die jetzt Henry halfen, mich und meine Mitspieler abzuwerfen. Tatsächlich bekam ich immer mehr das Gefühl, dass die Bälle extra an Henry weitergegeben wurden. Scheinbar genossen unsere Mitspieler das Schauspiel, das wir ihnen boten.

Mittlerweile war auch der Gedanke, dass ich im Zentrum aller Aufmerksamkeit lag, in den Hintergrund meines Gehirns gewandert. Vielmehr fühlte ich mich, als würden meine Mitmenschen endlich sehen, dass ich mehr als dick und zurückhaltend war. Auch Henry.

Ich wollte ihm zeigen, dass ich mehr war, als auf was er mich immer reduzierte, nämlich mein Aussehen. Und vielleicht wollte ich es auch mir selbst irgendwie beweisen.

Der Ball knallte ganz knapp vor meinen Füßen auf den Boden, von wo er hochsprang und mein Schienbein traf. Nicht getroffen. Ich hob den Ball auf und drehte mich um, um ihn zu Ash zu werfen.

Dabei wandte ich Henry kurz den Rücken zu. Ein Fehler, wie sich herausstellte.

Ich spürte den Luftzug des Balls schon bevor er mich traf. Dann kam er hart auf meinem Hinterkopf ab, sodass mein Kopf nach vorne gedrückt wurde. Fast augenblicklich setzet ein dumpfer Schmerz ein, der sich durch meinen ganzen Kopf zog.

Ich wollte mich umdrehen, und rufen, dass Kopftreffer nicht zählten, doch stattdessen fand ich mich plötzlich auf dem Boden wieder. Ich blinzelte ein paar Mal, bis meine Sicht wieder halbwegs klar wurde. Mein Kopf schmerzte, und als ich mich auf mich und meinen Körper konzentrierte, spürte ich das Schwindelgefühl.

Am Rand meines Blickfelds konnte ich Henry ausmachen, wie er mit einem triumphierenden Lächeln in seine Spielhälfte joggte.

»Hannah, alles okay?«, Noa ließ sich neben mir auf den Boden fallen.

Als ich den Kopf hob musste ich mich fast übergeben, so schlecht wurde mir. Schnell ließ ich mein Kinn wieder auf meine Brust fallen.

»Mir ist ein bisschen schlecht, aber das wird gleich schon wieder«, erklärte ich meiner besten Freundin, und stützte mich mit meinen Händen am Boden ab, um mehr Halt zu haben. Sicher ging der Schwindel gleich wieder vorbei.

Schließlich ließ ich, Hannah Kinnley, mich nicht von einem Henry Macintosh unterkriegen.

Eventuell bin ich ein bisschen aufgeregt, was vielleicht auch an den ganzen Kommentaren liegt, die hier eintrudeln, während ich das Kapitel noch mal Korrekturlese.

Danke jetzt schon, danke danke danke!

Eure
Silvy

(a.k.a ria für fe ^^)

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