Kapitel 1
Aus irgendeinem unerfindlichen Grund stolperte Henry Macintosh nicht mit dem Gesicht voran über die schwere Holzbank auf den unebenen, verkratzten Hallenboden – wie es jeder andere Mensch an seiner Stelle getan hätte –, sondern fing sich mitten in der Luft, sein Körper in einer äußerst fragwürdigen, schrägen Position, und richtete sich innerhalb von Sekunden wieder zu voller Größe auf.
Er wirbelte herum, holte aus uns warf den Ball.
Auf seiner Stirn zeichnete sich ein dünner Schweißfilm ab, und die normalerweise halbwegs ordentlichen Haare hingen ihm strähnchenweise ins Gesicht. Um seine Mundwinkel hatte sich ein ehrgeiziger Zug gespannt.
Er hielt kurz inne, vermutlich um zu beobachten, wie sein Ball einen weiteren meiner Mitspieler traf, und dann mit einem siegessicheren Gesicht wieder direkt in die Mitte seines Spielfeldes zu laufen.
Mich, die er bei seinem Sturz höchstwahrscheinlich unfreiwillig mitgerissen hätte, ignorierte er dabei vollkommen. Worüber ich allerdings froh war.
»Das macht echt keinen Spaß«, maulte Ash und riss mich damit aus meinen Gedanken. »Mit den Jungs spielen ist echt ätzend. Dieser ganze übertriebene, männliche Ehrgeiz. Überhaupt nicht sexy.« Sie lehnte sich mit ihrem schmalen Rücken an die Turnhallenwand und beobachtete mit zusammengekniffenen Augen den Spielverlauf.
Unser Team lag in Unterzahl und es war nur noch eine Frage der Zeit, bis die beiden übrig gebliebenen Jungs abgeworfen werden würden. Man sah es ihnen an, und die Tatsache, dass sie gerade mithilfe von zwei Bällen über unsere gesamte Spielfeldhälfte gejagt wurden, tat ihr übriges.
»Wir verlieren doch eh, warum stehen wir also noch hier und warten, bis einer von den Typen jemandem von uns den Ball zuwirft?« Noa verschränkte zustimmend die braungebrannten Arme vor der Brust und rollte mit den Augen. »Ich verstehe sowieso nicht, wieso wir das spielen. Völkerball ist ätzend, und mit den Jungs noch mehr. Was soll das uns bitte bringen?«
Ihre kurzen, schwarzen Haare flogen durch die Luft, als sie verständnislos ihren Kopf schüttelte. Erst vor ein paar Tagen hatte sie sich diesen süßen Kurzhaarschnitt verpassen lassen, sodass ihr ihre Haare jetzt nur noch bis zum Kinn reichten. Ihr stand so etwas. Ich sähe damit sicherlich furchtbar aus, wie mit ungefähr der Hälfte aller Sachen, die Noa standen.
Mit einem Lächeln wandte ich mich wieder dem Spielgeschehen zu. »Das sagst du doch zu allen Sportarten, die kein Hockey sind«, meinte ich und beobachtete den Ball, wie er eine weiche Kurve direkt auf Eric, einem der beiden übrigen Spielern unseres Teams, beschrieb. Er fing ihn und hielt kurz inne, als wüsste er nicht, was er jetzt damit tun sollte. Schließlich warf er ihn inmitten des gegnerischen Teams.
Ash stöhnte frustriert. »Wie kann man nur so blöd sein? Hätte er den Ball mal zu einem von uns hier draußen geworfen.«
Um ehrlich zu sein verstand ich Ash nicht so richtig. Normalerweise freute sie sich, aus dem Spiel auszuscheiden und nicht weiter einem ›blöden Ball‹ wie sie es nannte, nachzujagen oder von diesem gejagt zu werden. So konnte sie hier in Ruhe entspannen und uns Deppen dabei beobachten, wie wir diese ›sinnlose Sportart‹ ausübten. Aber heute schien sie einen besonders schlechten Tag erwischt zu haben, und meckerte in einem Fort. Allerdings war das Ganze wiederum auch verständlich, bei der Inkompetenz unseres Teams.
Jemand stolperte bei dem Versuch, einen Ball vor dem Rollen ins Aus, und damit zu uns, zu bewahren vor uns, und hätte ich diesen Ball gehabt, hätte ich ihn mit Leichtigkeit abwerfen können. Das hätte vermutlich jeder noch so untalentierte Werfer geschafft. Leider hatte mein Team seit mehreren Minuten keinen wirklich nennenswerten Ballkontakt mehr gehabt, weswegen der Typ vor mir sich einfach seelenruhig wieder aufrichten und weiterspielen konnte.
Ich glaube, er hieß Jake, oder vielleicht auch Jakob oder so, genau wusste ich es auch nicht. Eigentlich wusste ich die meisten Namen aus meiner Stufe, aber mit manchen hatte ich auch einfach keine Kurse, und so blieben mir auch ihre Namen unbekannt. Jake – oder auch Jakob, vielleicht ja auch Jamal – lief wieder in die Mitte, wo er kurz ein paar Worte mit Henry und seinem Freund Andrew wechselte, eher er den Ball an Henry übergab und dieser den Ball mit voller Wucht auf Erics Rücken knallte.
Eric war raus. Und Henry klatschte sich mit Jake ab.
Idioten.
Ich wandte meinen Blick ab und starrte stattdessen auf Meya, unsere letzte übriggebliebene Spielerin. Sie war klein und flink, und konnte den Bällen so äußerst gut ausweichen, allerdings zeigte ihr schon stark erhitztes Gesicht, dass ihr langsam die Körner ausgingen. Naja, vielleicht zeigte sie ja mehr Gehirn als Eric, wenn sie denn in Besitz eines Balles kommen sollte. Die Wahrscheinlichkeit dazu war zwar ziemlich gering, aber im Lotto gewannen ja schließlich auch Leute.
»Sie sollte sich einfach treffen lassen. Dann kommt der König, wird drei mal getroffen und wir haben verloren. Ganz einfach.« Noa zog die Augenbrauen in die Höhe und runzelte damit ihre Stirn. Ihr Blick lag ebenfalls auf Meya, und die Arme tat mir plötzlich leid. Die ganze Aufmerksamkeit und vielleicht auch noch Hoffnung von einigen meiner Teamkollegen lag auf ihr, während sie verzweifelt versuchte, nicht getroffen zu werden, und dabei vielleicht noch irgendwie einen Ball zu ergattern. Stress pur.
Henry ergatterte den Ball und warf ihn zu Homér, seinem zweiten vielleicht besten Freund. Bei Jungs wie Henry wusste man ja nie so genau, wer Freund und wer nur irgendein Typ war. Homér holte aus, warf und verfehlte Meya nur um Haaresbreite.
»Die Arme«, sagte ich und betrachtete sie weiter mitleidig.
Plötzlich klatschte Ash in die Hände. »Ich hab's!«
Noa schaute nicht weniger verwundert als ich drein, als wir zu ihr sahen, und auch die Umstehenden warfen Ash kurz einen Blick zu.
»Hannah muss wieder rein, dann könnten wir noch gewinnen. Du würdest sie alle platt machen und dann später die Heldin des Tages sein.«, fantasierte sie mit einem Funkeln in den dunkelbraunen Augen. Ihr Pony schwebte dabei nur wenige Zentimeter über ihren getuschten Wimpern.
Ich runzelte verständnislos die Stirn. »Ich glaube nicht, dass ich heute noch irgendwann wieder rein komme, geschweige denn, dass ich noch irgendwas reißen werde. Und sicher werde ich auch nicht gewinnen.«
Natürlich stritt ich nicht ab, dass Völkerball eines meiner Lieblingsspiele im Sport waren, und dass ich generell Ballsportarten und -spiele mochte. Und vermutlich war ich auch nicht die schlechteste darin. Trotzdem verspürte ich definitiv nicht das Bedürfnis, mich wieder reinzuwerfen um dann im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu stehen, während ich aussah wie ein sterbendes Walross und alle sich offen über mich lustig machen konnten. Es gab wesentlich angenehmere Dinge.
Noa lehnte sich nun ebenfalls neben Ash gegen die Turnhallenwand. Durch ihr jahrelanges Training in allen möglichen Sportarten war ihr Rücken breiter als Ashs, und auch ansonsten hatte sie eine äußerst sportliche Statur. Aus dem Muster meiner beiden Freundinnen fiel ich komplett heraus.
Noa warf erst mir, dann unserer Spielhälfte einen Blick zu, bis ihr Blick über die gegnerische Hälfte wieder zu mir wanderte. Mit einem Nicken bestätigte sie Ash's Worte. »Sie hat Recht, Hannah. Du könntest echt noch was reißen.«
Energisch schüttelte ich den Kopf. »Ihr spinnt ja, wie soll ich da noch was machen? Alle sind draußen, dann wäre ich alleine.«
»Ist doch perfekt«, rief Ash. »Keine nervigen Mitschüler, auf die du achten musst!«
»Ja aber –«
»Du bist gut, Hannah. Vielleicht sogar besser als viele andere hier. Zeig es denen mal!«
Meine beiden Freundinnen schienen sich gemeinsam gegen mich verschworen zu haben. Ich schüttelte wieder den Kopf.
Ganz sicher würde ich mich nicht wieder ins Spiel werfen. Da konnten die beiden noch so gute Überzeugungsarbeit leisten.
Henry lief an uns vorbei, während Ash mich weiter zu überzeugen versuchte.
»Ach komm schon, du würdest sie fertig machen!«
›Das ich nicht lache. Fettie und uns fertig machen? Wer's glaubt.‹
Ich versuchte, den Gedanken nicht zu weit in mein Gehirn eindringen zu lassen. Größtenteils versuchte ich sogar, ihn zu ignorieren, aber er war da, plötzlich aufgetaucht als wäre es mein eigener gewesen. Mitten in meinem Kopf, er kam nicht schleichend oder langsam, sondern auf einmal war er da.
Und dabei gehörte er nicht einmal mehr mir. Er kam von einer fremden Person, einer Person, gegenüber der ich eine unglaublich tiefe Abneigung verspürte. Eine Person, deren Gedanken ich eigentlich gar nicht hören wollte.
Henry Macintosh warf mir einen abfälligen Blick zu, den ich ohne weiteres übersehen hätte, wenn ich mich nicht genau in diesem Moment zu ihm umgedreht und seine Gedanken gehört hätte.
Das mit dem Gedankenlesen war so eine Sache. So in etwa wie in Biologie, wenn die Herstellung von Proteinen ganz genau erklärt wurde, aber man schon nach zehn Minuten vor lauter Fachbegriffen total den Faden verlor. Oder wie in Mathe, wenn man eine Gleichung einfach nicht verstand, oder sie nicht lösen konnte. Es war da, und es existierte so als Fakt. Aber den Grund dafür wusste niemand.
Angefangen hatte das Ganze in der fünften Klasse, vor dem Waschbecken im Kunstunterricht, als Henry der Becher mit Wasser hinuntergefallen war und ich hinter ihm in der Schlange versucht hatte, nett zu sein, und ihm beim Aufwischen zu helfen. Dabei hatten sich unsere Ellenbogen berührt – oder eher mein Ellenbogen und sein Arm, weil er schon damals größer als die meisten aus unserer Stufe war – und plötzlich konnte ich hören, was Henry dachte. Zunächst begann es mit einzelnen, zufälligen Gedanken.
Es dauerte eine Weile, bis ich mit Hilfe von Ash und Noa einen Zusammenhang erkennen konnte. Ich konnte Henrys Gedanken nur hören, wenn diese etwas mit mir zu tun hatten. Anfangs waren das noch Gedanken gewesen, die primär mit mir zu tun hatten, wenn sie direkt mich als Thema hatten – nicht dass das oft passiert wäre. Dann waren es auch Gedanken, die mit meinen Freunden zu tun hatten, und damit eine Verbindung zu mir ziehen konnte.
Aber mittlerweile wurden es immer mehr Gedanken. Der Kreis weitete sich aus, und ich wusste nicht, wieso, oder wie ich es stoppen konnte. Henry darauf angesprochen hatte ich noch nie. Sollte ich allerdings noch mehr seiner privaten Gedanken zu hören bekommen, musste ich wohl oder übel mit ihm reden, egal wie zuwider mir diese Vorstellung war. Ob er mir überhaupt glauben werde oder sich nur wie immer über mich lustig machen würde, stand auf einem anderen Stern.
Mittlerweile war ich Meisterin darin, Henrys Gedanken größtenteils zu ignorieren. Manchmal dachte er über völlig banale Dinge nach, oder auch über Dinge, die ich einfach nicht wissen wollte. Manchmal passten sich seine Gedanken auch so den meinen an, dass ich nicht mehr unterscheiden konnte, welche wem gehörten. Allerdings passierte das nicht sehr oft.
Und dann gab es noch Augenblicke, in denen mich seine gedachten, wie auch gesagten Kommentare verletzten und mich trafen. Das waren die schlimmsten Gedanken. Und er behielt sie nicht einmal mehr für sich, sondern sprach sie auch oft aus, vor dem ganzen Kurs.
Den jetzigen Gedanken fand ich nicht wirklich verletzend. Eher machte er mich wütend.
Henry ging überheblich wie er war davon aus, dass ich nichts konnte. Normalerweise hätte ich das versucht zu ignorieren, oder es einfach hingenommen.
Aber heute... heute weckte dieser eine Gedanke, diese drei Sätze, eine Wut in mir und ich fühlte mich auf seltsame Art und Weise herausgefordert.
»Was hat er gedacht?«, wollte Noa hinter mir wissen. Mittlerweile hatte ich mich soweit zu Henry umgedreht, dass ich nun mit dem Rücken zu meinen beiden Freundinnen stand.
Ich winkte ab und drehte mich wieder zu ihnen. »Nichts wichtiges.«
Ash lachte. »Sie wird reingehen, Noa. Er hat irgendwas sehr Dummes gedacht.«
Mit all meiner vorhanden Selbstdisziplin versuchte ich, die Wut, die Henry in mir entfacht hatte, wieder zurückzudrängen. Es gelang mir nur mäßig. Zumindest hatte ich nicht mehr das Bedürfnis, mir einen Ball zu schnappen, und ihn damit abzuknallen, nur damit er sah, dass nicht nur er hier werfen konnte.
»Ich werde nirgendwohin gehen. Ich bleibe hier und schaue dabei zu, wie unser Team verliert.«, stellte ich klar, und zog mir meinen Pferdeschwanz fest. Meine Haare hatten die Farbe von verwelkten Blättern im Herbst, nicht gerade die schönste Farbe, aber mit Sicherheit gab es deutlich hässlichere Farben. Leider hatten sie die Angewohnheit, in Strähnen aus meine Zopf zu fallen und mir dann wild vom Kopf abzustehen.
Ash und Noa seufzten fast gleichzeitig und lächelten dann beide, als hätten sie die ganze Nummer hier einstudiert. »Dann halt nicht.«
Ich zuckte mit den Schultern. Ja, dann halt nicht.
›Scheint ja schon fast so, als wäre Fettie doch nicht so toll und gut, wie die beiden anderen da behaupten.‹
Das lustige war, dass Gedankenstimmen genauso lachen konnten wie echte, normale Stimmen. Und in Henrys Gedankenstimme schwang eindeutig ein verspottendes Lachen mit. Ich versuchte weiterhin, meine Wut unter Kontrolle zu halten und seine Worte nicht als Herausforderung zu sehen.
Bis zu einem Punkt klappte das auch. Bis Henry dachte: ›Tja, sie ist und bleibt halt nur eine unsportliche, fette Kuh.‹
Ich zwang mich, mich nicht umzudrehen, und ihn wütend anzustarren. Henry verletzte mich wie immer, und er machte mich wütend. Ich konnte sein Ego nicht leiden, seine Überheblichkeit, wie er sich gab, wie er mit Menschen umging. Ich konnte all diese Dinge einfach nicht leiden. Er war und blieb einer der Menschen, die ich nach meiner Schulzeit nie wieder würde sehen wollen. Die paar Jahre hier hatten mir vollkommen gereicht.
Über uns flog ein Ball hinweg, direkt auf Jacob zu, der genau wie wir im Aus stand. Scheinbar hatte Meya es geschafft, einen Ball zu fangen. Oder aber jemand aus dem anderen Team hatte vollkommen falsch geworfen. Jacob machte große Augen, als er den Ball auf sich zufliegen sah, machte aber keinerlei Anstalten, ihn auch zu fangen. Stattdessen traf der Softball ihn und prallte an im ab.
Er rollte auf dem Hallenboden entlang in unsere Richtung. Ganz langsam und gemächlich. Als würde er mich praktisch dazu einladen, ihn zu nehmen und zu werfen. Die Frage war nur, ob ich das wirklich wollte.
Tadadadada, das erste cringe Kapitel...
In ca. einer halben Stunde geht es dann weiter :)
Eure
Silvy
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