45 || 𝙗𝙚 𝙖𝙡𝙧𝙞𝙜𝙝𝙩 ☽
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Louisa PoV
Die Stille im Auto war fast greifbar, wie eine unsichtbare Mauer zwischen uns. Nur das sanfte Surren des Motors und das rhythmische Klacken des Blinkers durchbrachen die Lautlosigkeit. Die Dunkelheit der Nacht hüllte die Straße in eine gespenstische Atmosphäre, während vereinzelte Straßenlaternen wie flüchtige Sternenlichter an uns vorbeizogen.
Ich starrte aus dem Fenster, beobachtete, wie Regentropfen über das Glas glitten und schimmernde Linien hinterließen. Meine Gedanken waren ein Durcheinander. Der Abend hatte mich ausgelaugt, und ich wollte nichts mehr, als einfach anzukommen – im Auto, in meinem Kopf, irgendwo.
Plötzlich durchbrach Taehyung die Stille.
„Ich finde es wirklich schade, dass wir schon so früh gehen mussten," begann er, seine Stimme warm und sanft. „Ich hätte noch gern länger–"
„Taehyung, bitte." Meine Worte kamen schärfer heraus, als ich es geplant hatte. „Könntest du jetzt nicht darüber reden? Ich bin schon genug gestresst."
Ich spürte, wie mein Herzschlag schneller wurde, meine Hände ballten sich unbewusst zu Fäusten. Ich wollte nicht reden. Ich wollte nicht darüber nachdenken, geschweige denn darüber sprechen. Stattdessen wandte ich meinen Blick ab, ließ ihn hinaus in die Dunkelheit gleiten, in der Hoffnung, dass er die Botschaft verstehen würde.
Doch meine Hoffnungen wurden jäh zerstört, als das Auto plötzlich mit einem scharfen Ruck zum Stehen kam. Mein Körper wurde nach vorne geschleudert, der Sicherheitsgurt zog sich straff um meine Brust. „Taehyung!" rief ich, bevor ich den Kopf herumriss.
Er hatte den Wagen abrupt gestoppt. Seine Hände ruhten fest auf dem Lenkrad, die Knöchel weiß vor Anspannung. Sein Blick war unverwandt auf mich gerichtet, durchdringend, und in seinen Augen lag etwas, das mich für einen Moment aus dem Konzept brachte.
„Sag mir, was los ist." Seine Stimme war ruhig, aber die Ernsthaftigkeit darin ließ keinen Raum für Ausflüchte.
„Warum sollte ich?" schnappte ich zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. „Fahr einfach weiter."
Doch er ließ sich nicht abschütteln. „Weil ich sehe, dass dich etwas belastet, Louisa. Und weil ich dir helfen will."
Ich lachte bitter, ein kaltes, emotionsloses Geräusch, das zwischen uns wie ein Spiegel zersprang. „Was weißt du schon über Gefühle und Stress, huh?!" Meine Stimme wurde lauter, unkontrollierter. „Du bist der Letzte, mit dem ich über meine Sorgen sprechen würde!"
Die Worte waren aus mir herausgeplatzt, roh und ungefiltert, wie ein Messer, das in die Stille schnitt. Ich wusste, dass sie ihn treffen würden – und doch konnte ich nicht aufhören.
Taehyung sah mich für einen Moment an, als hätte ich ihm den Boden unter den Füßen weggezogen. Seine Schultern sanken leicht herab, und sein Blick wurde weich, beinahe traurig.
„Du hast recht," murmelte er schließlich, fast unhörbar. „Wer bin ich, um über das Verhalten anderer zu urteilen? Ich bin selbst kein Stück besser."
Sein Seufzen füllte den Raum, während er den Motor wieder startete. Der Wagen setzte sich in Bewegung, doch etwas zwischen uns hatte sich verändert. Die Stille, die uns jetzt einhüllte, war schwer, drückend – ein unausgesprochener Vorwurf, der im Raum schwebte.
Schuldgefühle krochen in mir hoch, wie Ketten, die mich langsam fesselten. Ich hatte ihn nicht nur zurückgewiesen, ich hatte ihn verletzt, obwohl er doch nur helfen wollte.
„Es tut mir leid," flüsterte ich nach einer Weile, kaum lauter als der Regen, der jetzt auf die Windschutzscheibe prasselte. „Das war nicht so gemeint. Ich bin einfach... gestresst, und ich habe es an dir ausgelassen. Das war falsch."
Er schüttelte den Kopf, ohne den Blick von der Straße zu nehmen. „Entschuldige dich nicht, Louisa. Ich bin derjenige, der sich entschuldigen sollte... für zahlreiche Dinge."
Ein schwaches Lächeln huschte über sein Gesicht, fast zu flüchtig, um es zu bemerken. Seine Augen wanderten für einen Moment zu mir, und etwas in seinem Blick ließ mein Herz schneller schlagen.
„Deine Haare... sie sehen heute wirklich schön aus." Seine Stimme war weich, fast zärtlich, und seine Augen verweilten einen Moment zu lange auf meinen Zöpfen.
Ein Hauch von Wärme kroch in meine Wangen, und ich spürte, wie sich ein Lächeln auf meinen Lippen andeutete. „Findest du?"
„Mhm," murmelte er nur, während sein Blick noch immer auf mir ruhte.
Doch dieses kleine, intime Moment brach abrupt, als ich aus dem Augenwinkel die Straße vor uns bemerkte. Mein Herz setzte einen Schlag aus.
„TAEHYUNG!"
Mein Schrei durchbrach die Stille, doch es war zu spät. Taehyungs Augen schnellten zurück zur Straße, aber da war bereits ein lauter Knall, ein ohrenbetäubendes Geräusch, das mich durch Mark und Bein erschütterte. Der Wagen geriet ins Schleudern, und mein Kopf schlug gegen die harte Oberfläche der Tür.
Für einen Moment schien die Welt stillzustehen. Dann wurde alles schwarz.
Jungkook PoV
„Wie lange braucht diese Frau denn noch? Ich habe Dinge zu erledigen!" Die kratzige Stimme der alten Dame neben mir schallte durch das Büro des Direktors und ließ mich innerlich zusammenzucken. Ihre Nörgelei schien keine Grenzen zu kennen.
Ich verdrehte die Augen, versuchte mich zu beherrschen, während Jinho still auf meinem Schoß saß. Seine kleinen Finger klammerten sich fest an meinem Shirt, und ich spürte, wie sein Körper leicht zitterte.
„Meine Schwester wird gleich hier sein. Ein bisschen Geduld wäre wohl das Mindeste, was Sie zeigen könnten," erwiderte ich kühl und ließ meinen Blick absichtlich abfällig über die Frau gleiten.
„Geduld?" Sie hob ihre Stimme, als hätte ich sie persönlich beleidigt. „Wie soll ich Geduld haben, wenn dieser kleine Rabauke meinen heiligen Theodor geschlagen hat? Dieses Biest gehört eingesperrt!" Ihr knochiger Finger deutete anklagend auf Jinho, als wäre er der Teufel höchstpersönlich.
Jinho duckte sich ein wenig und drückte sich noch enger an mich. Seine kleinen Hände krallten sich in mein Shirt, und ich konnte die aufkommenden Tränen in seinen großen, braunen Augen sehen.
„Onkel Kookie," flüsterte er mit einer Stimme, die mir das Herz brach. „Ich habe ihn nicht geschlagen. I-Ich hab noch nie jemanden geschlagen."
Natürlich glaubte ich ihm. Dieses Kind war so unschuldig, dass allein der Gedanke, er könnte jemandem wehtun, lächerlich war. Seine Unschuld stand ihm ins Gesicht geschrieben – das wusste ich, und das wusste auch diese Frau, selbst wenn sie es nicht zugeben wollte.
Ich zog Jinho beschützend näher an mich, legte eine Hand auf seinen Rücken, als würde ich ihn vor der Welt abschirmen. Dann sah ich die Frau direkt an, meine Stimme fest und scharf wie ein Messer.
„Können Sie aufhören, dieses arme Kind so anzuschreien? Machen Sie das mit Ihrem eigenen Sohn genauso? Wenn ja, würde es mich nicht wundern."
Ihre Augen weiteten sich, und für einen Moment schien sie sprachlos – ein kleiner Sieg, den ich mir nicht nehmen ließ. „Kein Wunder, dass er so viel isst," fuhr ich fort und warf einen Blick auf ihren Sohn, der gerade einen weiteren Chicken Nugget in seinen Mund stopfte. „Das ist bestimmt Frust. Bei so einer teuflischen Mutter wie Ihnen würde mich das nicht überraschen."
„Frechheit!" rief sie empört aus, doch ich ließ ihr keine Zeit, weiterzureden.
„Sie wollen mir weismachen, dass Ihr 'heiliger Theodor' so unschuldig ist? Wirklich?" Ich ließ meinen Blick absichtlich auf ihrem Sohn ruhen, der mit fettigen Händen an seinem Hemd herumzupfte. „Wenn er noch in der Lage ist, sich Chicken Nuggets reinzuziehen, kann der Schlag wohl kaum so schlimm gewesen sein – falls es überhaupt einen gab."
Ihr Gesicht lief rot an, und ich wusste, dass ich einen wunden Punkt getroffen hatte.
„Wie können Sie es wagen!" Sie fauchte förmlich. „Wollen Sie damit behaupten– Ach, was rede ich überhaupt mit Ihnen? Sie sind irrelevant." Sie winkte abwertend ab, als wäre ich nicht mehr als ein störendes Insekt.
Mein Kiefer verspannte sich, und ich atmete tief ein, um die aufsteigende Wut zu kontrollieren. Gott, wie ich solche Menschen hasse. Wo bleibt Louisa nur?
Plötzlich vibrierte mein Handy in meiner Tasche.
„Wenn das Ihre verkorkste Schwester ist, dann richten Sie ihr aus, dass–"
„RUHE!" Meine Stimme donnerte durch den Raum, und die Frau verstummte augenblicklich. Selbst ihr Sohn ließ vor Schreck den Chicken Nugget fallen.
„Sagen Sie noch ein Wort," fuhr ich mit eisiger Ruhe fort, „und ich schwöre Ihnen, Sie werden es bereuen."
Die Anspannung in meinem Körper war greifbar, meine Geduld längst am Ende. Ich zog mein Handy hervor und nahm den Anruf entgegen, ohne weiter auf die Frau zu achten.
„Ja, hallo?"
Am anderen Ende der Leitung ertönte eine ernste Stimme. „Mr. Jeon, da Sie als Notfallkontakt für Mrs. Jeon Louisa angegeben sind, möchten wir Sie hiermit informieren, dass Ihre Schwester in einen tragischen Unfall verwickelt war."
Ein tragischer Unfall? Die Worte schienen nicht zu mir durchzudringen, sie klangen wie ein ferner, undeutlicher Hall.
„Ein... Unfall?" stotterte ich, unfähig, die Bedeutung zu begreifen.
„Ja, Sir," fuhr die Stimme fort, ruhig und professionell. „Sie liegt im Koma."
Das Handy drohte mir aus der Hand zu fallen, während mein Herz einen Schlag aussetzte. Der Raum um mich herum schien sich zu drehen, die Worte der Frau neben mir verschwammen in meinem Kopf, bis sie schließlich ganz verstummten.
„Louisa..." flüsterte ich, meine Stimme gebrochen.
•••
Taehyung PoV
„W-Was meinen Sie, sie liegt im Koma?" Meine Stimme war kaum mehr als ein Flüstern, brüchig und zittrig. Meine Gedanken überschlugen sich, während ich versuchte, die Worte des Arztes zu begreifen. „Wie... wie kann sie im Koma liegen, aber ich nicht?"
Es fühlte sich an, als würde die Luft aus meinen Lungen gepresst. Mein Herz raste, während meine Hände zu Fäusten geballt auf der Bettdecke ruhten. Louisa... Louisa liegt im Koma.
„Sie waren angeschnallt, Mrs. Jeon leider nicht," erklärte der Arzt ruhig, fast mit Bedauern. Doch seine Worte fühlten sich an wie ein Dolchstoß.
Anschnallen. Diese eine winzige Entscheidung. Und jetzt lag Louisa zwischen Leben und Tod, während ich hier saß – mit nichts weiter als einer Gehirnerschütterung.
„Wie... wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie wieder aufwacht?" Meine Stimme brach mitten im Satz. Ich musste mich räuspern, doch es half nichts. „Und... wie groß ist der Schaden?"
Ich wusste nicht, warum ich überhaupt fragte. Irgendwo tief in mir kannte ich die Antwort bereits.
Der Arzt seufzte und senkte den Blick, als müsste er sich sammeln. „Es ist schwer zu sagen. Aber ich muss ehrlich sein... Der Schaden ist schwerwiegend. Ihr Gehirn hat erhebliche Verletzungen erlitten, und sie hat mehrere Brüche. Es wird ein langer Weg, falls sie überhaupt aufwacht."
Falls sie überhaupt aufwacht.
Die Worte hingen wie ein schweres Gewicht in der Luft. Mein Kopf begann zu pochen, und ein leises Summen dröhnte in meinen Ohren. Es fühlte sich an, als würde der Raum enger werden, mich erdrücken.
Louisa. Meine Louisa.
Wir hatten gerade erst wieder angefangen, uns zu verstehen. Nach all den Jahren voller Missverständnisse, Streitigkeiten und Distanz hatten wir endlich wieder zueinander gefunden. Ich hatte gehofft, dass wir dieses Mal alles richtig machen könnten.
Aber jetzt? Jetzt war sie weg. Und das alles... wegen mir.
„Warum bin ich hier... und sie nicht?" flüsterte ich leise, mehr zu mir selbst als zum Arzt. Es fühlte sich falsch an. Alles fühlte sich falsch an.
„Mr. Kim," begann der Arzt erneut, seine Stimme sanft, aber fest. „Ich weiß, dass das alles schwer zu verarbeiten ist, aber Sie sollten sich ausruhen. Sie haben zwar nur eine Gehirnerschütterung, aber wenn Sie sich überanstrengen, könnte es schlimmer werden."
Ausruhen. Das war ein schlechter Witz. Wie sollte ich mich ausruhen, wenn Louisa da draußen lag, allein, mit gebrochenem Körper und Leben?
„Verstanden," murmelte ich, obwohl ich wusste, dass es eine Lüge war. Mein Blick war auf die grauen Wolken gerichtet, die draußen über den Himmel zogen, als spiegelten sie das Chaos in meinem Inneren wider.
Der Arzt nickte nur, erhob sich und ging zur Tür. „Falls Sie etwas brauchen, drücken Sie einfach den Rufknopf."
Als sich die Tür hinter ihm schloss, wurde der Raum von einer bedrückenden Stille erfüllt. Eine Stille, die zu laut war, zu erdrückend. Und dann, als ich mir sicher war, dass niemand mehr zusah, brachen die Tränen aus mir heraus.
Ich versuchte, sie zurückzuhalten, aber es war unmöglich. Die Schuld wuchs in mir wie eine Flutwelle, die alles mit sich riss.
„Louisa..." flüsterte ich zwischen meinen Schluchzern. Meine Hände zitterten, als ich sie vor mein Gesicht hob, als könnte ich mich vor der Realität verstecken. Aber die Bilder kamen trotzdem.
Ihr Lachen, das so selten geworden war, aber jedes Mal mein Herz wärmte. Die Art, wie sie mich ansah, wenn sie mir verzieh – diese Mischung aus Sanftheit und Schmerz, weil ich es immer wieder schaffte, sie zu enttäuschen. Wir hatten gerade erst angefangen, uns wieder anzunähern, und jetzt...
Ich hatte es zerstört. Wieder einmal.
„Warum?" Meine Stimme brach, und ich ließ den Kopf in meine Hände sinken. „Warum du? Warum jetzt?"
Ich erinnerte mich an die Momente im Auto, kurz vor dem Unfall. Wie sie aus dem Fenster gestarrt hatte, sichtlich angespannt. Wie sie meinen Versuch, mit ihr zu reden, abgeblockt hatte. Ich hatte sie provoziert, sie unter Druck gesetzt, obwohl ich genau wusste, dass sie es nicht ertragen konnte.
„Das ist alles meine Schuld," flüsterte ich heiser. Die Tränen brannten in meinen Augen, liefen heiß über meine Wangen. „Ich hätte sie nicht stressen dürfen. Ich hätte... ich hätte einfach aufpassen müssen."
Wieso hatte ich sie nicht einfach fahren lassen, als sie darum bat? Wieso konnte ich nicht einen Moment lang aufhören, egoistisch zu sein?
„Wir haben gerade erst wieder zueinander gefunden," murmelte ich, meine Stimme kaum hörbar. „Und jetzt... jetzt hab ich sie verloren."
Die Schuld fühlte sich wie ein schwerer Stein auf meiner Brust an, raubte mir die Luft. Louisa hätte hier sein sollen. Sie hätte mir weiterhin widersprechen sollen, mich herausfordern sollen, mich dazu bringen sollen, ein besserer Mensch zu werden.
„Warum verlassen mich alle?" Meine Stimme war ein verzweifeltes Flüstern, kaum mehr als ein Hauch. „Meine Mutter... jetzt Louisa. Warum bin ich derjenige, der immer bleibt?"
Ich wusste, dass ich die Antwort niemals finden würde. Aber das änderte nichts daran, dass ich wünschte, es wäre anders gewesen. Dass ich den Preis für meinen Fehler zahlen würde – nicht sie.
„Es hätte mich treffen sollen," sagte ich schließlich, während die Tränen weiterflossen. „Nicht dich, Louisa. Niemals dich."
•••
Der kalte Wind wehte sanft durch die Bäume des Krankenhausparks, doch ich nahm ihn kaum wahr. Ich saß reglos auf der harten Metallbank, den Kopf gesenkt und die Hände fest ineinander verkrallt. Mein Blick war ins Leere gerichtet, doch in meinem Kopf tobte ein Sturm.
Louisa lag oben in einem sterilen Raum, eingehüllt in Schläuche und Maschinen, die sie am Leben hielten. Ich war schuld daran. Die Schuld schnürte mir die Kehle zu, ein unnachgiebiger Griff, der jede Luft aus mir herauspresste.
Warum musste ich überleben? Warum immer ich?
„Du siehst traurig aus."
Die unerwartete Stimme ließ mich hochschrecken. Neben mir stand ein kleiner Junge, seine großen, neugierigen Augen auf mich gerichtet. Sein Gesicht war rund und weich, mit leicht zerzaustem Haar, das der Wind verspielt durchwühlte.
„Das bin ich auch," antwortete ich automatisch, ohne nachzudenken.
Er legte den Kopf schief, als würde er versuchen, in mein Inneres zu blicken. „Aber wieso?" fragte er mit der Unschuld, die nur Kinder besitzen.
Ich wusste nicht, wie ich ihm antworten sollte. Wie erklärt man einem Kind, dass man das Gefühl hat, alles zu zerstören, was man berührt? Dass jemand, den man liebt, jetzt im Koma liegt – wegen einem selbst?
„Jemand, den ich sehr gern habe, geht es gerade nicht gut," murmelte ich schließlich.
Der Junge nickte, als hätte er genau verstanden, was ich meinte. Dann setzte er sich ohne ein Wort neben mich, seine kleinen Beine baumelten über der Kante der Bank. Er schwieg eine Weile, bevor er plötzlich sagte: „Weißt du, ich bin auch traurig."
Überrascht sah ich ihn an. „Du bist traurig?"
Er nickte langsam und starrte auf den Boden, während seine Finger nervös miteinander spielten. „Ich vermisse meine Mama..." Seine Stimme war leise, fast ein Flüstern, und ich spürte, wie mein Herz schmerzte.
„Wo ist deine Mama?" fragte ich vorsichtig.
„Ich weiß es nicht," hauchte er. „Mein Onkel meinte, ich soll im Spielzimmer warten, aber da waren gemeine Kinder. Deswegen bin ich hier rausgegangen."
Seine Worte trafen mich wie ein Schlag. Dieser kleine Junge war ganz allein hier draußen. „Aishh," seufzte ich und fuhr mir durch die Haare. „Das kannst du doch nicht machen. Dein Onkel sucht dich bestimmt schon und macht sich Sorgen."
Doch bevor ich weiterreden konnte, füllten sich seine Augen mit Tränen. Seine Unterlippe begann zu zittern, und dann brach er in ein leises, herzzerreißendes Schluchzen aus.
„Ich will zu meiner Mama," weinte er leise, seine kleinen Schultern bebten unter den unterdrückten Schluchzern.
Mein Herz zog sich schmerzhaft zusammen. Ich hatte es noch nie ausgehalten, Kinder weinen zu sehen – besonders nicht so ein kleines Wesen wie ihn. Seine Trauer fühlte sich so pur an, so ungeschützt, dass sie mich tief traf.
„Hey, hey... ganz ruhig," sagte ich sanft und beugte mich leicht zu ihm. Behutsam legte ich eine Hand auf seinen Kopf und strich ihm über das zerzauste Haar. „Ich bin mir sicher, du wirst deine Mama bald wiedersehen."
Er schüttelte den Kopf, seine Tränen rannen unaufhörlich über seine runden Wangen. „Aber ich will sie jetzt sehen," schluchzte er, seine kleine Stimme klang so zerbrechlich, dass ich fast selbst weinen wollte.
„Hör mal," begann ich vorsichtig. „Ich weiß, dass es schwer ist. Aber ich bin sicher, deine Mama möchte, dass du ganz stark bist, okay?"
Er hob den Kopf und sah mich mit tränennassen Augen an. „Bekomme ich eine Umarmung?" fragte er plötzlich, seine Stimme zitterte vor Hoffnung.
„Huh?" war alles, was ich herausbrachte, überrascht von seiner Bitte.
Der Junge streckte seine kleinen Arme aus, sein Blick flehend. „Bitte... Umarmung."
Ich zögerte keine Sekunde. Behutsam hob ich ihn hoch und setzte ihn auf meinen Schoß, wo ich ihn fest in meine Arme schloss. Er schmiegte sich sofort an mich, legte seinen Kopf auf meine Brust und schlang seine kleinen Arme so fest um mich, wie er konnte.
„Danke," murmelte er leise, seine Stimme gedämpft durch mein Shirt.
Ich schluckte schwer, während ich den kleinen Körper in meinen Armen hielt. Für einen Moment schien die Welt stillzustehen. Der Schmerz, die Schuld, all das fühlte sich ein wenig leichter an, während ich diesen Jungen tröstete.
„Wie heißt du, kleiner Mann?" fragte ich schließlich sanft.
„Jinho," antwortete er schüchtern und hob den Kopf leicht an, um mich anzusehen.
„Jinho," wiederholte ich, ein schwaches Lächeln auf meinen Lippen. „Ein wirklich schöner Name. Ich bin Taehyung."
„Taehyung..." murmelte er nachdenklich und lächelte schwach. „Ich mag deinen Namen."
Ich lachte leise, ein Klang, den ich seit Tagen nicht mehr von mir gehört hatte. „Danke. Weißt du, was ich vorschlage? Wir sollten wieder reingehen, bevor dein Onkel einen Herzinfarkt bekommt, weil du verschwunden bist."
Zu meiner Überraschung kicherte Jinho, ein heller, glockenartiger Klang, der die kalte Luft des Parks erhellte. „Aber nur, wenn du mitkommst," sagte er mit einem schelmischen Grinsen.
Ich legte eine Hand auf mein Herz und tat so, als müsste ich ernsthaft überlegen. „Hmm... Na gut. Ich hab eh nichts Besseres zu tun."
Bevor ich ihn wieder absetzen konnte, umarmte er mich erneut fest. „Du bist nett, Taehyung."
Ich spürte, wie mein Herz warm wurde, trotz der Kälte um uns herum. Als ich ihn schließlich auf den Boden setzte, griff er sofort nach meiner Hand.
„Halten," sagte er mit einem ernsten Blick, während er zu mir hochsah.
Ich konnte nicht anders, als zu lächeln, während ich seine kleine Hand in meiner hielt. „Ja, halten," antwortete ich, und gemeinsam machten wir uns auf den Weg zurück ins Krankenhaus.
In diesem Moment fühlte sich die Last in meinem Herzen ein kleines bisschen leichter an – als hätte Jinho, ohne es zu wissen, etwas Licht in meine Dunkelheit gebracht.
•••
„Jetzt sag mir, wer war gemein zu dir?" fragte ich, während ich mich langsam nach unten beugte, um Jinho direkt anzusehen. Er versteckte sich beinahe hinter mir, seine kleine Hand immer fester in meinem Shirt verkrallt. Es brach mir fast das Herz, ihn so verletzlich zu sehen.
„Die da, sie haben mir meine Eisenbahn geklaut," sagte er dann, die Stimme so leise und vorsichtig, als würde er sich in meiner Nähe sicherer fühlen. Ich konnte das Bild von ihm und seiner Eisenbahn direkt vor mir sehen, wie er sie haltlos in den Händen hielt, während die beiden Jungs, die ihm anscheinend Angst machten, die kleine Bahn mit sich nahmen.
Ich konnte mir ein schiefes Lächeln nicht verkneifen. „Ach komm schon, Jinho, gegen so zwei Idioten kommst du doch noch locker an," sagte ich und versuchte, ihn aufzumuntern. Aber der kleine Kerl schüttelte nur den Kopf, seine Stirn in Besorgnis gefurcht.
„Nein, sie sind gruselig," sagte er mit einem flüsternden Ton, der mir einen Stich ins Herz versetzte. Er versteckte sich förmlich hinter mir, als wollte er sich in meiner Nähe verstecken. Es war, als würde er in diesem Moment zu mir aufblicken und mich als seinen Beschützer sehen.
Ich konnte nicht anders, als ihm zu versprechen: „Lass mich dir zeigen, wie das geht. Du musst dir sowas nicht gefallen lassen."
Mit einem entschlossenen Blick zog ich ihn an der Hand und steuerte auf die beiden Jungs zu. Sie hatten nicht wirklich die richtige Haltung, um sich wirklich mit mir anzulegen, aber ich wollte es auf meine Weise tun. Jinho sollte sehen, dass man sich nicht einschüchtern lassen muss, dass man sich wehren kann – aber auf eine Weise, die niemandem schadet.
„Ey, ihr beiden!" rief ich laut, sodass die beiden Jungs mich ansahen. Sie schauten auf, wobei einer von ihnen in einem unschuldigen Blick versuchte, sich nichts anmerken zu lassen, während der andere schon nervös die Schultern zusammenzog.
„Gebt dem Jungen seine Eisenbahn zurück. Er hatte sie zuerst," sagte ich ruhig, aber bestimmt. Jinho stand jetzt nicht mehr hinter mir, sondern direkt neben mir, seine Augen noch immer ängstlich, aber auch voller Vertrauen in mich.
Der kleinere der beiden Jungs grinste frech, offensichtlich nicht gewillt, sich einschüchtern zu lassen. „Sonst was?" fragte er, und seine Haltung war absolut provokant.
Ich konnte nicht anders, als zu schmunzeln, als ich ihm in die Augen sah. „Sonst sag ich dem Sandmann, dass ihr ganz böse Kinder wart. Wollt ihr wissen, was mit bösen Kindern passiert?"
Jinho, der plötzlich ganz ernst wirkte, sah mich an und antwortete mit fester Stimme: „Sie werden vom Sandmann entführt und er lässt sie nie wieder frei!"
Ich starrte ihn für einen Moment ungläubig an. War das wirklich Jinho, der da gerade so selbstbewusst sprach? Doch ich nickte ihm zu. „Exakt. Also entweder gebt ihr Jinho jetzt ganz brav seine Eisenbahn zurück, oder ihr landet im dunklen Keller vom Sandmann. Was ist euch lieber?"
Ich ließ die Worte wirken. Es dauerte nicht lange, da rannten die beiden Jungs schreiend davon, als wären sie vom Teufel persönlich verfolgt. „MAMAAAA!" hörte ich einen von ihnen rufen, während der andere in seiner Panik einfach die Eisenbahn vergaß.
Ich drehte mich zu Jinho und grinste. „Perfekt, jetzt hast du deine Eisenbahn wieder," sagte ich, als er sie aufhob. Doch in diesem Moment hörte ich ihn plötzlich murmeln:
„...aber meine Mama sagt immer, man soll anderen Kindern keine Angst machen."
Ich seufzte und winkte ab. „Manchmal ist ein bisschen Einschüchterung gar nicht so schlecht. Mit Worten darfst du andere immer bekämpfen, nur körperlich nicht. Der Rest geht klar."
„...Du bist so cool, TaeTae," sagte Jinho und grinste breit. Er kniete sich nieder und begann, mit seiner neu gewonnenen Eisenbahn zu spielen, als ob nichts passiert wäre.
TaeTae.
Ich hatte diesen Namen in so vielen Jahren nicht mehr gehört. Louisa hatte mich immer so genannt. Der Klang des Namens war mir so vertraut, doch gleichzeitig schlich sich ein unbestimmtes Gefühl der Trauer in mir. Warum? Warum fühlte sich dieses Wort plötzlich so schwer an?
Ich schüttelte die Gedanken ab, als Jinho plötzlich rief: „Oh! Da ist mein Onkel!" und aufgeregt in eine Richtung zeigte.
Ich blickte in die Richtung, in die er zeigte, und meine Augen weiteten sich, als ich Jungkook entdeckte.
„Jinho, du irrst dich. Das kann nicht dein Onkel sein," sagte ich, aber mein Lächeln war gequält, als ich ihn noch einmal ansah.
Jinho blickte mich verwirrt an, als ob ich etwas völlig Unlogisches gesagt hätte. „Doch, das ist mein Onkel Kookie," erklärte er, als wäre es das Selbstverständlichste auf der Welt.
Kookie.
Plötzlich durchfuhr mich ein Schock. Ein Gefühl von kaltem Stahl, das mir den Atem raubte.
Es war so surreal, so unmöglich, dass ich es kaum fassen konnte.
Es gab keinen Zweifel mehr. Jinho sah aus wie ich. Die gleichen Augen, die gleiche Haltung, das gleiche schüchterne Lächeln.
Der kleine Junge stand jetzt vor mir, und in seinen Augen konnte ich mehr sehen als nur Unsicherheit. Es war, als würde ich in den Spiegel blicken – ein Blick in meine Vergangenheit, in meine eigene Kindheit.
Und da war dieser Moment, in dem es mir wie ein Schlag ins Gesicht traf. Der Gedanke, der so lange im Hintergrund meines Bewusstseins geschlummert hatte, wurde plötzlich laut und unmissverständlich.
Jinho...
Er war mein Sohn. Und in diesem Moment fühlte es sich an, als würde mein ganzes Leben für einen Bruchteil einer Sekunde stillstehen.
Er hatte diese sanften, braunen Augen, die so viel mehr sagten als Worte. Sie waren warm, neugierig und voller Vertrauen, als könnte er mit jedem Schritt die Welt erobern, auch wenn er noch viel zu klein war, um es zu verstehen. Jinho hatte eine feine, fast zerbrechliche Anmut, die ihn wie ein kostbares Geschenk erscheinen ließ, und in seiner zarten Gestalt erkannte ich mich selbst – aber nicht nur das, auch die Wärme von Louisa. Ein Echo von ihr, das mich immer wieder heimsuchte.
Er war der lebendige Beweis für all das, was ich nicht getan hatte. Die Schuld, die mich verfolgte, wurde umso schärfer, als ich ihn anblickte. Er war mein Sohn. Der Gedanke traf mich wie ein Schlag, als ich es realisierte. Ich hatte nie wirklich darüber nachgedacht, wie es gewesen wäre, Vater zu sein, und doch war hier ein kleiner Junge, der mich „TaeTae" nannte, der in meine Augen blickte und mein Herz auf eine Weise berührte, die ich nie für möglich gehalten hätte.
Jinho war so naiv, so unschuldig und voller Vertrauen. Wenn er mich ansah, dann war es, als ob er in mir etwas sah, das ich selbst längst verloren hatte – eine Hoffnung, eine Möglichkeit, wieder gut zu machen, was ich in all den Jahren falsch gemacht hatte. Er war mein Sohn, und ich hatte nie für ihn da sein können.
Ich konnte es kaum ertragen, ihm in die Augen zu sehen. Der Schmerz der verpassten Jahre lastete auf meinen Schultern wie eine unerträgliche Last. Ich hatte nichts von ihm gewusst, nichts von seiner Existenz, während er ohne mich aufgewachsen war, während Louisa sich allein durch das Leben kämpfte. Und nun war er hier – ein kleiner Junge, der in mir nach etwas suchte, das ich nie gewusst hatte zu geben.
Als Jinho mit seiner Eisenbahn spielte, war es, als ob er in einer anderen Welt war – einer Welt, in der alles einfach und unschuldig war. Ein Lächeln spielte auf seinen Lippen, als er von einer Strecke zur anderen rollte, und seine Bewegungen waren so fließend und voller Freude, dass ich fast vergaß, was mich umtrieb. Doch das Lächeln konnte mich nicht von der tiefen Zerrissenheit in mir ablenken. Ich war nicht der Vater, den er gebraucht hätte. Ich war nicht der Vater, der er verdient hatte.
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