Kapitel 1

Das erste Schuljahr

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Auf der Suche nach einem freien Abteil wanderte ich durch den Hogwarts-Express. Schon verrückt - im ersten Moment sitzt man nichts ahnend auf seinem Bett und denkt, man sei ein normales Mädchen, und im nächsten wird einem gesagt, man sei eine Hexe.

Nachdem Minerva - oder Professor McGonagall, wie ich sie eigentlich nenne - und ich das Waisenhaus verlassen haben, hat sie mich über ihre Lüge aufgeklärt; sie sei gar nicht meine Großtante und ihr sei auch nichts über lebende Verwandte von mir bekannt. Das hatte mich zwar enttäuscht, aber nicht überrascht.

Es wäre schon ein großer Zufall gewesen, nach acht Jahren plötzlich Familie zu haben.

Als ich endlich einen freien Abteil entdeckt hatte, in dem sonst noch niemand saß, öffnete ich die Tür und setzte mich ans Fenster. Nachdenklich sah ich hinaus und erinnerte mich daran, wie Professor McGonagall mich in die Zaubererwelt eingeführt hatte - indem sie mir die Winkelgasse zeigte. Ich lächelte. Niemals würde ich vergessen, wie ich meinen Zauberstab erhalten hatte.

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"Wie wäre es mit diesem hier?" Mr Ollivander hielt mir bereits den vierten Zauberstab hin und so langsam verließ mich der Mut. Ich hatte bisher eine Vase, zwei Gardinen und ein Fenster zerstört, sowie einige Kartons aus Ollivanders Laden zu Boden wehen lassen. Blieb nur zu hoffen, dass dies nun der richtige Zauberstab war. Als ich ihn entgegennahm und ausprobierte, musste ich mich zusammenreißen, nicht die Augen zuzukneifen. Doch zu meiner Überraschung ging nichts kaputt - im Gegenteil. Sobald ich den Stab nutzte, spürte ich, dass er der richtige war. Wärme durchflutete mich, und ich wusste, ich hatte meinen Zauberstab gefunden - oder er mich.

Auch Mr Ollivander schien das erkannt zu haben. Anerkennend nickte er. "Schwarzdorn, 12 ½ Zoll, mit Thestralschweifhaar als Kern... Ein sehr mächtiges Exemplar." Er beugte sich etwas zu mir vor und senkte die Stimme, als wäre es gefährlich, wenn jemand anderes hörte, was er zu sagen hatte. "Von Schwarzdorn-Zauberstäben wird gesagt, dass sie gut zu Kämpfern passen, auch jenen, die die Dunklen Künste praktizieren. Auch das Thestralschweifhaar verleiht dem Besitzer Macht, aber sei dir einer Sache bewusst, Miss Clover: Macht ist nicht alles."

Verwirrt sah ich zu Professor McGonagall hinüber, welche mich mit undefinierbarem Gesichtsausdruck ansah. Was hatte Mr Ollivander damit gemeint?

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"Entschuldigung, ist hier noch Platz?" Ich wurde aus meinen Erinnerungen gerissen, als die Abteiltür aufging und ein Mädchen den Kopf hereinstreckte. Fragend deutete sie auf die leere Bank mir gegenüber.

Ich richtete mich auf. "Klar, setzt dich", murmelte ich. Ich hatte zwar gehofft, keine Gesellschaft zu erhalten, um über alles nachdenken zu können, was die letzte Zeit passiert war. Aber sie einfach wegschicken konnte ich auch nicht. Allerdings fragte ich mich, ob ich überhaupt irgendwann mit meiner jetzigen Lebenssituation klarkommen würde. Ich meine, ich war eine Hexe, verdammt nochmal!

Das Mädchen schloss die Tür und setzte sich. Zu meinem Missfallen begann sie, ein Gespräch aufzubauen. "Ich bin Daphne Greengrass." Sie hielt mir die Hand hin.

Ich zögerte, beschloss dann aber, nicht so abweisend zu sein, und nahm ihre Hand. Was kann es schon schaden, Freunde zu finden?, versuchte ich, mir einzureden. "Ich bin Ivy. Ivy Clover."

"Freut mich, dich kennenzulernen, Ivy", lächelte Daphne und lies meine Hand los. "Ist das auch dein erstes Jahr auf Hogwarts?" Ich nickte. "Cool!", fand Daphne. "Vielleicht kommen wir ja ins selbe Haus."

"Äh... Haus?" Verwirrt legte ich die Stirn in Falten.

Daphne machte große Augen. "Sag bloß, du weißt nicht, was die vier Hogwarts-Häuser sind!" Beschämt lächelnd zuckte ich mit den Schultern. Daphne sah mich einige Sekunden an. "Bist du Muggelstämmig?"

"Muggel... Was?" Was zur Hölle?

"Also ja...", seufzte sie und schien zu überlegen. "Eigentlich dürfte ich gar nicht mit dir reden..." Erneut seufzte sie, bevor sie wieder ein Lächeln aufsetzte und zu erklären begann. "Wenn deine Eltern beide Muggel sind, also Nichtzauberer, bist du muggelstämmig. Ich bin ein Reinblut, meine Familie besteht ausschließlich aus Hexen und Zauberern. Und dann gibt es noch die Halbblüter, dort kommt beides vor."

"Oh", machte ich und überlegte. "Ich weiß nicht, aber ich glaube, meine Eltern waren, äh, Muggel."

Sie hob eine Braue. "Was meinst du mit du glaubst?"

"Sie sind tot."

Sie öffnete den Mund zu einem "Oh", doch es kam kein Ton raus. Toll, Ivy, das war ja jetzt so gar kein Stimmungskiller...

"Das, äh, tut mir echt leid..." Daphne räusperte sich, wusste scheinbar nicht, was sie nun sagen sollte. Ich versuchte mich an einem beruhigenden Lächeln. "Ist ja nicht deine Schuld."

"Und, ähm, hast du Geschwister?", fragte sie vorsichtig.

"Nein, ich bin Einzelkind", antwortete ich. "Wie steht's mit dir?"

"Ich habe eine jüngere Schwester. Sie heißt Astoria und kommt erst in zwei Jahren nach Hogwarts. Ach ja, ich wollte dir ja noch von den Häusern erzählen." Sie richtete sich auf, scheinbar froh über den Themenwechsel. "Also, es gibt insgesamt vier. Jedes ist nach einem der Gründer von Hogwarts benannt - Godric Gryffindor, Helga Hufflepuff, Rowena Ravenclaw und Salazar Slytherin. Jedes Haus hat ein Wappen und einen Hausgeist, sowie einen Hausleiter. In welches Haus du kommst, kommt auf deinen Charakter an."

Obwohl mir der Kopf brummte von all den Informationen, bohrte ich nach: "Wie meinst du das?"

"Wenn du mutig bist, ist Gryffindor dein Haus", erwiderte Daphne. "Bist du besonders intelligent, kommst du nach Ravenclaw. Hufflepuff steht für Hilfsbereitschaft und Slytherin für Ehrgeiz." Sie grinste. "Dort komme ich wahrscheinlich hin. Wie steht's mit dir?"

"Äh..." Überfordert blinzelte ich. "Weiß nicht... Wer entscheidet das?"

"Das macht der sprechende Hut", antwortete Daphne, während sie nebenbei Geld aus ihrem Mantel kramte. Im nächsten Moment öffnete eine ältere Hexe die Abteiltür und fragte, ob wir Süßigkeiten kaufen wollten.

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"Ich rufe jeden einzeln auf. Dann tretet ihr vor und ich werde euch den sprechenden Hut aufsetzen. Der verteilt euch auf eure Häuser", fügte Professor McGonagall hinzu, bevor sie den ersten Namen auf ihrer Liste vorlas. "Hermine Granger."

Ein Mädchen mit braunen, verwuschelten Haaren trat nervös nach vorn und setzte sich auf den Stuhl. Ich erkannte sie wieder - sie war während der Zugfahrt in unseren Abteil gekommen und hatte nach der Kröte eines gewissen Neville Longbottom gesucht. Sie schien ganz okay, jedoch etwas... überheblich.

McGonagall setzte einen alten, braunen Hut auf Hermines Kopf. Nach kurzer Zeit rief er laut: "Gryffindor!", und Hermine stand auf, um fröhlich zu dem in Gold und Rot gedeckten Tisch zu gehen, an dem die Schüler jubelten.

"Draco Malfoy."

Ein blonder Junge stand auf und lief nach vorn. Nachdenklich sah ich ihm hinterher. Er hatte sich vorhin, als wir vor der großen Halle auf die Hausleiterin Gryffindors gewartet hatten, mit einem gewissen Harry Potter "unterhalten".

Wirklich gut verlief dieses Gespräch nicht.

Draco setzte sich und kaum, dass McGonagall den Hut auch nur über seinen Kopf hob, rief dieser schon laut "Slytherin!" und der silbergrüne Tisch klatschte. Sichtlich zufrieden begab sich Draco zu den anderen Slytherins.

Neben mir hörte ich einen Rotschopf zu diesem Harry Potter sagen: "Jeder, der auf die Seite des Bösen gewechselt ist, war in Slytherin." Ich runzelte die Stirn. Na und? Das heißt ja nicht, dass auch alle Slytherins böse werden.

Ich drehte mich von ihnen weg und wandte mich an Daphne. "Warum wollte Draco unbedingt mit diesem Harry Potter befreundet sein?", flüsterte ich ihr zu. Diese sah mich geschockt an, bevor sie die Augen schloss. "Stimmt ja, Muggel... Okay, kurze Zusammenfassung: Er ist der Einzige, der je den Todesfluch überlebt hat. Du-weißt-schon-wer wollte die Familie Potter umbringen, aber Harry hat aus irgendeinem Grund überlebt."

"Wer ist Du-weißt-schon-wer?"

Nun sah Daphne geschockt aus. "Oh, niemand besonderes... Nur etwa der gefährlichste Zaubrer aller Zeiten! Neben Grindelwald vielleicht."

Auch dieser Name sagte mir nichts, jedoch wollte ich nicht weiterfragen. Stattdessen sah ich nachdenklich zu Harry, der nicht weit von mir entfernt stand. Er spürte scheinbar, dass er beobachtet wurde, denn er sah auf und zu mir hinüber. Ich wandte den Blick ab, als der Hut das nächste Kind nach Hufflepuff schickte. So ging das eine Weile weiter; Harry und dieser Rotschopf - Ron Weasley - wurden Gryffindors und Daphne kam, wie sie es geahnt hatte, nach Slytherin. Schon bald darauf war ich an der Reihe.

"Ivy Clover."

Nach außen hin ruhig, begab ich mich nach vorne. Innerlich war ich unsicher. Was, wenn ich nun in ein Haus kam, in das ich eigentlich nicht hineinpasste? Daphne meinte allerdings, der Hut machte normalerweise keine Fehler... Und ich selbst konnte bis jetzt noch nicht einmal sagen, wo ich gern hinwollte.

Dennoch. Auf der Zugfahrt hatte ich die ganze Zeit überlegt, wo ich wohl am besten aufgehoben wäre, und war zu keinem Entschluss gekommen. Wenn nicht einmal ich das wusste, wie könnte es dann ein lumpiger alter Hut?

McGonagall, die mir kurz aufmunternd zulächelte, setzte mir ebenjenen lumpigen Hut auf und trat dann einen Schritt zurück. "Oh, wenn das so ist...", hörte ich plötzlich seine Stimme. Kein anderer schien zu hören, was der Hut sagte. Nur ich. In meinem Kopf.

Das war überhaupt nicht schräg.

Aber ich war nun eine Hexe. Da war sowas wohl Rutine, was?

"Du hast keine Ahnung von der Macht, die in dir schlummert... Aber es besteht kein Zweifel", murmelte der Hut, bevor er laut ausrief: "Slytherin!" Ich stand auf und begab mich zu dem Tisch, an dem Daphne saß. Sie und die anderen Slytherins applaudierten. "Wir sind im selben Haus!", quiekte Daphne, als ich mich neben sie setzte.

"Aber du meintest doch, nur Reinblüter kommen nach Slytherin", flüsterte ich ihr zu.

Sie zuckte mit den Schultern. "Der Hut wird schon wissen, was er tut."

Lächelnd sah ich nach vorn. Ich war zufrieden mit der Entscheidung des Hutes. Von nun an war ich eine Slytherin.

Damals wusste ich noch nicht, was das wirklich für mich bedeuten würde.

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