𝕄 𝕠 𝕠 𝕟
𝕵 𝖊 𝖔 𝖓 𝖌 𝖌 𝖚 𝖐
Unruhig wälzte ich mich in meinem Bett von einer Seite auf die Andere, doch ich fand keinen Schlaf. Nach einer Weile gab ich auf. "Taehyung?", fragte ich leise in die Stille. "Hm?", brummte er zur Antwort. "Ich kann nicht schlafen." Unsicher kaute ich auf meiner Unterlippe herum. Ich hörte Bettzeug rascheln, dann richtete der Blauhaarige sich auf. "Wenn du nicht schlafen kannst, sehen wir uns jetzt den Mond an." Verwirrt sah ich ihm in die Augen, die sogar in der Dunkelheit glänzten.
Der Ältere bedeutete mir aufzustehen. "Wenn ich nicht schlafen kann, mache ich das meistens. Den Mond ansehen." Ich folgte ihm ans Fenster und gemeinsam schauten wir in die Nacht. Hoch oben zwischen den Sternen leuchtete der Mond auf uns herab. "Sogar der Mond hat zwei Seiten", flüsterte der Blauhaarige neben mir. "Eine helle und eine dunkle." Ich war fasziniert, wie schnell er das Yin und Yang in den Dingen erkennen konnte. Wie präzise und klar er denken konnte. Wie er sich ernsthaft mit den Dingen beschäftigte und sich nicht nur an dem Glanz ihrer Oberfläche erfreute, ohne sich darum zu kümmern, was eigentlich da hinter lag.
"Hattest du jemals eine Person, die dir wichtiger war, als alles auf der Welt?" Sein Blick spiegelte Schmerz wieder und ich stockte, als seine Augen mich plötzlich direkt ansahen. Langsam nickte ich. "Ja", hauchte ich leise. "Meinen Dad." Taehyung sprach weiter und ein bitterer Unterton schlich sich in seine Stimme. "Dann weißt du auch sicherlich, wie es sich anfühlt so eine Person zu verlieren, nicht wahr?" Erneut nickte ich. "Ja", antwortete ich heiser. "Ich habe bis vor Kurzem noch bei meiner Oma gelebt. Wir hatten eine kleine Farm in Daegu. Schon als kleiner Junge wollte ich Farmer werden. Es passte alles gut, denn ich hatte nie ein gutes Verhältnis zu meinen Eltern, abgesehen davon, dass sie eine Firma leiten und schon damals häufig nicht zu Hause waren." Die Stimme des Blauhaarigen brach und seine braunen Augen verschwammen hinter den glitzernden Tränen, die sich langsam bildeten und über seine Wangen perlten.
"Meine Großmutter starb an einem Herzinfarkt." Mit zitternden Händen wischte er sich die Tränen weg. "Ich habe sie wirklich gern gehabt, verstehst du? Sie war mehr ein Elternteil für mich, als meine Mutter und mein Vater es je für mich sein werden." Der Ältere unterbrach den Blickkontakt und sah wieder aus dem Fenster. "Vielleicht ist sie jetzt irgendwo da oben. Auf der dunklen Seite des Mondes, wo wir sie nicht sehen können." Vorsichtig machte ich einen Schritt auf ihn zu und dieses Mal zögerte ich nicht den Blauhaarigen zu umarmen. Ich trat hinter ihn und umschlang seinen Oberkörper mit meinen Armen, bevor ich seinem Blick folgte und ebenfalls zum Mond emporschaute, der schon beinahe seine ganze Fülle erreicht hatte. Es dauerte nicht mehr lange bis Vollmond.
"Das Leben hat immer zwei Seiten", flüsterte ich in Taehyungs Ohr und zitierte damit genau seine Worte. Langsam wiegte ich uns hin und her und legte meinen Kopf auf die bebende Schulter des Blauhaarigen, bevor ich weitersprach: "Der Tod gehört genauso dazu, wie die Geburt. Aber findest du nicht auch, dass der Tod nur für die Zurückgebliebenen etwas schlechtes ist? Der Gedanke eine Person zu verlieren ist doch viel schmerzhafter, als der Gedanke, dass man selber stirbt." Taehyungs Weinen wurde immer weniger, bis es schließlich verstummte. "Es ist der Tod, der das Leben so wertvoll macht, nicht wahr? Alles ist vergänglich. Wir glauben immer, dass wir unsterblich sind. Wir verhalten uns, als wüssten wir, dass uns noch viel Zeit bleibt. Dabei wissen wir das doch gar nicht.", hauchte ich gegen den Hals des Älteren. "Und manchmal frage ich mich: was kommt danach? Was passiert mit unserer Seele, wenn wir unseren Körper verlassen haben? Ich lebe dieses Leben nur einmal... oder etwa nicht?"
Der Blauhaarige drehte sich in meiner Umarmung, sodass wir uns gegenseitig in die Augen sahen. "Gguk...", murmelte er leise, doch ich legte ihm meinen Finger auf die Lippen. "Es ist okay zu trauern, Tae. Aber du musst ihren Tod akzeptieren. Akzeptanz ist wichtig. Wir Menschen machen so häufig den Fehler uns an der klitzekleinen Hoffnung festzuklammern, dass alles nur ein Traum ist. Wir realisieren den Tod von dem, den wir verloren haben nicht. Wir reden in der Gegenwart von ihm und merken es manchmal gar nicht. Wir lassen nicht los. Du musst sie gehen lassen, Tae" Der Angesprochene nickte leicht und seine Augen glänzten im Mondlicht. "Wenn man nicht loslässt, wird der Schmerz immer schlimmer. Wir foltern uns praktisch selber, indem wir uns immer einreden müssen, dass diese Person tot ist, es aber nicht begreifen wollen. Oder wir denken an den Verstorbenen und realisieren erst im Nachhinein, dass er nicht mehr lebt. Verstehst du? Das tut so weh."
"Woran ist dein Vater gestorben?", fragte der Ältere sanft. Mit erstickter Stimme antwortete ich: "Lungenkrebs. Als wir die Krankheit bemerkt hatten, war es bereits zu spät sie zu besiegen. Weißt du, wie schrecklich es ist zuzusehen, wie eine Person, die du einst gesund und stark erlebt hast, Stück für Stück stirbt?" Taehyung schüttelte den Kopf. "Es ist sehr schmerzhaft", flüsterte ich.
"Das kann ich mir vorstellen", meinte der Blauhaarige leise. Dann erwiderte er endlich meine Umarmung und ich vergrub mein Gesicht an seiner Brust. "Es ist okay", nuschelte ich. "Zwar tut es mir immer noch weh, wenn ich daran denke, aber ich habe es inzwischen akzeptiert. Es ist Schicksal. Wir sind machtlos gegen das Schicksal." Taehyungs Umarmung verstärkte sich und eine Weile standen wir dort einfach und genossen die Nähe des Anderen.
Es war Taehyung, der die Umarmung löste und nach meiner Hand griff. "Lass uns nach draußen gehen", meinte er und verwirrt sah ich ihn an. "Jetzt? Um diese Uhrzeit?" Er nickte. "Nachts ist die Welt am Schönsten. Nachts ist die Luft am klarsten. Und all die Geräusche, die tagsüber die Welt stören, verschwinden." Ich ließ mich von dem Blauhaarigen in den Flur ziehen und wir zogen warme Jacken über unsere Schlafsachen. Dann schlüpfte ich in meine Winterstiefel und griff nach dem Haustürschlüssel. Taehyung lieh sich ein Paar warmer Stiefel von mir, denn er war in dünnen Turnschuhen gekommen.
Wir verließen das Haus und ich atmete vor der Haustür tief ein. Die frische Nachtluft strömte durch meine Lungenflügel und wohlig seufzte ich leise. der Ältere neben mir hatte mich lächelnd beobachtet. Ich drehte meinen Kopf zu ihm und erwiderte seinen Blick. "Wohin wollen wir gehen?" Der Blauhaarige zuckte mit den Schultern. "Ich bin neu in dieser Stadt. Such du dir was aus." Ich überlegte kurz und dann nickte ich. "Komm mit."
Die Straßen Busans waren wie leergefegt. Nicht ein einziges Auto fuhr um diese Tageszeit noch durch die Stadt. Über den Häusern der Stadt wölbte sich der klare Nachthimmel. Begeistert legte der junge Mann neben mir den Kopf in den Nacken und versuchte erneut den kleinen Wagen zu finden, was ihm auch gelang. Lächelnd betrachtete ich sein Seitenprofil, bevor ich meinen Blick wieder nach vorne richtete. Der Bürgersteig war nur spärlich von etwas altmodisch wirkenden Straßenlaternen beleuchtet. Das Stadtviertel, in dem ich lebte, wirkte insgesamt etwas altmodisch. Hier gab es keine Betonklötze von Häusern, die lieblos in die Gegend geklatscht worden waren, nein, jedes Haus war mit Mühe entworfen und gebaut worden. Und sie sahen alle verschieden aus. Kein Haus glich dem Anderen. Ich war froh hier zu leben.
Langsam veränderte sich die Umgebung. Die Straßen wurden breiter und befahrener. Die Häuser immer neumodischer und immer gleich aussehender. Wir näherten uns dem Industriegebiet der Großstadt. Immer mehr Hochhäuser ragten über uns in den Himmel. Manche waren gut in Takt gehalten, während Andere grau und ungepflegt wirkten. Ich steuerte auf eines der Hochhäuser zu. Es war eines der hässlichsten und ich bezweifelte, dass hier drin noch jemand wohnte. Es sah so leer und unbewohnt aus. Und ich war im Inneren des Gebäudes auch noch nie jemandem begegnet. Ohne zu zögern betrat ich das Treppenhaus. Das Gebäude besaß keinen Aufzug, weshalb wir die Treppe hochsteigen mussten. Vorbei ging es an den leeren Wohnungen. Teilweise standen sogar die Eingangstüren offen oder sie hingen zerbrochen und schief in den Angeln.
"Warst du schon mal in einer dieser Wohnungen?" Die Stimme des Blauhaarigen hallte durch das nur durch meine Handytaschenlampe beleuchtete Treppenhaus. Ich nickte. "Warte es ab." Im obersten Stock hielt ich vor einer verschlossenen Tür und öffnete das Vorhängeschloss, mit dem sie abgeschlossen war, mit meinem Schlüsselbund. Innen drückte ich auf den Lichtschalter. "Ta-da", meinte ich leise und drehte mich zu dem Älteren um. "Hier hat mein Vater seinen Rückzugsort eingerichtet", murmelte ich leise. "Wenn er Ruhe brauchte von dem Trubel zu Hause. Vor Allem als er krank wurde, kam er oft hier her. Er nahm mich manchmal mit. Er ging hier hin, bis er zu schwach war zu laufen."
"Wow", Taehyung drehte sich einmal im Kreis und sah sich um. Die Wohnung war nicht besonders groß, aber sie war gemütlich. Irgendwie hatte mein Vater es geschafft an eine vernünftige Stromversorgung zu kommen, sodass man eine kleine Gasheizung an einer Steckdose anschließen konnte. Im Wohnzimmer stand ein großes Sofa, welches mit rotem Cordstoff bezogen war. Davor befand sich ein kleines Holztischchen. In der Ecke des Raumes stand ein Sessel, mit dem selben Stoff bezogen, wie das Sofa. Eine der vier Wände des Raumes, war von einem großen Bücherregal eingenommen, an die anderen Wände hatte mein Vater Fotos gehängt. Ich fühlte mich in die Vergangenheit zurückversetzt, wo mein Vater mein jüngeres Ich mit hier her genommen hatte. Die Geschichten, die er mir damals jedes Mal erzählt hatte, schienen immer noch im Raum zu hängen.
Schnell schüttelte ich den Kopf um die Erinnerungen zu verjagen. Taehyung nahm inzwischen die Küche unter die Lupe. Er betrachtete den Gasherd und die alte Spülmaschine eingehend und ich sah wieder meinen Vater am Herd stehen und für uns Beide Nudeln mit Tomatensauce kochen. Es war so ziemlich das einzige Gericht, das er kochen konnte, ohne, dass es anbrannte. Ich setzte mich auf einen der beiden kippeligen Küchenstühle und betrachtete die Porzellanuhr an der Wand. Sie war stehengeblieben. In dieser Wohnung schien sowieso die ganze Zeit stehengeblieben zu sein. Nichts hatte sich verändert, seit mein Vater zuletzt hier gewesen war und seit seinem Tod hatte ich diesen Ort auch nicht mehr aufsuchen wollen, zu viel Schmerz bargen die Erinnerungen.
Meine Mutter wusste nichts von dieser Wohnung. Mein Vater hatte immer darauf bestanden, dass ich ihr nichts verriet. Das hier war sein letzter Rückzugsort. Vor jedem. Sogar vor meiner Mutter. Nur nicht vor mir. Und er kam nur hierher, wenn meine Mutter arbeitete, sie bekam nicht einmal mit, wenn er das Haus verließ. Ich stand wieder auf und begleitete den Blauhaarigen in den nächsten Raum. Es war das Schlafzimmer gewesen. Die Vorbewohner hatten das Bett hier gelassen und mein Vater hatte es ausgebessert und neu bezogen, obwohl er nur selten hier schlief. Er gab immer vor bei Freunden zu sein, wenn er hier übernachtete. Gleichzeitig war es auch das Arbeitszimmer. Ein Schreibtisch aus einem einfachen billigen Holz war in die Ecke gestellt worden und davor stand ein Drehstuhl.
Immer noch türmten sich Berge von Papier auf dem Tisch. Mein Vater war Autor gewesen. Er schrieb viel und die Geschichten, die er mir zeigte, hatten mir schon damals gut gefallen, obwohl es keine Kindergeschichten waren. Mein Vater schrieb über ernste Themen, seine Worte allerdings klangen verspielt. Mir hatte dieser Schreibstil schon immer gefallen.
Als letztes warf Taehyung noch einen Blick ins Bad, bevor er seine Besichtigungstor beendete und mir zurück ins Wohnzimmer folgte. "Von außen sieht das Gebäude so schäbig aus", meinte er, als wir uns auf das Sofa setzten. "Aber da sieht man mal wieder, wie sehr die Fassade täuschen kann." Der Blauhaarige lächelte. "Es ist wunderschön hier." Ich nickte. Dann fiel mir etwas ein. "Du hast das Schönste noch gar nicht gesehen." ich führte den Blauhaarigen wieder in die Küche und stieg auf einen der Stühle, um eine Klappe zu öffnen, die einer Dachbodenklappe glich. Die rostige Leiter quitschte, als ich sie auszog und dann die Metallsprossen nach oben kletterte. Der Ältere folgte mir.
"Das Dach", flüsterte er und stellte sich neben mich. Von hier oben hatte man einen wundervollen Ausblick auf die Stadt. "Das hier ist der Grund, warum mein Vater die Wohnung im obersten Stock gewählt hat", erwiderte ich leise und wir starrten beide stumm auf die funkelnden Lichter der Stadt, die zu unseren Füßen lag. "Manchmal saßen wir einfach hier oben und haben geredet. Über alles Mögliche. Egal, was ich auf dem Gewissen hatte, ich konnte immer mit meinem Vater darüber reden", sagte ich erstickt.
Ich zuckte zusammen, als der Blauhaarige nach meiner Hand griff und sie fest drückte. Doch dann erwiderte ich den Druck zart. Wir sahen uns gegenseitig in die Augen und auf einmal war ich dem Schicksal unglaublich dankbar, dass alles so war, wie es war. Wären die Dinge nie so gekommen, wie sie gekommen waren, dann würde ich Taehyung vielleicht niemals kennengelernt haben. Ich würde mich immer noch vor jedem Menschen fürchten und daran kaputt gehen, dass ich niemanden zum Reden hatte.
❋❋❋
"Jetzt komm schon du lahme Ente", kicherte der Blauhaarige und ich verdrehte lächelnd die Augen. "Ist ja gut, ich komme ja schon." Mit Schwung schulterte ich meinen Rucksack und dann verließen Taehyung und ich rennend den Schulhof. "Wer schneller beim Hochhaus ist." Und schon begann das Wettrennen. Da die Wohnung nicht weit weg von der Schule war, hatten wir keine Schwierigkeiten dort schnell hinzugelangen.
Es war unser Ort geworden. Der Ältere und ich gingen regelmäßig dort hin, seit ich ihm die Wohnung vor einem halben Jahr zum ersten Mal gezeigt hatte. Wir waren beste Freunde geworden und inzwischen schrak ich nicht mehr zurück, wenn er mich berührte. Meine Schüchternheit war wie verflogen und der Blauhaarige war mir mit der Zeit immer mehr ans Herz gewachsen. Außer Atem kamen wir bei unserem Ziel an und natürlich hatte mein bester Freund, der wesentlich ausdauernder war, als ich, den Wettlauf gewonnen. Ich schenkte ihm ein Lächeln, obwohl ich mich eigentlich darüber aufregen müsste, dass ich verloren hatte.
Gemeinsam warfen wir uns auf das rote Sofa und seufzten unisono auf. Dann griff ich nach der Tüte Chips, die auf dem kleinen Tisch vor uns lag. Ich dachte daran zurück, wie sich Taehyung schon am ersten Tag vor mich gestellt hatte und mich vor Jackson geschützt hatte, obwohl wir uns gar nicht kannten. Mein Leben war dunkel gewesen und kalt. Doch der klarsichtige und offene junge Mann neben mir hatte das überwiegende Yin wieder in Yang umgewandelt. Er hatte mir geholfen mein inneres Gleichgewicht wieder herzustellen. "Woran denkst du?", fragte Taehyung und stupste mich in die Seite. Ich wandte lächelnd den Kopf und sah ihn an. "Ich dachte daran, wie schön es ist, dass es dich gibt."
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