Zusatz 6

Ein Antrag wider Willen

Fuck.

Ich verlor mich in diesem Haselnussbraun. Das Licht der Fackeln ließ es beinahe wie flüssiges Gold schimmern und erinnerte mich an unsere Rundgänge, als wir noch Schulsprecher waren... damals als ich ihm am liebsten die Kehle zugeschnürt hätte, damals als ich nie im Traum daran gedacht hätte, mich eines Tages nach seinen Lippen zu sehnen, seinen Fingerspitzen, die kleine Blitze über meine Haut jagen ließen. Ich hätte mir nie erträumt, dass seinen Heiratsantrag abzulehnen, das wohl Idiotischste war, das ich je getan hatte.
Ich wollte mich bei ihm entschuldigen, meine Dummheit rückgängig machen, doch jetzt... ich sah ihn nur an - erinnerte mich an bessere Zeiten, als ich mir keine Sorgen um den Schmerz machen musste, den ich verursacht hatte. Als es keinen Schmerz gab... als das einzige, worum ich mich sorgte, meine Beziehung zu Tunia und Severus war...

Wenn man jung ist, hat man keine Angst zu fallen. Man rennt, man springt, man fliegt und der Aufprall? Der kümmert einen erst, wenn es soweit ist. Doch je älter man wird, je mehr Erfahrung man sammelt, desto vorsichtiger wird man, man hört auf zu fliegen, zu springen,... zu rennen.

Wenn man nicht rennt, kann man nicht stolpern, man fällt nicht, man schürft sich nicht mehr die Knie auf, man ist sicher in seinem kleinen Kokon aus Sorgen, eingepackt in Watte, sicher vor der Welt. Schnell kann diese Sicherheit zu einem Gefängnis der Gedanken wachsen, doch wenn man es bemerkt, ist es meist zu spät...

Die Angst zu fallen, die Angst nicht im Stande zu sein, wieder aufzustehen, sie hindern einen daran zu rennen, zu springen, zu fliegen. Sie hindern einen daran, Wagnisse einzugehen, sie hindern einen daran, man selbst zu sein.

Ich wollte das nicht mehr. Ich wollte wieder ich sein, ich wollte mich nicht länger von meiner Angst leiten lassen, nicht länger zusammengekauert am Boden festhalten. Ich wollte wieder frei sein.

James Potter, willst du mich heiraten?

Das Haselnussbraun entgleiste, es war, als würde er alles infrage stellen, was er je gehört hatte. Und ich? Ich konnte zunächst nicht begreifen, was vor sich ging, ehe mir die geschockten Gesichter der anderen zu verstehen gaben, dass ich das eben gerade laut gesagt hatte.

Ich hatte James Potter einen Heiratsantrag gemacht, ich... war gesprungen.

Und ich fiel.

James sah aus, als hätte ich ihm ins Gesicht geschlagen und ich wusste, ich hatte alles bloß schlimmer gemacht.

Ohne darüber nachzudenken, drehte ich mich um, drängte mich an einer entgeisterten Marlene vorbei und stürmte aus dem Büro des Schulleiters.

Aus der Ferne schien jemand meinen Namen rufen, doch ich rannte, rannte, stolperte, fiel. Wenn man Erwachsen wurde, wurde man vernünftig, man wusste, dass die Zeit, im Sand zu spielen, vorbei war, dass von Schaukeln zu springen lebensmüde sein konnte, dass jemandem seine Gefühle zu offenbaren schlimmer sein konnte, als jeder Messerstich. Man lernte, dass Herzen nicht aus Glas bestanden und dass sie doch zerspringen konnten, dass sie einen von Innen heraus verbluten lassen konnten.

Und die salzigen Tränen rannen über meine Wangen, spülten den Schmerz fort.

"Lily!"

James.

Wie in Trance hob ich den Kopf, sah ihn auf mich zueilen, das schwarze Haar unruhiger denn je, die haselnussbraunen von dunklen Schatten umgeben.

"Lily, was sollte das eben? Was - willst du mich noch mehr verletzen?"

Nein, nichts weniger als das.

Doch ich konnte kein Wort über meine Lippen bringen. Ich sah ihn nur an, die Tränen hinterließen ihre spinnennetzartigen Spuren auf meiner Haut und brachten mich dazu, schwer zu atmen.

"Lily?"

"Ich hatte Angst zu fallen!", rief ich laut, viel zu laut und schrill.

"Was?", fragte James verwirrt.

"Du hast mich gefragt, ob ich dich heiraten will und... und ich bin nun mal nicht mehr acht, ich springe nicht, ich... ich renne nicht und das mit dir, das wäre nicht bloß ein Marathon geworden, das wäre ein Sprint der schnellsten Sorte - wir - wir waren nicht lange zusammen, wir - ich - das ging so unfassbar schnell und egal wie richtig es sich angefühlt hat, es war doch einfach bloß verrückt. Wir sind so jung und, wenn wir gerannt wären, was wenn... wenn wir kurz vor dem Ziel gestolpert, wenn wir gestürzt wären und alles zu Bruch gegangen wär. Wie hätte ich damit umgehen sollen, wenn ich doch jetzt schon total am Ende war, wenn allein der Gedanke, dich heute zu sehen, so eine Angst in mir ausgelöst hat, dass ich beinahe nicht gekommen wäre - du, James Potter, bist schuld, dass ich mich so sehr in dich verliebt habe, dass diese Tage ohne dich, die schlimmsten meines Lebens waren. Dass ich so am Ende war, dass nichts auf dieser Welt mehr einen Sinn gemacht hat. Du, James Potter, bist schuld, dass ich mich so in dich verliebt habe, dass ich den Gedanken nicht ertragen konnte, dich verletzt zu haben und all meine Prinzipien über den Haufen geworfen habe, weil ich niemanden will, niemanden außer dir!"

Ein seichtes Lächeln zeichnete sich auf James Lippen ab.

"Nein!", rief ich wütend. "Sei nicht nett zu mir, nachdem ich so grausam zu dir war, sei nicht wie du, weil ich das nicht im geringsten verdient habe! Ich habe dich verletzt, ich habe nur an mich gedacht und..."

"Lily, jetzt hol mal Luft", unterbrach James mich unwirsch. "Verdammt, du hattest solche Angst zu rennen, dass du vergessen hast zu leben. Die Angst vor dem Fall hat dich dazu gebracht, stehen zu bleiben, doch Lily, das rennen ist nicht vorbei und wenn du nicht wieder aufholst, gehst du als Letzte ins Ziel. Statt zu fallen, hast du versucht auszusteigen, du wolltest aufhören und hast dabei vergessen, dass es nicht einmal zu versuchen, viel schlimmer ist, als zu fallen und es nicht ins Ziel zu schaffen. Denn so hast du nicht einmal eine Chance auf den Sieg. Statt zu setzen und zu gewinnen, hattest du solche Angst vor dem Verlust, dass du weggerannt bist, nur um zu bemerken, dass du so erst recht verloren hast."

Ich senkte den Kopf, konnte den traurigen Ausdruck in seinen Augen nicht länger ertragen. Er hatte recht, ich hatte verloren, ohne überhaupt gespielt zu haben.

"Es tut mir leid", murmelte ich.

"Was tut dir leid?"

"Einfach auszusteigen, ohne dabei zu bedenken, dass mein ganzes Team verliert, wenn ich weglaufe... dass ich nicht an dich gedacht habe."

James lächelte mich warm an und legte seine Hand auf meine Schulter, mit der anderen hob er mein Kinn an, so dass ich gezwungen war, ihm wieder in die Augen zu sehen, doch mein Blick blieb an seinen weichen Lippen hängen, an den Lippen, die ich die letzten Tage so unfassbar vermisst hatte.

"Lil?"

Ich sah auf.

"Ich will dieses Rennen gewinnen. Und das will ich mit dir an meiner Seite, ich will ins Ziel und es ist mir egal, wann, doch du sollst dabei in meinem Team spielen. Nur du."

"Heißt das?"

"Wenn du mich willst, Evans, gehöre ich dir - für den Rest unseres Lebens. Wie lange das auch sein mag."

"Also... heiratest du mich?"

"Nein."

Mein Herz zog sich schmerzlich in meiner Brust zusammen.

"Evans, das soll ein Antrag gewesen sein? Erinnerst du dich an meinen Antrag? Der war geplant, ich habe mit Sirius diese blöden Glühwürmchen trainiert bis uns aufgefallen ist, dass wir sie ja verzaubern können, habe ein unsichtbares Streichquartett besorgt und du fragst mich einfach so zwischen Tür und Angel und meinst wir wären quitt?"

Unsicher, was das jetzt zu bedeuten hatte, biss ich mir auf die Lippe.

"Geh wenigstens auf die Knie, Evans."

"Das hättest du wohl gerne, Potter."

Er grinste und nahm dann meine Hände. "Dann bin ich eben wieder dran. Brich mir nicht nochmal das Herz." Es sollte ein Scherz sein, doch die Wahrheit die dahinter steckte, raubte mir den Atem.

Und er ging auf ein Knie, zog das gleiche Samtkästchen wie schon beim ersten Mal aus seiner Manteltasche und blickte erwartungsvoll zu mir auf.

"Lily Evans, würdest du mir die Ehre erweisen, -"

"Nein." Und ich zog ihn hoch, nach ihm das Kästchen aus den Händen und ging selbst auf ein Knie.

"James Potter, ich habe dich für die Person gehasst, zu der ich dich gemacht habe und dich für den lieben gelernt, der du tatsächlich bist. Ich habe in meinem Leben viele Fehler gemacht, doch dich in mein Leben zu lassen, war keiner davon. Die Angst, alles zu ruinieren, hat mich stets geleitet, doch heute, wenn ich daran denke, dich an meiner Seite zu haben, macht mir selbst das Ungewisse keine Sorgen mehr. So lange du bei mir bist, kann mir nichts passieren, denn du bist das Licht, das meine Dunkelheit vertreibt, du bekämpfst die Monster unter meinem Bett, du bist der Mann, den ich mein Leben lang neben mir wissen möchte, der Mann, den ich bis ans Ende meiner Tage und darüber hinaus lieben werde. Also frage ich dich. James Potter, willst du mich heiraten und dieses Rennen mit mir gewinnen?"

"Ja, Lily Evans. Ich will dich heiraten."

Und er zog mich zu sich hinauf, schloss mich in seine Arme. Ich genoss die Wärme seines Körpers, den Duft, der von ihm ausströmte. Und egal, wie groß die Angst zu fallen auch gewesen sein mochte, in diesem Moment wusste ich, nie gab es eine Entscheidung in meinem Leben, die so richtig gewesen war.
Ich brachte den nötigen Abstand zwischen uns, nur um ihn durch unsere Lippen wieder zu verschließen. Merlin! Wie konnte sich etwas so gut und richtig anfühlen? Fordernd drückte ich mich enger an James heran, meine Hände fuhren seinen Nacken hinauf zu seinem Haar, während seine Finger meinen Rücken hinunter fuhren, über meine Hüften wanderten und mich so an ihn pressten, dass kein Atom mehr zwischen uns zu passen schien.

Mit geschwollenen Lippen lösten wir uns nach einiger Zeit voneinander, ich sog begierig den Sauerstoff auf, ohne den Blick von James abzuwenden.

Die Angst zu fallen?

Ich hatte mich gerade fallen gelassen.

Und er hatte mich aufgefangen.

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