Zusatz 5

Stillstand

Fuck.

Als ich noch ein kleiner Junge war, mich kaum auf den Beinen halten konnte, saß ich schon auf einem Besen, flog durch die Lüfte und spürte den Wind in den Haaren. Es war dieses Gefühl, die Freiheit, die mich in ihren Bann zog. Die Tatsache über den Dingen zu schweben, sie aus einem anderen Blickwinkel betrachten zu können - zu sehen, wie die Probleme, die ich glaubte zu haben, unter mir immer kleiner zu werden schienen. Fliegen bedeutete frei sein, ohne Sorgen, ohne Arbeit. Wenn ich flog, war ich in meinem Element, ich verstand mich auf Loopings, Quidditch und Besenkontrolle. Mein Besen war etwas, das ich verstand, etwas, das sich tatsächlich kontrollieren ließ und nicht nur den Anschein erweckte.
Quidditch war meine Stärke, darin war ich gut, ja fast unschlagbar - so kamen mir die ganzen anderen Fehler, die ich aufzuweisen hatte, viel winziger vor, beinahe unwichtig. Denn ich schwebte über dem Feld, den Quaffel unterm Arm, die Torringe im Blick. Niemand konnte mich stoppen.

Und dann geschah es, in meinem vierten Jahr - die Klatscher, die ich nicht hatte kommen sehen, schlugen mir zunächst gegen das Rückgrat und dann gegen den Hinterkopf, doch entgegen aller Erwartungen verlor ich nicht sofort das Bewusstsein - ich hielt mich oben, oben auf dem Besen, der mir doch bisher immer ein sicheres zu Hause geboten hatte. Krampfhaft klammerten sich meine Finger um den hölzernen Stiel, während ich meine Oberschenkel zusammenpresste.

Die Schreie, die durch das ganze Stadium schallten, waren bloß ein undurchdringbares Rauschen, wie wenn man ein Radio auf die falsche Sequenz einstellte. Der Quaffel fiel mir als erstes aus dem Arm, stürzte sich in die Tiefe und schlug auf dem grünen Gras auf, keiner der anderen Spieler machte sich die Mühe, danach zu greifen - viel zu gebannt, beobachteten sie mich, wie ich völlig regungslos in der Luft schwebte, nicht im Stande einen klaren Gedanken zu fassen.

Stillstand.

McGonagall war aufgesprungen, voller Zorn beschimpfte sie die zwei Hufflepuff-Treiber, die sich schuldige Blicke zuwarfen und sich wünschten, die Klatscher nicht geschlagen zu haben, doch so war das Spiel.
Dumbledore war aufgestanden, den Zauberstab erhoben, als erwartete er jeden Moment, dass ich vom Besen fallen würde.

Sirius, Remus und Peter saßen in den Rängen - Sirius hatte erst in unserem fünften Jahr zu spielen begonnen - und starrten mit offenen Mündern zu mir hinauf.

Und da war sie.

Ihre roten Haare zu zwei Zöpfen geflochten, die ihr über die Schultern fielen, die Augen weit aufgerissen, starrte sie mich an, die Lippen schmerzhaft zusammengepresst, als könnte sie spüren, was ich gerade fühlte. Wir hatten uns kurz zuvor gestritten wegen... ich wusste es nicht einmal mehr, vermutlich, weil ich etwas blödes gesagt hatte, sie darauf unwirsch reagierte und eins führte zum anderen, doch in diesem Augenblick, war nichts davon real, nichts war wichtig - denn ich brauchte Halt, und sie war gewillt ihn mir zu geben.

Ich war ein kleiner Junge, der das Fliegen liebte, der sich nach Freiheit und Abenteuern sehnte, der den Wind in den Haaren genoss und das Gefühl, wenn all die Probleme unwichtig erschienen, weil man so hoch über ihnen schwebte. Ich war ein dummer Junge, dem gerade die Sterne um den Schädel kreisten, der nicht so recht begriff, wie ihm geschah, als er schließlich doch das Gleichgewicht verlor und einfach vom Besen rutschte.

Ich war ein dummer Junge, der die Liebe seines Lebens mit elf Jahren in einem Zugwagon getroffen hatte und zu blöd war, zu erkennen, dass sie mich für mich lieben musste und nicht den aufgesetzten Charme, der ihr jede Lust zum Atmen raubte.

Ich war ein dummer Mann, der sich in eine Frau verliebt hatte, die jeden auf der Welt so sehr liebte und jedem seine Fehler verzieh - nur mir nicht...

Ich war ein Junge, der das Fliegen liebte, der die Stille genoss, die einherkehrte, wenn man die Welt und alle anderen unter sich ließ - ich war verloren in dem Meer aus Menschen und Gefühlen, die ich nicht erklären konnte, die ich nicht ertragen wollte.

Ich sehnte mich nach Freiheit und bemerkte erst, dass ich ein Gefangener in meinem eigenen Netz war, als es zu spät war und ich mich so darin verfangen hatte, wie kein anderer zuvor.

Ich rutschte vom Besen, die Stimmen verblassten immer mehr, die Schreie nahm ich nicht war - da war nur der Boden, das weiche Gras, das immer näher kam. Ich schloss die Augen bereit zum Aufprall - ihr Schrei, hatte ich ihn mir bloß eingebildet? War das alles bloß ein kosmischer Streich?

"James!"

Und ich riss die Augen auf, sah die Grashalme schon vor mir und schließlich wurde alles dunkel.

Ich liebte das Quidditchspiel, den es versprach Stille, als könnte die Welt sich einen Moment nicht drehen, als würden die Zeiger der Uhren aufhören zu ticken, als würde das Blut in den Adern gefrieren, die U-Bahnen stoppen und einfach alles... stillstehen.

Wenn die Zeit aufhörte zu existieren und ich einfach nur für mich war - nur ich und der Besen, ganz allein, hoch über dem Stress, dem Chaos, das die Welt vorantrieb. Ohne den Krieg, der in unseren Kreisen tobte, ohne die Zerstörung, den Hass und ohne die Zauberei.

Ich war einfach James Potter, ein dummer, dummer Junge, der lernen wollte, zu leben...

Doch dafür brauchte ich ihn...

Einen Stillstand.

**

"Fuck", sagte ich.

Und alle Augenpaare richteten sich auf mich, doch ich sah sie an. Das Grün ihrer Augen blitzte unsicher auf, die Wangen leicht gerötet sah sie auf ihre Fingerspitzen, konnte meinen Anblick nicht länger ertragen.

Ich wusste, was sie fühlte. Es war die reinste Folter, doch den Blick konnte ich nicht von ihr wenden. Nicht, wenn ihr Gesicht, das einzige war, dass ich in den letzten Tagen so unfassbar gerne sehen wollte, das mich so viel Schmerz gekostet hatte und doch das einzige war, was Heilung versprach.

Als ich noch klein war, war es einfach, dem Alltag zu entfliehen, auf einen Besen zu steigen und hinauf in die Lüfte zu sausen, die Sorgen hinter mir lassend. Heute folgten sie mir bei jedem Schritt, auf jedem Weg, ich war es leid, vor ihnen davon zu laufen, doch mich ihnen zu stellen?

Lily sah auf, um uns herum ging ein Raunen einher und auch wenn ich die anderen auszublenden versuchte, konnte ich nicht umhin die Gesichter meiner Freunde zu bemerken.

Sirius war gefesselt zwischen seiner Loyalität zu mir und der Freundschaft zu Lily, Remus sah unsicher zwischen uns hin und her, die Puzzleteile vor sich liegend, doch nicht so recht verstehend, was das Bild darstellen sollte. Peter war die Anspannung ins Mark gekrochen, er wagte es nicht, den Blick zu heben und Marlene... sie war unschlüssig - traute sich nicht Lilys Seite zu verlassen, doch sah mich aus aufmunternden Augen an, versuchte mir Mut zu machen, aber ich stand still.

Im Quidditch war ich ein Meister, der beste auf dem Platz, unbesiegbar und ein Held. Ich schmetterte die Bälle in die Tore, als wäre der Hüter nicht existent, flog einen Looping nach dem nächsten und sauste durch die Luft, doch selbst in meinem Element war ich einem Schlag ins Kreuz nicht gewachsen, hier am Boden...

Hier war ich machtlos, Durchschnitt, nichts besonderes. Ich war der dumme Junge mit den Streichen, den albernen Sprüchen und idiotischen Witzen. Ich war bloß ich, James Potter - nicht genug.

Nicht genug für sie.

Lily hob den Blick und auch wenn erst wenige Sekunden vergangen waren, hatte ich das Gefühl eine Ewigkeit nur damit zugebracht zu haben, ihr in die Augen zu sehen - das satte grün, so wunderschön wie die Farbe einer... Kröte...  der Gedanke an meine frühen Dichtkünste brachte mich innerlich zum Schmunzeln, doch nach außen hin rührte ich mich nicht.

Ich stand still.

Lily sah mir fest in die Augen, grün auf braun. Die Luft um uns herum knisterte bedrohlich, die Funken stoben in alle Richtungen, setzten mein Herz wieder in Fahrt, doch mit einem Schlag setzte es wieder aus. Es gab nur noch uns zwei, die anderen verblassten im Nebel der Illusion, unwichtig und vergessen.
Lily öffnete den Mund und die Worte sprudelten nur so hervor.

"James Potter, willst du mich heiraten?"

Mein Herz hörte auf zu schlagen, als ich unsanft auf dem Gras aufschlug.

Stillstand.

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