46. Eine Wahl, eine Entscheidung
Marlene musterte mich ungeduldig von Kopf bis Fuß, wie ich auf dem roten Samtsessel saß, das Gesicht in den Händen vergraben, die Beine angewinkelt und völlig verzweifelt. Mary hasste mich anscheinend, sie liebte James und ich stand ihr im Weg - das war doch alles überhaupt nicht meine Schuld, wie sollte ich ihr das denn klarmachen, wenn sie es sich einredete, um für ihre Misere einen Schuldigen zu haben. Was wollte sie hören? Dass ich James nie wieder sehen würde? Dass mir unsere Freundschaft tausendmal mehr bedeutete? Mary bedeutete mir viel, sehr viel, doch würde ich ihr genauso viel bedeuten, müssten wir so eine Unterhaltung doch überhaupt nicht führen, oder?
"Lily, wenn du nicht bald mit der Sprache rausrückst, hexe ich dich in die Unendlichkeit!"
Marlene hob wütend ihren Zauberstab und brachte mich so dazu, mich kraftlos vom Sessel zu erheben. Etwas erleichtert, dass ich nicht mehr wie ein bemitleidenswertes, angeschossenes Reh dasaß, setzte sie ein Lächeln auf und verschränkte die Arme.
"Ich werde hier gar nichts entscheiden, bis ich nicht mit Mary gesprochen habe!", patzte ich.
"Sie sollte sich mal entspannen, eine Chance hätte sie bei James sowieso nicht und du bist ihr gar nichts schuldig."
"Marls..."
"Nein! Es hat eine halbe Ewigkeit gebraucht, bis du und James zueinander gefunden habt, das lasse ich mir nicht durch diese Zicke kaputt machen!"
Ich stutzte. "...dir kaputt machen?"
"Ihr wart mein Langzeitprojekt."
Hatte sie das gerade wirklich gesagt? Merlin... was hatte ich bloß für eine beste Freundin? Kopfschüttelnd überging ich ihre letzte Aussage und stieg hinauf zu den Mädchenschlafsälen. Ich musste das mit Mary klären, komme was da wolle - ich war nie jemand gewesen, der solche Schwierigkeiten lange vor sich her schob, doch diese wenigen Schritte fühlten sich schwerer an, als alles andere. Die Entscheidungen, die ich jetzt traf, die Worte, die ich nun sagen würde, hatten immenses Gewicht. Was wenn ich falsch entschied?
Oben angekommen erblickte ich Alice, die gegen die verschlossene Tür klopfte und nach unserer Freundin rief, die sich offenbar eingeschlossen hatte.
"Mary!" Vergebens trat Alice gegen das dunkle Holz, doch nichts rührte sich.
"Ich möchte mit ihr sprechen, aber wie es aussieht, schaffst es nicht einmal du, sie zum reden zu überreden."
Ich lächelte matt. Was sollte ich auch groß zu Alice sagen? Sie verhielt sich wie Marys Leibwächterin und behandelte mich wie den letzten Eulendreck. Als würde ich mich nicht schon furchtbar genug fühlen.
"Ach Lily, du kannst es ihr nicht übel nehmen. Sie ist ganz schön fertig."
Ich biss mir auf die Zunge, um nicht loszuprusten. Das konnte doch nicht ihr Ernst sein, was sollte dieses ganze Affentheater überhaupt, wir waren doch nicht mehr in der vierten Klasse, als Marlene einen Brief an Bertie Higgs schrieb, obwohl Dorcas ihn damals toll fand. Das hatte zu einem riesigen Chaos geführt und sollte sich hier auf keinen Fall wiederholen.
Ohne auf eine Antwort meinerseits zu warten, fuhr Alice einfach fort: "Mary ist bestimmt schon seit Mitte letzten Schuljahres in James verliebt, doch egal was du getan hast, wie gemein du zu ihm warst, er blieb standhaft bei seiner Aussage, du wärst die Eine. Er flirtete zwar recht häufig auch mit anderen Mädchen, doch Mary war nie dabei, er beachtete sie überhaupt nicht richtig. Als du dann mit Rondy zusammen warst, erhoffte sich Mary endlich eine Chance, doch auch noch während dieser Zeit war er in dich vernarrt. Ich hatte gar nicht mitbekommen, wie sehr sie für James schwärmte, bis... ihr Bruder..."
Ich schluckte schwer bei dem Gedanken an Marys Bruder, der vor wenigen Monaten von Todessern ermordet wurde. Mary war unglaublich stark, ganz anders als es den Anschein machte. Sie war nicht dieses zerbrechliche Püppchen, für das sie immer gehalten wurde.
"Ich fühlte mich schlecht, sie vernachlässigt zu haben und wollte ihr helfen, James zu gewinnen und dich von ihm abzubringen..."
"Bitte?!" Das konnte doch nicht wahr sein, das durfte nicht wahr sein.
"Ach Lily, du warst doch sowieso mit Rondy zusammen, also hab ich dir bloß eingeredet, dass er sehr gut zu dir passt - also einfach das Gegenteil zu dem, was Marlene tat."
Ich konnte es nicht fassen, das war doch alles komplett verrückt.
Marlene hatte nichts weiter getan, als mir klarzumachen, dass ich schon ziemlich lange, irgendwelche Gefühle für James hegte, doch Alice hatte versucht, das zu sabotieren, weil sie mich von James fernhalten wollte?
"Alice... wieso?"
"Mary ist meine beste Freundin."
Ich nickte stumm, blickte zu Boden und schluckte schwer.
"Heißt das jetzt, Mary verlangt eine Entscheidung von mir? Sie oder er?"
Alice sah mich verstört an, als wären meine Worte mehr ein schlechter Scherz und keine ernstgemeinte Frage.
"Lily, was stimmt denn nicht mit dir? Da gibt es nichts zu entscheiden, du entscheidest dich für Mary, das ist doch klar. Das mit James und dir ist sowieso nur eine Phase und Mary ist deine Freundin, du hast dich immer für sie zu entscheiden!"
Wenn ich das aber gar nicht wollte? Mary war meine Freundin, doch Marlene hatte Recht, es hatte Ewigkeiten gebraucht, mir einzugestehen, dass ich ihn mochte und wollte ich das jetzt einfach so aufgeben, weil Mary ihn auch toll fand und mir nicht einmal genug vertraute, um es mir zu sagen?
"Und egal was passiert, ich werde mich immer für Mary entscheiden."
"Ich will jetzt mit ihr reden."
"Nein", erwiderte Alice, doch in dem Moment öffnete Mary die Tür.
"Komm rein", sagte sie und trat einen Schritt zu Seite.
Der Schlafsaal sah aus wie immer, bis auf die Tatsache, dass auf Marys Bett etwa zweihundert verheulte Taschentücher lagen. Sie selbst sah auch nicht viel besser aus und zog aus einer der Schubladen an ihrem Nachttisch eine Tafel Schokolade heraus. Typische Muggelschokolade, so wie sie es bei uns zu Hause in Hülle und Fülle gab.
Unsicher, was ich tun sollte setzte ich mich auf Marlenes Bett und blickte zu Mary, die sich zwischen die vielen Tempos setzte und begann an ihrem Nervenfutter herumzuknabbern.
"Mary, ich..."
"Du willst dich nicht entscheiden? Das verlange ich auch nicht."
Das war ja einfacher als Gedacht. Erleichtert wollte ich sie schon umarmen, doch sie hob abwehrend die Hand, so dass ich wusste, ich sollte keinen Schritt weitergehen.
"Du brauchst dich nicht entscheiden, weil ich das tun werde. Ich und du, wir sind geschiedene Leute."
"Was?!"
Meinte sie das etwa ernst? Wäre ich nicht so geschockt gewesen, hätte ich mich über dieses kindische Benehmen bestimmt beschwert, doch ich stand bloß in der Bewegung erstarrt da und konnte keinen weiteren Ton herausbringen.
"Lily, bitte geh jetzt. Ich möchte gerne allein sein."
Ich verließ den Raum, vorbei an Alice, vorbei an Marlene, hinaus auf den Gang, durch die Flure, in meinen Gemeinschaftsraum, in mein Zimmer und in mein Bett. Ich hatte gerade wohl zwei Freundinnen verloren und das für einen Jungen, mit dem ich seit nicht einmal einer Stunde etwas Beziehungsähnliches führte.
Ich blickte auf die Uhr, es war kurz vor sechs, die Quidditchparty begann wohl jede Sekunde, doch ich verspürte in keinster Weise das Bedürfnis, mich dort nach Heute noch blicken zu lassen. Lieber blieb ich hier und starrte den restlichen Abend gegen die gegenüberliegende Wand.
Ein Klopfen ertönte, auf Marlene hatte ich nun wirklich keine Lust, doch es war nicht Marlene.
"Lily?" Das war James.
"Ich bin hier", gab ich monoton zurück.
Er öffnete die Tür einen Spalt und lunste hinein, ehe er ganz eintrat.
"Alles okay?" Mit einem Blick auf mein Gesicht, beantwortete er sich seine Frage selbst und setzte sich neben mich. Zögerlich legte er einen Arm um meine Schultern und zog mich leicht an seine Brust. Ich schloss die Augen und sog seinen Duft ein, so typisch James. Ein kleines Lächeln huschte über meine Lippen, als ich meinen Kopf in seiner Halsbeuge vergrub.
"Aber... die Quidditch-party?", murmelte ich.
"Die ist mir völlig egal."
Er schlang auch noch den anderen Arm um mich und gab mir einen Kuss auf den Scheitel.
"Egal wofür du dich entschieden hast, ich respektiere deine Antwort, aber Lily?"
"Hm?"
"Ich mag dich wirklich sehr."
Ich schob ihn leicht von mir weg, so dass ich sein Gesicht sehen konnte, eine kleine Träne lief mir über die Wange, doch er strich sie ganz behutsam weg.
"Gut", murmelte ich und küsste ihn ganz zärtlich. "Ich dich nämlich auch."
Ich würde das mit Mary klären, doch ich wollte James nicht aufgeben. Ich wollte es zu diesem Zeitpunkt noch nicht sehen, doch das zwischen uns war viel mehr, als eine bloße Verliebtheit - das war echt und wahrhaftig.
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