22. Geist

"Lily ist wieder da!", rief Marlene begeistert, als ich den Gryffindorgemeinschaftsraum betrat. Sie saß zusammen mit den Rumtreibern, Alice und Dorcas um den Kamin herum in den roten Samtsesseln, die furchtbar bequem aussahen. Am liebsten hätte ich Sirius runter geschubst  und mich in den weichen Stoff gekuschelt, aber ich hatte Marlene versprochen ihm nicht allzu böse zu sein, wegen dem missglückten Streich, wodurch ich drei Tage im Krankenflügel verbringen musste.
Es war grauenvoll, Madame Pomfrey beobachtete mich ständig, sie meinte mein Immunsystem sei zusätzlich zu den Schäden von dem blauen Pulver stark geschädigt, weil ich die letzten Jahre wenig auf meine Gesundheit geachtet hatte und mir wochenlang die Nächte um die Ohren geschlagen hatte, um in jedem Fach mein Ohnegleichen zu erhalten.
Also bekam ich von ihr, statt bloß den Heiltränken, auch noch Stärkungssäfte, die einfach nur nach Koboldmist schmeckten. Es war widerlich.
Das Portrait fiel hinter mir zu, da stand James schon auf und bot mir freundlicherweise seinen Sessel an. Merlin, sofort schoss mir das Blut in die Wangen.
Nach diesem Wangenkuss hatte er mich nicht mehr besucht, weswegen ich mehr als froh war, denn offensichtlich konnte ich mich in keinster Weise konzentrieren. Marlenes Gekicher war dann auch keine große Hilfe. Das alles brachte mich so aus der Fassung, dass ich mir auf diesem 3-Meter langen Weg vier Mal den Zeh stieß und dann schließlich humpelnd auf dem Sessel Platz nahm.
"Hat Madame Pomfrey dir Drogen verabreicht?", fragte Remus lächelnd und hob eine Augenbraue.
Augenrollend schüttelte ich mit dem Kopf. Das weiche Samt des Sessels fühlte sich unfassbar gut an. Der Krankenflügel war gut ausgestattet, das war keine Frage, doch die Betten waren furchtbar unangenehm. Vielleicht war das Madame Pomfreys Strategie, die Schüler so schnell wie möglich loszuwerden.

James, der mir seinen Platz überlassen hatte, stand mit verschränkten Armen, einem milden Lächeln neben Sirius und musterte mich. Sein Blick lag zuerst auf meinen Knien, doch recht schnell wanderte er zu meinem Gesicht. Als er merkte, dass ich ihn dabei beobachtete, wie er mich beobachtete, wurde er sofort nervös, grinste blöd und fuhr sich mit der Hand über den Nacken, doch er wandte den Kopf nicht ab, wir sahen uns weiterhin einfach nur an.
Mir fielen Dinge an ihm auf, die ich zuvor nie bemerkt hatte.
Er hatte ganz kleine, wenige Sommersprossen über den Nasenrücken verteilt, zudem eine kleine Narbe unter der Augenbraue, die vermutlich vom Quidditch herrührte.
Seine männlichen Gesichtszüge, waren nichts Neues, das markante Kinn, die schmale Nase, die rehbraunen Augen.
"Fertig mit Anstarren, ihr Süßen?", fragte Black und sofort erschraken wir beide aus unserer Starre.
"Haben wir..."
"Nein, wir... niemals..."
Marlene quiekte erfreut, worauf ich ihr einen meiner Mörder-Blicke zuwarf. Das Blut schoss in meine Wangen, doch bevor jemand eine weitere Peinlichkeit loslassen konnte, stieß Alice einen erstickten Schrei los.

Das Portrait schwang beiseite und ein kleines blondes Mädchen trat ein. Ihre Schuluniform hing ihr über der Schulter, sie trug noch eine Jeans und eine Bluse.
Ihre Augen waren rot und geschwollen, dicke dunkle Ränder hatten sich unter ihnen breit gemacht. Sie wirkte beinahe nicht real, ihre Haut war blass und die Haare hingen an ihr strähnig herab.
"Mary? Du solltest doch erst in zwei Tagen wieder da sein."
Für den Kommentar trat Dorcas Marlene wütend auf den Fuß.
"Mary, wie geht es dir?", fragte Alice liebevoll und stand auf, um ihr die Uniform abzunehmen und sie daraufhin in die Arme zu schließen. Mit offenem Mund starrte ich Mary an, die an Alice' Schulter bitterlich zu weinen begann.
Das schlechte gewissen übermannte mich, ich hatte Mary total vergessen, während ich im Krankenflügel gelegen hatte. Ich war eine furchtbare Freundin!
James stellte sich neben Alice und Mary und wartete bis sie sich voneinander lösten, um sie dann ebenfallls zu umarmen. Mary schmiegte ihr kleines Köpchen an seine Brust und atmete schwer, Er legte seine Arme um ihren Oberkörper und zog sie näher an sich heran, plötzlich hatte ich furchtbare Magenschmerzen. Bedrückt wandte ich den Blick ab, zu meinem Glück bemerkte das niemand.

Es war seltsam Mary wieder bei uns zu haben. Sie war da, aber auch wieder nicht. Mary sagte nichts, sie war beinahe stumm, als wäre sie selbst schon tot... nur noch ein Geist, eine leere Hülle, die sich vom Diesseits verabschiedet hatte.
Den ganzen gestrigen Abend hatten wir damit verbracht, für Mary dazusein, besonders James und Alice hatten sich um sie gekümmert. Natürlich, ich wusste wie verantwortlich James sich für die ganze Situation fühlte, doch es wirkte so seltsam, ihn an Marys Seite zu sehen.
Gegen 23:00 Uhr verabschiedeten James und ich uns, um in unseren Gemeinschaftsraum zu gehen. Stillschweigend trotteten wir nebeneinander her, doch etwa 100 Meter vor dem Portrait, das endlich in meine Freiheit führend würde, wo ich mich in meinem Zimmer einschließen und schlafen könnte, hielt James mich auf. Er packte meinen Arm und sah mir tief in die Augen. Das rehbraun leuchtete durch den Kerzenschein, es war... wunderschön.
Meine Atmung wurde flach, wir standen uns furchtbar nah, ein gutes Gefühl, aber ich war... Rondys Freundin, ich konnte das immer noch nicht so ganz fassen und wenn mich jemand fragen würde, würde ich es noch immer abstreiten.
"Lily?", sagte er mit rauer Stimme.
"Ja?"
Sekunden, Minuten oder vielleicht auch Stunden vergingen, doch keiner sagte ein Wort, wir standen da und sahen uns in die Augen, doch dann: "Gute Nacht."
Und er ging weiter, ließ das Bild beiseite schwingen, hielt es mir auf und verschwand dann hinter seiner Tür.

"Marlene, renn doch nicht so!", nörgelte ich, während ich mir im gehen/humpeln meinen Schuh zuschnürte.
"Lily, ich hab Hunger und später treffe ich noch Dorian. Wir wollen zusammen am See picknicken!"
Dorian Liboviz war Marlenes neuer Schwarm. Er kam aus Hufflepuff und diente eigentlich nur dazu, Sirius eifersüchtig zu machen, doch ich war mir ziemlich sicher, dass Black das total egal sein würde. Ich würde Marlene ihre Hoffnung ja nie nehmen, doch ihr ständiges Gerde über dieses ach-so-tolle-Date brachte mich zum rasen.
Ich musste immer an Rondy denken, an sein Gesicht, die traurigen Augen, die mich fragten, "Lily, sind wir ein Paar?"
Offenbar hatte James etwas gesagt, dass ihn total verunsicherte, doch ich wusste ja selbst nicht, was wir waren. Es war schön mit ihm zusammen zu sein, doch war das das Gefühl von Liebe? Konnte ich überhaupt so etwas für ihn empfinden? Es waren gerade Mal zwei Schulwochen vorbei, so schnell könnte ich mich niemals verlieben.
Ich war noch viel zu jung, was wusste ich denn schon? Liebe? Was ist das denn zum Teufel! Wer soll das denn wissen? Das war doch alles nur ,wie Marlene sagen würde, bescheuerter Eulendreck!
Ich wollte Rondy Sicherheit schenken, so dass er sich besser fühlen würde und bejahte seine Frage. Der ganze Druck fiel deutlich von seinen Schultern ab und Erleichterung machte sich breit. 
"Wenn ihr picknicken geht, brauchst du doch jetzt nichts essen, sonst hast du später keinen Hunger mehr."
Schockiert drehte sich meine beste Freundin um.
"Lily, wie lange kennen wir uns jetzt? Ich hab' immer Hunger!"
"Stimmt auch wieder."

Wir betraten die große Halle, die anderen saßen schon am Tisch mit voll beladenen Tellern, nur Marys Teller war leer bis auf eine halbe Scheibe Toast mit Honig, die sie noch nicht angerührt hatte.
Sie wirkte so verloren in dem ganzen Getümmel. Ein kleines Lamm inmitten einem Rudel von Wölfen. Die Blicke, die ihr zugeworfen wurden, so voller Mitleid und Überheblichkeit. Sofort wurde mir schlecht.
Was Mary erlebt hatte, passierte zurzeit in der echten Welt jeden Tag. Es könnte morgen meine Familie treffen oder andere Muggel. Der dunkle Lord würde nicht aufhören, er würde weitermachen bis alle Muggelstämmigen ausgelöscht wären. Wie konnte jemand nur so grausam sein?
"Lily, ich will was essen! Ich verhungere gleich!"
Neben Mary saßen Alice und James, beide versuchten für sie da zu sein, auf ihre eigene Art. Alice nahm sie immer wieder in den Arm und spendete ihr Trost, während James ihr Mut zusprach und hier und da einen blöden Witz losließ.
"Marls, sei mir nicht böse, aber ich glaub ich habe gar keinen Hunger. Ich werd in die Bibliothek gehen und lernen."
Sie musterte mich und zog dann die Augenbrauen zusammen.
"Wenn du weiter so wenig isst, wirst du vom Fleisch fallen."
"Blödsinn. Ich hab noch genug Speck auf den Rippen."
Marlene schnaubte verächtlich und warf die Haare zurück. "Wir sehen uns später. Denk dran, du hast heute Abend wieder einen Rundgang mit Jamesi." Sie wackelte mit ihren Augenbrauen und ging dann zum Gryffindortisch.
"Mist", murmelte ich, "das hätte ich wirklich vergessen..."

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