✓|1.1. Morgenstunden
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Lily Evans
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Wumms!
Der Deckel meines großen, ledrigen Schrankkoffers flog ein letztes Mal mit einem ohrenbetäubenden Knall zu. Nun hatte ich endlich alles beisammen - alles beisammen für meine letzte erste Zugfahrt nach Hogwarts, die Schule für Hexerei und Zauberei.
Ein breites Lächeln stand mir ins Gesicht geschrieben. So sehnlichst hatte ich mich die ganzen Ferien nach diesem Tag verzerrt, doch nun, da er endlich gekommen war, sog ich wehmütig all die Eindrücke auf, die mir mein altes Kinderzimmer noch zu bieten hatte.
Die alte, gelbe Raufasertapete schälte sich schon langsam von den Wänden, während mein altes Brettspielregal unter einer zentimeterdicken Staubschicht versauerte.
Ich hätte Mum in den letzten Monaten erlauben sollen, hier Staub zu wischen. Das grenzte ja schon beinahe an ein Verbrechen, wie furchtbar es hier drin aussah...
Ich lachte über meine eigenen Gedanken und schulterte meine Tasche. Es war Zeit, ein weiteres Mal Lebewohl zu sagen.
Seit letztem Januar war ich siebzehn Jahre alt und damit - in der Zaubererwelt - volljährig, was mir erlaubte, immer dann zu zaubern, wenn es mir beliebte - nur eben nicht unter Muggeln, die nichts von unserer Welt wussten. Demnach dirigierte ich meinen tonnenschweren Koffer mit meinem Zauberstab die Treppenstufen hinab, wo er sich nahtlos in die kleine Ecke zwischen unserer Garderobe, dem Schirmständer und der Tür einfügte, als wäre sie geradezu für ihn gemacht worden.
"Guten Morgen, Lily-spätzchen!", rief meine Mutter aus der Küche, als sie mich im Türrahmen erblickte.
"Morgen, Mum!"
Sie stand gerade am Herd und briet ihre allseitsbekannten Spezial-Abschieds-Pancakes, die es immer nur dann zum Frühstück gab, wenn ich nach Hogwarts aufbrechen musste. Der göttliche Geruch nach Ahornsirup, Zucker, Waffelteig und verbrannter Butter stieg mir in die Nase und zauberte mir ein breites Lächeln ins Gesicht.
Im angrenzenden Esszimmer saß mein Vater, dessen Gesicht hinter der üblichen Morgenzeitung versteckt war, als er jedoch meine Stimme vernahm, ließ er das Papier sinken und strahlte mir entgegen. "Lily-bär!"
Ich schüttelte lächelnd den Kopf - diesen albernen Spitznamen würde ich mein Leben lang wohl nicht mehr loswerden.
"Guten Morgen, Dad!" Ich schloss ihn in die Arme und drückte ihm einen Kuss auf die bärtige Wange, ehe ich mich gegenüber von ihm niederließ.
Ich deutete auf die Zeitung. "Was gibt es Neues in der Welt?"
Mein Dad gluckste fröhlich. "Ach nicht viel, die Politiker lügen, die Banken gehen pleite, im Sport sind die Briten weiterhin eine Niete und alles wird teurer."
"Wenigstens darauf kann man sich verlassen", schmunzelte ich und klaute mir einen der Pancakes, die Mum gerade auf einem großen Teller zu Tisch brachte.
Dad lachte bellend und tat es mir nach.
Herzhaft biss ich hinein, als Mum mich rügend musterte. "Lily, wo bleiben deine Manieren? Deine Schwester sitzt noch nicht einmal bei Tisch und du langst schon zu, als wärst du am Verhungern."
Ich schluckte. "Ich bin ja auch am Verhungern."
Mum schürzte die Lippen, bevor sie meinem Vater mit dem Küchentuch eins überzog. "Und du! Ein tolles Vorbild bist du für unsere Tochter!"
Dad setzte seinen besten Hundeblick auf und schmollte. "Ich bin auch am Verhungern."
Kopfschüttelnd verschwand Mum wieder vor dem Herd, doch nicht ohne sich selbst einen der Pancakes zu stibitzen, ein verschwörerisches Lächeln auf den Lippen versteckt.
"Ha!", rief Dad triumphierend. "Du bist nicht besser als wir!"
Sein Gesicht verschwand wieder hinter der Morgenzeitung, begleitet von einem lauten Stöhnen, nach dem er die letzten Spielergebnisse gefunden hatte. Wann würde er endlich die Hoffnung aufgeben, dass wir in einem anderen Sport als Polo gewinnen könnten...
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Petunia, meine Schwester, gesellte sich erst viel später zu uns an den Esstisch, als beinahe schon alle Pfannkuchen verputzt in unseren Mägen lagen.
"Da bist du ja, Tunia-schatz", grüßte meine Mutter den Morgenmuffel, der soeben in die Küche geschlurft kam.
Petunias blonde Haare hatte sie sich auftupiert und in ein aufwendiges Zopf-Knoten-Flecht-Gebilde verwandelt. Ihr pinker Rock biss sich fürchterlich mit dem purpurnen Pullover, doch statt etwas in diese Richtung anzudeuten zog ich bloß die Mundwinkel in die Höhe und wünschte ihr einen "Guten Morgen", den mit einem halbherzigen Nicken quittierte und sich neben Dad auf einen der Eichenholzstühle setzte, wo sie zuerst nach einem Glas Orangensaft langte, das sie fest umklammert hielt, als wäre es der Rettungsring, der sie aus den tiefen Meeresströhmen retten sollte.
Keiner von uns sagte ein weiteres Wort. Es versetzte mir noch immer einen Stich ins Herz, Petunia so abwesend zu sehen. Es gab einmal eine Zeit, da war sie meine beste Freundin gewesen, wir hatten uns alles anvertraut, doch dann... kam heraus, dass ich eine Hexe war... und sie nicht.
In ihren Augen wurde ich zu einem Freak, mit dem sie nichts mehr zu tun haben wollte und unsere Freundschaft war gestorben.
"So Tuni, wie geht es Vernoff?", fragte mein Dad, um das Schweigen zu brechen.
"Vernon!", korrigierte Petunia scharf.
Vernon Dursley war Petunias neuer Freund, ein Mann der unausstehlichsten Sorte. Über die Sommerferien war er mehrere Abende zum Essen eingeladen gewesen und hatte uns jedes Mal aufs neue die unglaublich uninteressante Geschichte erzählt, in der ihm sein Vater einen Job bei der Firma Grunnings besorgt hatte, wo er nun jeden Tag in der Produktion harte Sieben-Stunden-Schichten schieben musste, doch wie ein Traum für ihn in Erfüllung gegangen war, da er endlich einer ihm angemessenen Arbeit nachgehen konnte.
Zeitgleich schaffte er es die Kochkünste meiner Mutter niederzureden und Dad's Liebe zum Sport ins Lächerliche zu ziehen.
"Entschuldige Schätzchen", erwiderte Dad in einem fast überzeugenden Tonfall, "Vernon, selbstverständlich, wie geht es ihm denn?"
Während Dad Vernon für gewöhnlich genauso offen hasste wie ich, hielt Mum sich bedeckt, was ihre Bedenken anging. Sie plagte noch immer die Angst, wir könnten Petunia gänzlich verlieren, doch meiner Meinung nach... war das schon vor langer Zeit geschehen.
Petunia brach in einen unerträglichen Redeschwall über Vernons neues Auto und seine Wohnung, bei dem ich bloß abschalten konnte und in schweigsamer Stille meinen letzten Pancake verputzte, bevor dieser noch kalt werden konnte.
"Abgesehen davon", beendete meine Schwester ihre Rede, "freut er sich, dass sie bald verschwindet und wir endlich etwas Zeit für uns in diesem Haus haben."
Während ich wohl über ihre Worte hätte beleidigt sein sollen, übermannte die Vorstellung von Petunia und Vernon in angenehmer Zweisamkeit meinen verletzten Stolz und ich brach in ein grunzendes Gekicher aus.
Petunia strafte mich mit einem ihrer mörderischen Blicke, doch der hatte nun wirklich nicht die geringste Chance gegen Minerva McGonagall, meine Haus- und Lieblingslehrerin, die jeden ungezogenen Schüler erzittern ließ.
"Lily, sei nicht so ein Kind", äffte Tunia, "Nur weil du unerfahren bist wie eine Grundschülerin..."
"Hey!", fuhr ich dazwischen. "Das stimmt überhaupt nicht!"
"Achja?!"
"Erst letztes Schuljahr -"
"MÄDCHEN!", fuhr mein Vater dazwischen und erinnerte mich so wieder an seine Anwesenheit, die ich für wenige Sekunden vergessen hatte.
"Euer Vater hier möchte davon nichts erfahren, denn sonst müsste ich jedem eurer Verehrer zweimal den Hals brechen."
"Entschuldige, Dad", murmelten Tunia und ich unisono.
Mein Dad nickte zufrieden und wandte sich mir zu. "Und Lily, worauf freust du dich dieses Jahr am meisten? Wie sieht es aus mit Quidditch - können die Briten wenigstens da ordentlich abräumen?"
Glücklich nickte ich.
"Dieses Jahr wird super wichtig, unsere UTZs stehen an, also unsere Abschlussprüfungen und..."
"Wozu braucht ihr denn Abschlussprüfungen, ihr wedelt doch bloß mit Holzstöcken in der Luft herum", stichelte Petunia.
"Ich weiß ganz genau, dass du auch einen Holzstock bei dir trägst und der steckt nicht in deiner Faust!", schoss ich zurück.
Petunia zog scharf die Luft ein. "Lily! Du hast solch schlechte Manieren! Daddy hast du das gehört?"
Ich schlug meine flache Handfläche auf den Holztisch. "Wie war das, mit sich benehmen wie ein kleines Kind?!"
"Jetzt reicht es aber!" Mums Schrei hallte durch das ganze Zimmer und ließ die Gläser in der Vitrine vibrieren. Sie zupfte sich ihre Perlenkette zurecht, die sich im Kragen ihrer lachsfarbenen Bluse verfangen hatte und trat in ihren Stöckelschuhen langsam auf uns zu.
"Noch ein giftiges Wort und Petunia, Vernon wird dieses Haus nicht noch einmal betreten und Lily, ich schreibe Professor Dumbledore persönlich, um ihn davon in Kenntnis zu setzen, dass du von all den Ausflügen in dieses Dorf ausgenommen bist!"
Wir schrumpften auf unseren Stühlen zusammen. Wenn es jemanden gab, der Professor McGonagall in Sachen Standpauke das Wasser reichen konnte, war es wohl meine Mutter... leider.
"Petunia, jetzt unterbrich deine Schwester nicht und Lily, erzähl weiter", brach Dad das Eis und stützte das Kinn in seine Handfläche, um meiner Erzählung besser folgen zu können.
Wütend stürmte Petunia aus dem Zimmer und zog die Tür hinter sich mit einem ohrenbetäubenden Knall ins Schloss.
"Also", fuhr ich fort, "Die Abschlussprüfungen und als Schulsprecherin dieses Jahr bedeutet das, ich muss alle Feste planen, bei der Organisation unterstützend zur Seite stehen und weiterhin nachts patroullieren, wie auch schon als Vertrauensschülerin. Ach und Quidditch - Gryffindor gewinnt wahrscheinlich wieder den Pokal, James Potter hat die letzten Jahre ein gutes Team aufgestellt, ich denke sie bleiben dieses Jahr in dieser Konstellation, dann wird der Sieg ein Leichtes."
Ich lächelte. "James Porter also?"
"Potter, ja."
"War das nicht dieser gruselige Kerl, der hier immer vor unserer Tür rumgelungert hat?", fragte meine Mutter entsetzt.
Ich runzelte die Stirn, ehe... "Ach nein, das war..."
"Der Snape-Junge, Begonia. Der Sohn von Tobias." Mein Vater sah wenig begeistert aus, als er an Severus zurückdachte und ich konnte es ihm nicht verübeln... meine Familie wusste nichts von dem Vorfall in unserem fünften Jahr, doch Severus hatte sich nie wie ein anständiger Kerl in Gegenwart meiner Eltern benommen.
Er hatte es nie leicht gehabt, doch er hätte den beiden nun wirklich nicht bei jeder Gelegenheit aus dem Weg gehen müssen.
Die Erinnerung an ihn schmerzte noch immer, doch mit der Zeit hatte ich mich damit abgefunden, auch wenn er nach wie vor versuchte, mich vom Gegenteil zu überzeugen, so dass ich ihm letztendlich doch noch verzeihen sollte.
"Porter, also...", murmelte Dad.
"Potter."
"Das ist doch der Junge, über den du dich sooft beschwert hast, nicht wahr?" Ein spielerisches Funkeln huschte über das Gesicht meines Vaters.
"Ja, er ist ein ziemlicher Idiot - arrogant, rechthaberisch, hält sich für etwas besseres... naja, im letzten Jahr hat er sich gebessert, keine Ahnung wieso. Wir haben ein Friedensabkommen geschlossen."
Mein Dad und meine Mum warfen sich einen wissenden Blick zu und nickten.
"Ein Friedensabkommen?" Mum setzte sich an Dads Seite.
"Er macht keinen Blödsinn und ich ziehe ihm keine Punkte ab... oder schreie ihn an... oder mache ihn für all das verantwortlich, was auf der Welt schief läuft."
Peinlich berührt musste ich an das Gespräch mit ihm im letzten Schuljahr zurückdenken, als er mir das erste Mal an den Kopf geworfen hatte, dass ich genauso wenig perfekt sei und doch endlich mal aufhören sollte, jedem zu verzeihen, nur ihm nicht... lustigerweise hatte Remus Lupin, einer meiner besten Freunde, mir nur wenige Stunden zuvor genau dasselbe gesagt.
"Was sich neckt, das liebt sich", sang Dad, während er sich von seinem Stuhl erhob.
"Wie bitte?! Nein, Potter und ich - das wird niemals passieren! Eher wird die Hölle zufrieren."
Mum kicherte bloß und verschwand wieder, doch Dad grinste mir provozierend entgegen.
"Dad, ich meine es ernst!"
"Jaja."
"Dad!"
In eben jenem Moment schlug die alte Kuckucksuhr im Wohnzimmer zehn und kündigte unsere Aufbruchszeit an, wenn ich nicht zu spät zum Bahnhof kommen wollte.
Meine beste Freundin, Marlene McKinnon, würde mich köpfen und vierteilen, wenn ich sie alleine lassen würde und das wollte ich beim besten Willen nicht riskieren.
"Wir müssen looos", rief der einzige Mann im Haus, schnappte sich sein Portemonnaie und die Schlüssel und stürmte aus der Tür, um meinen Widersprüchen zu entgehen.
"Alberner Kautz", murmelte meine Mutter, ehe sie mich fest an sich drückte und mir einen Kuss auf die flammend roten Haare drückte, die ich von meinem Vater geerbt hatte, während sie und Tunia beide blond waren.
"Pass auf dich auf, Spätzchen und schreib uns viele Briefe!"
"Mach ich, Mum." Ich drückte sie ebenfalls, ehe ich Dad hinterhereilte, noch einen letzten Blick in den Spiegel werfend.
Trotz des Sommers war ich nach wie vor unglaublich bleich... das war nun mal der Nachteil, ein Rotschopf zu sein, wenn man nicht ständig mit Sonnenbrand im Bett liegen wollte - nicht länger als zehn Minuten ungeschützt an die Sonne... und manchmal war das schon zu viel.
Meine Blässe erinnerte mehr an eine Leiche, wodurch meine Sommersprossen auf meiner Nase deutlicher hervorstachen als sonst. Genervt kniff ich mir in die Wangen, um etwas Farbe hineinzutreiben.
Marlenes Rouge käme mir nun gut gelegen, dachte ich kichernd.
Mum klammerte sich an das Treppengeländer im Flur und sah mir nach.
"Lily, dein Koffer!"
In windeseile drehte ich um, schnappte mir den alten Schrankkoffer und rief: "Tschüß, Tunia! Bis Weihnachten!"
Meine Schwester stand am oberen Absatz der Treppe und sah missbilligend zu mir herunter. "Bis dann, Freak - komm besser nicht zurück..."
Ich sollte nie erfahren, was meine Mutter darauf erwiderte, denn frustriert die Augen zusammenkneifend, stürmte ich wieder aus dem Haus, warf den Koffer in den Kofferraum und sprang zu Dad ins Auto, bevor er mit einem affenzahn lossauste. Die Tränen, die drohten in mir aufzusteigen, blinzelte ich wieder fort und richtete den Blick aus dem Fenster.
Heute war ein guter Tag, ich würde meine Freunde und ja selbst Potter und Black wiedersehen. Ich würde wieder nach Hause fahren... in mein wahres zu Hause, zu den Menschen, die mich wirklich verstanden. Und wenn ich mich über jemanden ärgern wollte, brauchte ich dazu nicht meine Schwester, Potter stand ja schließlich immer ebenfalls zur Wahl.
Es ging zurück in meine Heimat.
King's Cross... ich komme!
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