𝐆𝐞𝐭 𝐨𝐟𝐟 𝐲𝐨𝐮𝐫 𝐚𝐬𝐬

Eine eisige Brise peitschte mir meine langen, rotbraunen Haare ins Gesicht.
Mich fröstelte es unter meiner Lederjacke, doch das kümmerte mich nicht. Die Kälte in mir war weitaus größer. Ich fühlte überhaupt nichts mehr. In meinem Inneren klaffte ein tiefes Loch, das nichts je wieder ausfüllen könnte, eine Wunde, welche niemals zuheilen würde.
Es war, als hätte man mir mein Herz herausgerissen und in tausend winzige Stücke zerhackt. Mit seinem Tod war auch ein Teil von mir gestorben.
Ich beschwörte eine kleine rote Energiekugel herauf, ließ sie in meinen Händen tanzen und folgte ihr mit abwesendem Blick.
Wir hätten gemeinsam hier stehen sollen. Seit jeher war er an meiner Seite gewesen. Doch heute...
Hier stand ich, starrte den Haupteingang des Avengers Headquarters an und wusste nicht, weshalb ich überhaupt dem Ruf gefolgt und hergekommen war. Wollte ich mich wirklich von einem Mann rekrutieren lassen, dessen Waffen mir meine Heimat und Eltern genommen hatten? Wollte ich Teil einer Organisation sein, ohne die mein Bruder vielleicht noch am Leben wäre? Wollte ich Tag für Tag den Mann sehen, der nur lebte, weil Pietro gestorben war?
Noch vor wenigen Tagen war es mir als das einzig Richtige erschienen. Doch da hatte ich noch nicht im Geringsten ahnen können, welchen Preis es kostete, zu tun, was richtig war.
Unwillkürlich fragte ich mich, wie alles verlaufen wäre, wenn wir uns einfach aus der Sache herausgehalten hätten. Niemand hätte es uns übel nehmen können. Wir waren doch nichts als armselige Waisenkinder, denen alle, die uns begegneten, ihr geheucheltes Mitleid entgegenbrachten.
Barton hatte mir die Wahl gelassen.

"Wenn du durch diese Tür gehst, bist du ein Avenger."

Ich hatte eine Entscheidung getroffen, hatte jegliche Sicherheit verlassen und alles riskiert, um Sokovia und seine Bewohner zu verteidigen. Ich hätte es niemals vor mir selbst verantworten können, meine Fähigkeiten diesen hilflosen Menschen vorzuenthalten.
Baron Strucker hatte uns zu neuen Menschen gemacht. Zu groß war meine Macht nun, um mit gutem Gewissen tatenlos zusehen zu können. Zu groß war die Schuld, die ich beim Gedanken daran verspürt hatte, dass wir Hydra und Ultron nicht eher durchschaut hatten und ihnen sogar loyale Diener gewesen waren. Ich hatte einfach handeln müssen. Und so war ich durch die Tür gegangen. Es hatte mich alles gekostet.
Ich verfluchte uns dafür, dass wir nicht etwas egoistischer gedacht hatten.
Ich wünschte, ich hätte Pietro bei der Hand genommen und wäre mit ihm ohne Rücksicht auf Verluste weggelaufen, ganz weit weg, weg von all den Kämpfen, weg von jeglicher Gefahr. Wir hätten wie bisher weiterleben können, ganz auf uns gestellt. Wir hatten nie viel, doch wenigstens hatten wir einander. Und das war alles, was ich jemals gebraucht hatte.
Ehe ich mich versah, versank ich voller Melancholie in meinen Erinnerungen...

Ich erinnerte mich nur noch verschwommen an den Tag, als es passiert war. Da war nur viel Lärm, Feuer, Staub, Trümmer. Wir waren zehn Jahre alt gewesen. Meine Eltern hatte ich an jenem schicksalhaften Tag zum letzten Mal gesehen. Gerade waren wir noch idyllisch um den Esstisch gesessen, als das Chaos losbrach. Meine Augen weiteten sich in Panik, doch ich befand mich in einer Art Schockstarre, unfähig, mich zu bewegen. Pietro hingegen reagierte geistesgegenwärtig wie immer, packte mich und zerrte mich unter das Bett. Wimmernd kauerte ich mich zusammen und leckte an meinen aufgeschürften Knien.
Plötzlich flog eine zweite Granate auf uns zu. In panischer Angst drängte ich mich noch weiter an die Wand. Pietro warf sich todesmutig vor mich und presste sich gegen mich, mit dem einzigen Gedanken, mich um jeden Preis zu beschützen und so gut es ging abzuschirmen, bereit, sich selbst zu opfern, auch wenn es offensichtlich war, dass sein kleiner Körper die Druckwelle kaum aufhalten können würde.
Ich kniff die Augen zusammen und erwartete die Explosion.
Ein dumpfer Aufprall war zu vernehmen.
Etwas rollte über den zertrümmerten Boden.
Stille.
Eine Minute verstrich.
Zwei.
Drei.
Dann hielt ich es nicht länger aus.
"Piet?", hauchte ich angsterfüllt.
"Nicht... bewegen...", ächzte er. Ich spürte seinen flachen, warmen Atem an meiner Wange. Selbst durch den Stoff seiner Jacke konnte ich spüren, dass er jeden einzelnen seiner Muskeln angespannt hatte.
Wir verharrten eine gefühlte Ewigkeit in dieser Position.
Erst, als es bereits dämmerte und immer noch nichts geschehen war, wagten wir es, uns umzudrehen.
Etwa drei Fuß von unseren Gesichtern entfernt lag die Granate. Der weiße Schriftzug darauf brannte sich unheilverheißend in unsere Köpfe ein.

STARK.

Zwei Tage lang warteten wir darauf, dass Stark uns vernichtete. Es war ein Albtraum. Damals hätte ich niemals gedacht, dass es noch schlimmer kommen könnte und würde...

Am dritten Tag stand ich verdreckt in den Trümmern von dem, was einmal unser Haus gewesen sein sollte. Auf meiner Wange vermischten sich salzige Tränen mit dem Schmutz und Staub, der in der Luft lag. Mein rotes Kleidchen war zerfetzt und meine Haare, die seitlich lose zusammengebunden waren, waren völlig durcheinander.
Mein blauer Plüschhase schleifte neben mir im Dreck.

"Piet?", fragte ich mit weinerlicher Stimme.
"Wo sollen wir denn jetzt hin? Wo sind Mamu und Papu?"

Pietro versuchte mir zuliebe, den Schmerz in seinem Gesicht zu verbergen. Langsam ging er auf mich zu und nahm mich in seine Arme.
Da konnte ich mich nicht mehr zurückhalten. Schniefend vergrub ich mein Gesicht an seiner Schulter und krallte meine kleinen Finger in seinen Rücken. Ich weinte und weinte und weinte bis seine schwarze Weste ganz durchnässt war. Ich spürte, wie auch ihn immer wieder eine Welle von Tränen schüttelte, doch, ganz der große Bruder, versuchte er für mich stark zu bleiben, dabei merkte ich, dass er sich mindestens genauso stark an mir festklammerte wie ich mich an ihm. Mit zitternden Händen fuhr er mir durch meine vollkommen zerzausten Haare, um mich zu beruhigen, und murmelte, unterbrochen von einigen unterdrückten Schluchzern, tröstende Worte.

"Shh, Prinzesschen, es wird alles gut. Ich bin ja da... Shhh, nicht weinen, alles wird... Alles wird gut. Ich pass' ab jetzt auf dich auf. Du brauchst keine Angst zu haben. Ich bin... Ich bin doch immer da für dich. Shhh, ist ja gut, ich werd' dich nicht im Stich lassen. Ich schwöre..."

Langsam beruhigte ich mich wieder und sah mit tränenverschleiertem Blick in Pietros eisblaue Augen. Fürsorglich hielt er mir seinen Ärmel hin, damit ich mir meine Nase putzen konnte. Dann hob er meinen Kuschelhasen auf, den ich hatte fallen lassen, und drückte ihn mir in die Arme. Ein zaghaftes Lächeln stahl sich auf meine tränenverschmierten Wangen. Trotz allem, was ich verloren hatte, obwohl mir damals die Ausmaße der Geschehnisse längst nicht bewusst waren, eines war mir immer klar, und zwar, dass mein Bruder der Beste auf der ganzen Welt war!
"Hör zu, Prinzesschen", sagte er dann, "es wird nicht leicht, aber ich verspreche dir, gemeinsam stehen wir das durch. Wir beide für immer zusammen."
Er drückte mir einen Kuss auf die Stirn, nahm mich bei der Hand und führte mich in eine ungewisse Zukunft...

Eine weitere Erinnerung durchzuckte mich. Wir beide waren inzwischen älter geworden und hatten uns auf der Straße durchgeschlagen. Unser Leben war mit Sicherheit kein Zuckerschlecken, doch an einem Abend wie diesem konnten wir manchmal sogar all das Leid für einen Moment verdrängen.
Wie so oft saßen wir auf dem Dach einer alten, verlassenen Lagerhalle und blickten Richtung Horizont. Hier oben konnte man noch träumen. Langsam brach die Nacht herein, der Mond schien auf die leeren Gassen und die Sterne am Himmel waren noch zahlreicher wie das Lichtermeer der Stadt, das wir aus der Ferne betrachten konnten.
Ich saß an Pietros Brust gelehnt zwischen seinen Beinen und summte alte sokovianische Schlaflieder, die uns unsere Mutter immer vorgesungen hatte. Pietro spielte mit einer meiner Haarsträhnen und starrte ins Leere. Er liebte es, mir beim Singen zuzuhören, doch heute schien er in Gedanken weit weg zu sein, weshalb ich bald verstummte, meine Hand an seine Wange legte und besorgt fragte: "Piet? Was ist?"
Er blinzelte kurz, als hätte ich ihn aus einem Traum gerissen, und blickte dann mich an.
"Ich habe nur... nachgedacht..."
"Worüber?"
Ich spürte, wie seine Hand unbewusst zu seiner Jackentasche wanderte, in der er das einzige Bild unserer Familie stets mit sich trug, das aus den Trümmern gerettet werden konnte.
"Weißt du, ich habe mich gefragt, was wäre, wenn... wenn sie mir dich auch noch wegnehmen würden."
Ich schluckte. So etwas wollte ich nicht hören.
"Das wird nicht passieren, Piet. Das lasse ich nicht zu."
"Aber steht es denn wirklich in unserer Macht?"
Ich wusste nicht, was ich darauf erwidern sollte. Ich weigerte mich, auch nur daran zu denken. Nach einer Weile schüttelte Pietro den Kopf.
"Tut mir leid, ich will dich nicht mit solchen Dingen belasten. Es ist nur... Ich glaube nicht, dass ich ohne dich..."
Er sah mich lange an, sein Blick voller Verzweiflung, Angst und Liebe. Schließlich küsste er meine Hände und bat: "Sing weiter, Schwesterherz. Die Nacht ist lang und dunkel."

Wie naiv ich gewesen war, dass ich jeglichen Gedanken an ein Leben ohne ihn abgelehnt und aus meinem Kopf verbannt hatte.
Jetzt war es passiert.
Jetzt hatte ich mein Ein und Alles verloren.
Und wieder stand ich vor einer Tür und musste eine Entscheidung treffen. Wenn ich sie durchschreiten würde, dann wäre ich wahrhaftig ein Avenger.
Frustriert feuerte ich einen Energiestoß auf eine kleine Blume ab, die zu meinen Füßen wuchs. Ja, dachte ich, so fühlt es sich an. Natürlich konnte das arme Pflänzchen nichts dafür, doch es hatte etwas genugtuendes an sich, meine Macht spielen zu lassen, jemand anderen, und wenn es nur eine Blume war, den gleichen Schmerz spüren zu lassen. Allerdings hatte ich noch eine Entscheidung zu treffen und Unkrautvernichtung brachte mich in diesem Fall offensichtlich wenig weiter.
Doch wie zum Teufel sollte ich eine rationale Entscheidung fällen, wenn der Schmerz an mir nagte wie ein Straßenköter an einem mageren Knochen?
Ich schloss die Augen und versuchte mir vorzustellen, was Pietro mir geraten hätte. Er war mir so vertraut, dass ich seine Stimme beinahe in meinem Kopf hören konnte, als wäre er noch immer neben mir.

"Beweg deinen Arsch, Schwesterherz."

Ich seufzte.
"Du hast ja recht, Bruderherz."
Während ich erhobenen Hauptes auf das Tor zuschritt, schwor ich mir, dafür zu sorgen, dass der Name Maximoff in die Geschichte einging.
Wir waren Avengers.
Vielleicht hatte ich endlich meinen Platz in dieser Welt gefunden.

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