XI - Karin
Ihre Taschenlampe war inzwischen zu einer Funzel verkommen und verbreitete nicht mehr Licht, als eine Kerze. Aber es half nichts, daher lief sie zügig hinter dem Jungen die mit Fliesen ausgelegte Treppe hinab.
Moder und kühle Feuchtigkeit stiegen ihr entgegen, als sie einen Kellerraum betrat, dessen schemenhaft erkennbares Mobiliar ihn als Partylocation identifizierte. So etwas kannte sie noch von ihren Großeltern. Speziell in den Siebzigern und Achtzigern, gehörte es wohl quasi zum guten Stil jedes Hauseigentümers, einen eigenen Partykeller einzurichten, in dem zu Nena und der Spyder Murphy Gang getanzt und vor allem getrunken wurde. Eine Seite der deutschen Kulturgeschichte, die sie bis heute nicht so richtig kapierte.
Der Junge bewegte sich zielstrebig hinter die staubige, mit Spinnenweben behangene und Glasscherben dekorierte Theke. Wollte der ihr einen Geister-Schnaps einschenken? Vor einem Regal, das früher mit bunten Alkoholika bestückt gewesen sein musste, aber heute nur noch aus zerschmetterten Brettern und einem gesplitterten Spiegel bestand, blieb er stehen.
„Hier", das war das erste Wort, das er sprach, ohne sich umzudrehen. „Dort komm ich nicht rein. Onkel Karl, der is abends hier im Keller verschwunden. Als ich ihm nach bin, war er nie da." Scheinbar hilflos zuckte der Zwölfjährige mit seinen Schultern und verharrte der Wand zugewandt.
Diese Geister schienen, abgesehen von Anna – und mit Einschränkungen Henriette –, nicht besonders helle zu sein. Ob das etwas mit der emotionalen Bindung zu ihrem Tod oder dem Gebäude zu tun hatte? Sich über ihre eigenen Gedanken wundernd umrundete sie die zerstörten Tische sowie einen umgeworfenen Kicker und stellte sich neben ihn.
Im nachlassenden Schein ihrer Lampe begutachtete sie die Wand. Gab es dahinter einen weiteren versteckten Raum? Denkbar wäre es. Das Regal wandte sich im rechten Winkel um eine Ecke mit etwa drei Metern Kantenlänge. Das machte architektonisch keinen Sinn. Zumindest war kein regulärer Zugang zu diesem abgeschotteten Quader zu erkennen. Wie also kam man dort rein? Der gute Herr Doktor ist unauffällig hinein verschwunden und es war Anfang der 90er. Die Digitaltechnik war damals noch nicht besonders weit. Hoffentlich war das kein elektronisch betriebener Öffnungsmechanismus wie beim Panikraum. Wo hätte sie einen Hebel versteckt? Am besten ganz unten. Im hintersten Eck eines Vorratsschranks. Dort, wo bestenfalls alle zehn Jahre die Restalkoholika ausgetrockneter Schnapsflaschen entsorgt wurden. Eine Ecke, die jedoch problemlos zugänglich war, falls man wusste, wonach man suchte.
Gezielt öffnete sie die entsprechenden, bodennahen Schränke, räumte unidentifizierbare, klebrige Klumpen, leere Flaschen und jede Menge Spinnenweben inklusive deren Bewohner sowie Heerscharen von Kellerasseln und Silberfischchen heraus. Bäh. Wovon lebte eigentlich all das Viehzeug an diesen Orten? Mussten die nicht längst verhungert sein oder fraßen die sich einfach gegenseitig?
Mit der Handfläche tastete sie blind über die innenliegenden Schrankseiten. Ha! Eine deutliche Kante, die dort nicht hingehörte. Nach einem leichten Gegendruck sprang ein Hebel heraus, der sich mit drei Fingern greifen und ziehen ließ. Na dann ... Mit einem Klacken löste sich die gesamte Regalseite und kam ihr ein paar Zentimeter entgegen. Mit klopfendem Herzen zog sie die verborgene Tür auf.
Dass sie ein finsterer Spalt begrüßte, war inzwischen keine Überraschung mehr, jedoch machte die nachlassende Helligkeit ihrer Taschenlampe diese Tatsache nicht besser. Daher zog sie das Regal vollständig auf und versuchte, mit ihrem Restlicht den dahinter liegenden Raum zu erhellen.
„WAS willst du kleine Schlampe von mir?", brüllte ihr die bleiche Fratze eines Mannes in den Fünfzigern ins Gesicht und ließ sie zurückschrecken.
Vor ihr in der Öffnung stand hochaufgerichtet Dr. Karl Müller in Person, beziehungsweise als Geist. Sein Frack mit dem hohen Spitzkragen und reinweißer Weste sowie das lang gezogene, faltige Antlitz mit den onyxfarbenen Augen erinnerten sie eher an einem Vampir aus Schwarz-Weiß-Filmen als den angeblichen Finanzmagnat. Nach den dramatischen Auftritten von Anna und seiner Frau Henriette, ließ sie sich jedoch nicht mehr so leicht einschüchtern.
„Die Kombination für den Tresor", antwortete sie geradeheraus, da ihr in diesem Moment nichts Besseres einfiel. „Wie lautet sie?"
„Das geht dich einen feuchten Kehricht an", fauchte der Doktor. „Verpiss dich."
... und die ordinäre Sprache war inzwischen auch nicht mehr neu. Verloren die Geister alle im Laufe der Zeit ihre Manieren oder waren sie bereits zu Lebzeiten dermaßen unausstehlich gewesen?
„Nein. Ich komme hier nicht mehr lebend raus, ohne die Antwort", hielt sie ihm entgegen und blieb standhaft. „Was soll das alles? Das ist doch Jahrzehnte her. Warum dieser Aufstand um einen Tresor, für dessen Inhalt sich heute kein Mensch mehr schert?"
„Glaub mir, du Scheiß Schnüfflerin, niemand wird ihn jemals öffnen", flüsterte er.
Mit einem Ruck wollte er die Tür zuschlagen, doch damit hatte sie gerechnet. Diese Geister schienen alle immer den einfachsten Ausweg zu suchen: Augen vor der Realität verschließen und hoffen, dass es vorbeigeht. Aber diesmal nicht. Mit dem Fuß hatte sie eine schwere Kiste in den Spalt geschoben und mit Lumpen verkeilt, sodass sich die Tür nicht mehr schließen ließ. Zumindest, solange dieses Gespenst nicht in der Lage war, anständig auszukehren. Und wenn dem so wäre, hätte Anna ja schon lange selbstständig die Tresortür öffnen können. Damals, als die beiden Schatzjäger sich eingesperrt hatten, hätte die Autobatterie noch Strom gehabt. Sie hätte nur ein Kabel anklemmen müssen. Hatte sie aber nicht. Alles in allem war Karin überzeugt, dass die Fähigkeit dieser Spukgestalten am Ende doch beschränkt waren. Dinge fest verschließen, das konnten sie, so viel war klar. Das schien es jedoch schon gewesen zu sein.
„Vergiss es", fauchte sie jetzt ihrerseits, „diese Tür bleibt offen. Erklär mal deiner Frau und all den verlorenen Seelen der Kinder hier im Haus, warum sie für dich bis in alle Ewigkeit leiden sollen."
„VERSCHWINDE!" Blitze und ein Sturmwind peitschten ihr entgegen und ließen sie rückwärts gegen den Tresen taumeln – aber ihre provisorische Türbarriere hielt.
„NEIN!", brüllte sie zurück und begab sich damit bewusst auf sein Niveau. Kind-ich zu Kind-ich. Grundkurs Psychologie. „Mach den Tresor auf. Erlöse uns alle!"
„Niemals", jetzt sprach er leise und funkelte sie aus den schwarzen Perlen an, die mal seine Augen gewesen waren. „Niemals werde ich die Kombination preisgeben. Verschwinde aus meinem Haus. Geh zurück in die Welt der Lebenden. Lebe dein Leben und lass mich in Frieden leiden. Du bist noch jung, aber ich habe es nicht anders verdient." Damit trat er in die Dunkelheit seiner Kammer zurück und war nicht mehr zu sehen. „Die Haustür ist jetzt offen."
Verflucht. Sie hatte gehofft, wenn ihm kein bequemer Rückzugsort mehr blieb, in dem er in seinem Selbstmitleid allein und auf ewig zerfließen konnte, würde er seine Position überdenken. Nice Try.
Ähm ... Moment ... Was hatte er gerade gesagt? Die Haustür war offen? Ihr Herz machte einen freudigen Sprung und sie konnte ihr Glück kaum fassen. Zügig lief sie immer zwei Stufen auf einmal nehmend nach oben in die Eingangshalle. Tatsächlich fiel durch den Spalt der kaputten Eingangstür der fahle Schein des mondlosen Nachthimmels, als wäre diese niemals geschlossen gewesen. Schnell, ehe die Geister es sich nochmals anders überlegen konnten, stürzte sie auf die Öffnung zu, die Freiheit versprach.
„Karin. Warte."
Der Klang von Annas Stimme ließ sie innehalten, als sie bereits im Türrahmen stand. Kühle Nachtluft wehte ihr entgegen. Nur ein Schritt ...
„Ja?", fragte sie und drehte den Kopf in Richtung Halle, anstatt eines letzten Schrittes, der das Ende dieses gruseligen Abenteuers, der Leben und Freiheit bedeutete. Dort verharrte die Kleine und sah sie aus geweiteten Augen an.
„Wenn du gehst, wird nach dir niemand mehr hereinkommen. Der Herr Doktor hat jetzt die Macht über die Villa, da du ihn aus seiner Starre geweckt hast. Verlasse das Haus", sie schluckte sichtbar, „und unser Leiden ist auf ewig besiegelt."
„Keine Sorge, Anna", klärte sie das Mädchen auf. „Ich komme wieder und bringe Hilfe. Wie versprochen. Die Polizei wird den Tresor öffnen und dann seid ihr erlöst. Das dauert maximal ein paar Stunden."
Der Geist der Achtjährigen schüttelte vehement seinen Kopf. „Nein. So funktioniert das nicht. Wenn du jetzt gehst, kann erst in frühestens zehn Jahren, genau am 25. Dezember, erneut jemand zu uns gelangen. Aber ich bin überzeugt, dass der erwachte Herr Doktor, es dann zu verhindern weiß. Für immer."
„Ich ..." Was sollte sie dazu sagen? „Ich würde ja helfen, wenn ich könnte."
Karin war überzeugt, dass die Kleine nicht log. Tatsache war auch, dass sie die Kammer zu Karl Müller geöffnet hatte. Und damit den Weg in ihre Freiheit – jedoch gleichzeitig den Pfad in die ewige Verdammnis für dieses Dutzend unschuldiger Seelen. Menschen, die nur das Pech hatten, zur falschen Zeit am falschen Ort zu sein. Sie wusste nichts über den Doktor und seine Frau, die ebenso wie Anna herausstachen. Die anderen jedoch hatten sich keinesfalls etwas zu Schulden kommen lassen. Hatten es nicht verdient in diesem Gemäuer aufgrund der egoistischen Seele des Doktors, die offenbar nur sich und den Rest der Welt geißeln wollte, zu vermodern. Wenn sie denn vermodern könnten. Selbst das war ihnen nicht vergönnt. Und mit ihrer dämlichen Aktion hatte sie ihnen damit auch noch die letzte Chance auf Seelenfrieden geraubt. Das war allein ihre Schuld. Verdammt.
„Aber ...", setzte Anna an und konnte ein Schluchzen nicht unterdrücken, dass sie erneut als die unschuldige Achtjährige erscheinen ließ, die sie in ihrem Inneren war. „Aber du hast es versprochen. Du hast versprochen zu helfen. Aber wenn du jetzt gehst, dann kannst du uns nicht mehr helfen. Nie mehr."
Oh, Mann. Ihr eigenes Leben gegen zwölf oder dreizehn Mal endlose Qual. Wenn sie das Haus verließ, würde sie sich das ewig vorhalten. Würde damit leben müssen, dass sie diese unschuldigen Seelen verdammt hatte. Wenn sie selbst irgendwann stürbe – könnte ihre eigene Seele dann Ruhe finden? Oder wäre sie ebenfalls dazu verdammt, ihre Schuld abzutragen? Würde sie genauso als Geist auf Erden wandeln auf der Suche nach Erlösung?
Scheiße. Sie konnte jetzt nicht gehen. Keinesfalls. Wie sollte sie mit dieser Schuld leben? Und ihr fiel nur eine Möglichkeit ein, das Dilemma zu beenden. Nur genau eine.
Bewusst schaltete sie ihre Taschenlampe mit einem endgültigen Klacken aus. Eisige Würmer zerfraßen ihre Eingeweide bei dem Gedanken, was das für sie bedeutete.
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