X - Karin

Im nachlassenden Licht ihrer Lampe schaukelte, in die Lektüre eines dicken Wälzers versunken, die festlich gekleidete Frau in einem Schaukelstuhl langsam vor und zurück.

Hinter ihr an der Wand zeigten sich leere Bücherregale deren Inhalt, ähnlich wie schon in dem Raum mit den Rucksäcken, in einem Chaos auf dem Boden verteilt lag. Ein umgekipptes Sofa mit aufgeschlitzten Polstern, zerbrochene Stühle und ein auf der Seite liegender Couchtisch, komplettierten das Bild. Trotzdem war leicht zu erkennen, dass es sich um ein modern eingerichtetes Zimmer gehandelt haben musste. Kein Vergleich mit dem locker einhundertfünfzig Jahre alten Hotelzimmer, in dem sie Anna kennengelernt hatte. Inzwischen war ihr klar, dass der gute Herr Doktor lange nicht das gesamte weitläufige Gebäude saniert hatte, wie es in der damaligen Presse hieß, sondern nur einen Bruchteil. Selbst im Haupthaus, in dem sie sich bewegte, fanden sich diverse komplett leere Zimmer.

„Ähm ... hallo?" Sie klopfte an den Türrahmen, unsicher wie man einen Geist begrüßte.

Die Frau ignorierte sie. Nur das langsame Quietschen ihres Schaukelstuhls und das seidige Rascheln des Umblätterns durchbrachen die Stille. Karin trat einen Schritt in das chaotische Zimmer und legte sich ihre nächsten Worte zurecht, da hob die Angesprochene ihren Blick und lies sie zurücktaumeln. Die Augen – nicht nur die Iriden – waren komplett mit Schwärze gefüllt. Keine leeren Löcher, sondern onyxfarbene Kugeln, die den Schein ihrer Lampe reflektierten. Die blutroten Lippen in ihrem bleichen Gesicht verzogen sich zu einem dünnen Lächeln, dass eine reihe schneeweißer Zähne aufblitzen ließ.

„Guten Morgen, mein Kind." Ihre Stimme klang so sanft und melodisch, wie der Gesang es bereits hatte vermuten lassen. „Komm. Setz dich zu mir."

Damit deutete sie auf einen zerbrochenen Stuhl neben sich, dessen dolchartig aufragende Überreste bestenfalls dazu geeignet waren, sich zügig das Leben zu nehmen. Unschlüssig, wie sie reagieren sollte, blieb Karin im Türrahmen stehen. Trotz der freundlichen Worte hielt sie lieber etwas Abstand zu der Erscheinung. Auch Anna war zu Beginn perfekt harmlos erschienen und hatte sie dennoch hier mit einer unmöglich zu bewältigenden Aufgabe eingekerkert.

„Vielen Dank, aber ich kann nicht lange bleiben." Das war die beste Ausrede, die ihr in diesem Moment einfiel. „Vielleicht könnten Sie mir helfen? Ich Suche etwas. Die Kombination für den Tresor nebenan. Im Panikraum." Einen Versuch war es wert, fragen kostete nichts.

Anstelle einer Antwort lachte die Frau jedoch nur laut auf. Warf ihren Kopf in den Nacken und konnte sich kaum wieder einkriegen, als hätte Karin den Witz des Jahrhunderts erzählt. So abrupt wie der Heiterkeitsausbruch gekommen war, verstummte er und die pechschwarzen Kugeln fixierten sie erneut.

„Oh, Kind. Ja. Die hätten wir alle gerne. Immer geht es nur um dieses verfluchte Geld. Geld. Geld. Geld. Den ganzen Tag redete er von nichts anderem. Von seinen tollen Investments. Der Firma. Den Banken. Nie hat er sich für mich, die Kinder oder irgendjemanden interessiert. All diese Räume", sie machte eine ausholende Geste, „nur für uns vier? Oh, nein. Es ist ein Denkmal, das er sich selbst gesetzt hat." Die Worte ihres Monologs spie sie voller Bitterkeit aus.

Karin hörte ihr gebannt zu. Das passte nicht, zu den Geschichten über den sorgenden Familienvater. Und nicht zur großen Weihnachtsfeier, die tragisch endete, wie es in der damaligen Presse zu lesen war.

„Aber", warf sie daher ein, „er hat doch die gesamte Familie zu Weihnachten eingeladen, oder nicht?"

„Ja, nicht wahr? Was glaubst du, wie überrascht ich war? Und er hat es sogar noch groß in der lokalen Presse angekündigt! In der Presse! Ha! Als wenn es etwas Großartiges und nichts Selbstverständliches wäre, dass man seine Familie zu Weihnachten einlud."

Hm ... Sie versuchte, sich einen Reim darauf zu machen und ergänzte: „Und das Ganze ist tragisch geendet. Mit der Einweihung des frisch renovierten Kamins."

Ein erneutes, bitteres Lachen entrang sich der Frau. „Einweihung? Tragisch? Wovon redest du, Kind? Den Kamin haben wir vorher schon Dutzende Male verwendet. Unser Ende war alles – aber nicht tragisch."

Die Worte schwirrten durch ihren Kopf. War Dr. Karl Müller ein Hochstapler? Aber wenn es kein tragischer Unfall war und der Kamin nicht erstmalig in Betrieb ... Was war stattdessen passiert? Ein Anschlag? Und: Was hatte es mit dem Tresor zu tun und der Kombination, die sie alle suchten?

„Das ... tut mir leid zu hören." Was sollte man dazu auch sagen? „Aber irgendwer muss die Kombination doch kennen?"

Er kennt sie. Er ganz allein." Hass und Bitterkeit troff aus jeder Silbe. Ihr glattes Gesicht verzog sich langsam zu einer Fratze mit tiefen Falten und herabgezogenen Mundwinkeln. „Das egoistische Schwein. Lässt uns bis in alle Ewigkeit leiden. Damit die Welt nicht erfährt, was für ein Schlappschwanz und Versager er ist. Und jetzt – verschwinde! Lass mich in Ruhe! Finde dich mit unserem Schicksal ab."

„Aber vielleicht könnte ich ...", setzte Karin an.

„RAUS!" Die Macht dieses Befehls ließ sie einen Schritt auf den Gang zurücktaumeln. Krachend schlug die Tür vor ihrer Nase zu.

Mist. Mehr frustriert als verängstigt starrte sie die abblätternde braune Farbe der Tür an. So leicht würde sie nicht aufgeben. Dieser Geist wusste offenbar mehr, als er zugeben wollte. Entschlossen drückte sie den Türgriff, um erneut das Gespräch zu suchen. Doch dieser saß bombenfest und ließ sich keinen Millimeter bewegen. Das kannte sie bereits von den Fenstern.

„Scheiße!", schrie sie aus voller Inbrunst in den Korridor. „Wie soll ich euch verfluchten Geister helfen, wenn ihr euch nicht helfen lassen wollt und mich hier einsperrt?"

Von wegen Leidende lügen nicht. Leidende Geister waren Dickschädel, die nur an sich selbst dachten und es offenbar darauf anlegten, ihr eigenes Leiden bis in die Ewigkeit zu verlängern. Trotzdem hatte das Gespräch ihr eine neue Erkenntnis gebracht. In ihrem Kopf wuchs ein Plan heran. Eigentlich war es mehr ein Strohhalm im Malstrom der Verzweiflung, als ein Plan, aber was hatte sie schon zu verlieren – außer ihrem Leben?

„ANNA!", brüllte sie in die Finsternis. „Jetzt zeig dich endlich! Ich muss mit dir reden, verdammt! Ich weiß, wie ich euer Problem lösen kann."

„AN...", setzte sie erneut an, wurde jedoch unterbrochen.

„Was ist?" Die Kleine tauchte mit verschränkten Armen und Schmollmund im Schein ihrer Lampe auf, als hätte man sie wie einen Lichtschalter angeknipst.

„Wer war das da drin?" Sie deutete mit dem Finger auf die Tür.

„Henriette Müller, die Gemahlin vom Herrn Doktor."

„Danke. Und wen hat sie mit wir gemeint und warum ist es so wichtig, diesen Tresor aufzubekommen? Ihr seid doch schon alle tot. Das Geld hilft euch nichts."

„Na, sie meinte uns alle hier ..." Sie machte eine ausladende Geste.

Als Karin fragen wollte, was das sollte, tauchten neben und hinter ihr weitere Gestalten im Lichtschein und als Silhouetten in der dahinterliegenden Finsternis auf. Kleinkinder in süßen, festlichen Kleidern, Jugendliche mit brav zum Scheitel frisierten Haaren, Erwachsene mit Dauerwellen und dicken Schulterpolstern in Klamotten, die eindeutig seit dreißig Jahren oder länger aus der Mode waren. Sie alle standen schweigend im Korridor und starrten sie aus wächsernen Gesichtern an. Auf den ersten Blick etwa ein Dutzend Personen. Nach der Leere und Stille bekam sie jetzt ein eher klaustrophobisches Gefühl und war sich nicht sicher, ob sie wirklich hätte fragen sollen. Auffällig war jedoch, dass Anna sowohl mit ihrer „lebendigen" Art als auch in ihrem Kleid zumindest modetechnisch aus dem Rahmen fiel.

Tief durchatmend trat Karin einen Schritt zu Seite, um etwas Abstand zwischen sich und den Erscheinungen zu bringen. „Okay. Seid ihr alle die Gäste der Weihnachtsfeier gewesen und dort tragisch gestorben?"

„Nein", die Achtjährige schüttelte den Kopf, „aber ja, sie warten alle auf Erlösung. Kannst du den Tresor jetzt aufmachen?"

„Warum?", hakte sie erneut nach. „Hilf mir, es zu verstehen."

Die Kleine zuckte mit den Schultern. „Das weiß ich leider nicht. Jedoch wird es die Erlösung bringen, sobald du ihn öffnest. Es wird den Anker lösen, der diese armen Seelen in dem Gemäuer verharren lässt. Du musst ihn öffnen."

„Ist ja gut. Das mache ich", beschwichtigte Karin. Erneut machte der Anna-Geist den Eindruck, sich in das Thema hineinzusteigern. „Wenn das dort drin die Frau von Karl Müller ist. Dann ist er doch sicherlich ebenfalls noch hier, oder nicht?"

„Wir ... wissen es nicht", gab die andere zu. „Vielleicht hat er sich erlöst und nur diese armen Seelen zurückgelassen oder er versteckt sich."

„Ich dachte, du beherrscht dieses Haus und kommst überall hinein?", wunderte sie sich.

Erneut erntete sie ein vehementes Kopfschütteln. „Nein. Das gilt nur für die alten Räumlichkeiten. Die neuen gehören ... ihnen. Ist ein Zimmer geschlossen, komme ich nicht hinein. Genauso wenig wie du."

Moment ... das bedeutete ... „Dann bist nicht du es, die die Eingangstür und die Fenster hier verschlossen hält?"

„Nein. Aber jeder von ihnen hätte die Möglichkeit dazu. Auch sie wollen, dass du den Tresor öffnest. Um jeden Preis."

Unter den starren Blicken der anderen fühlte sie sich immer unwohler und hatte den Eindruck, dass deren Körper deutlich näher herangerückt waren. Warum sagte niemand von denen etwas dazu?

„In Ordnung, dann helft mir. Bitte." Trotz ihres Widerwillens drehte sie sich im Kreis und versuchte, den Geistern direkt in ihre leblosen Augen zu schauen. „Also: Ich suche einen Raum, den keiner von euch betreten kann. Einen, in dem sich der Doktor, Karl Müller, eventuell schon zu Lebzeiten gerne zurückgezogen hat."

Ihre Ansage schien sprichwörtlich auf taube Ohren zu stoßen. Niemand rührte sich und Anna stand weiterhin mit verschränkten Armen dort und funkelte sie an. Als sie die Hoffnung aufgeben wollte, drehte sich ein etwa zwölfjähriger Junge im klassischen Rentierpulli mit glattem Seitenscheitel um, und schritt den Gang hinab in die Finsternis.

Offenbar hatte zumindest einer von denen eine Idee. Schulterzuckend folgte sie ihm durch die dichtstehenden Leiber. Wobei „Leiber" nicht der passende Begriff war, während sie ihm hinterherlief, schienen die Körper sanft auseinander zu wogen. Wie Schilfgras in einem See, das die Beine entlangstrich, bewegten sich die Geister zur Seite. Leichte Berührungen waren unvermeidbar und ließen sie erschaudern. Wie durch feuchtkalten Nebel, der von Tod und Verderben kündete, fühlte sich jedes Auftreffen an und schien ihr ein klein wenig Lebenskraft zu entziehen. Einige Sekunden später war sie bereits hindurch und beeilte sich, um den Anschluss nicht zu verlieren.

Niemand anderes begleitete sie durch die zerstörten Räume des renovierten Gebäudeteils, zumindest nicht sichtbar. Sie war sich sicher, alle Zimmer in diesem Bereich vorhin durchsucht zu haben. Es existierte keine verschlossene Tür – außer der, die Henriette ihr vor der Nase zugeknallt hatte. Umso gespannter war sie, wohin ihr Führer sie bringen würde.

Tatsächlich hielt er in der Eingangshalle direkt auf die Kellertreppe zu, aus der zu Beginn ihres Abenteuers die beiden Schatzsucher heraufgekommen waren, und schritt hinab in das schwarze Loch.

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