VII - Lutz / Karin
„Ey, Mann. Muss das sein?" Geblendet kneift Lutz die Augen zusammen, als Rüdi schnaufend mit dem quadratischen Batterieblock unter dem Arm, durch die Tür trat und ihn ins Gesicht leuchtete.
„Sorry. War 'ne ganz schöne Schlepperei. Und? Hast du was in den anderen Räumen gefunden?" Damit setzte er die Autobatterie sowie diverse aufgerollte Kabel, Klemmen und ein handgroßes Messgerät stöhnend vor der Tresortür ab.
„Staub und Dreck. Keine Geister, Schatzkarten oder Kombination des Zahlenschlosses, die sich jemand auf einen Zettel geschrieben hat, falls du das meinst", klärte er ihn auf.
„Hmpf ..." Kommentarlos machte sich Rüdiger daran, mit einem winzigen Schraubendreher die Verkleidung der eingelassenen Tastatur aufzuhebeln.
„Meinst du nicht, dass es da eine Sicherung gibt, die genau das verhindern soll, was du gerade tust?", gab Lutz zu bedenken.
Weiterhin schweigend hob sein Kamerad einen Metallrahmen ab. Mit seiner Zange zog er aus den jetzt freiliegenden elektronischen Platinen und feinem Kabelgewirr einen roten und einen blauen Draht heraus.
„Nee", kam nach einer Weile die Antwort. „Das ist ein simples Codeschloss. Kannst du im Prinzip in jedem Elektronikmarkt kaufen, um damit deine Haustür abzusichern. Welchen soll ich nehmen rot oder blau?"
„Äh ..."
„War nur ein Witz. Das ist ja keine Bombe, gelle?"
Geschickt zerschnitt er mit einem Seitenschneider beide Drähte, ohne, dass ihnen das Gebäude um die Ohren flog. Anschließend legte er die blanken Enden der Leitungen frei.
„Dann wollen wir mal", kommentierte Rüdi seine Arbeit, klemmte zwei deutlich dickere Kabel an die Pole der Batterie sowie auf der anderen Seite an die freigelegten Enden.
Mit einem lang gezogenen Piepen erwachte die Apparatur zum Leben. Auf der eingelassenen Digitalanzeige tauchten kurz sechs grüne Achten auf und verloschen wieder. Eine winzige gelbe LED in dem Kabelwirrwarr deutete jedoch an, dass weiterhin Strom floss.
„Okay", schloss Rüdiger. „Saft haben wir. Wollen wir einfach ein paar Kombinationen ausprobieren? Geburtstage oder so?"
„Hm ... Besser nicht. Vielleicht haben wir nur drei Versuche." Gedankenverloren kaute er auf seiner Unterlippe. Da kam ihm eine Idee: „Drück nur die Taste mit dem Häkchen. Ohne was einzugeben. Eventuell sehen wir dann wenigstens, wie viele Ziffern erforderlich sind."
Schulterzuckend nahm Rüdiger die heraushängende Tastatur zur Hand und presste mit dem Zeigefinger die entsprechende Taste.
Piepen, Surren und ein metallisches Klacken ertönten aus dem Inneren der Tür.
„Öh ... haben wir jetzt die Tür verschlossen?", spekulierte sein Kumpel.
Lutz schüttelte den Kopf: „Die war nicht offen. Das haben wir vorhin ausprobiert."
Zielstrebig schritt er zu dem Griff neben dem Codeschloss, spannte seine Muskeln an und zog. Wie frisch geölt schwang das massive, fünf Zentimeter messende Türblatt auf. Der einzige Widerstand kam von dem simplen Federmechanismus des Türspanners.
Triumphierend grinsend wandte er sich an Rüdiger: „Und? Was habe ich gesagt?"
„Hm ... aber warum sollte man einen Tresor nicht abschließen? Speziell bei einem Stromausfall hätte ich angenommen, dass er sich verriegelt." Sein Kumpel hob die Taschenlampe vom Boden auf und leuchtete in den Raum. „Außer es ist kein Tresor."
„Kein Tresor?" Damit hatte er Lutz Neugierde geweckt.
Er stellte sich neben Rüdiger in die Türöffnung und hielt sie mit seinem Rücken auf. Das lang gestreckte Zimmer erinnerte ihn spontan am ehesten an einen Bunker. Vermutlich handelte es sich um einen Panikraum, in dem sich die Familie schnell zurückziehen konnte, falls sich Einbrecher oder Entführer im Haus aufhalten sollten. Einfach zügig reingehen, Tür zuziehen und auf Hilfe warten. Fertig. Dafür ergab auch das Codeschloss einen Sinn. Die Feuerwehr oder Polizei würde die Kombination kennen und könnte die Geflüchteten später befreien, selbst wenn diese ohnmächtig oder verletzt waren.
Zwei Doppelstockbetten aus Metallrahmen mit folierten Kissen und Bettdecken flankierten den Eingang. Dahinter stand ein Schreibtisch, vollausgestattet mit Telefon, Papier und Büromaterialien. Es folgten mehrere Regale, in denen sich Konserven, Einweckgläser und eingeschweißte Lebensmittel stapelten. Den Abschluss bildete eine Kochnische mit zwei Herdplatten sowie eine Nasszelle mit Toilette, die sich mit einem weißen Vorhang abtrennen ließ. Die Luft roch abgestanden und muffig, aber knochentrocken. Kein Wunder, dass Elektronik und Mechanik noch problemlos funktionierten.
Was seinen Blick jedoch magisch anzog und sein komplettes Blickfeld zu füllen schien, war etwas anderes: Unter dem Schreibtisch stand er. Der Jackpot! Ein fetter, hüfthoher Tresor, der nur darauf wartete, sie mit dem Reichtum zu beschenken, der sich in seinem Inneren verbarg.
„Boah!", rief Rüdiger und stürzte sofort in den Raum hinein. „Was für ein Teil!"
Jetzt gab es auch für ihn kein Halten mehr. Mit schnellen Schritten rannte er seinem Kumpel hinterher, warf sich neben ihn auf die Knie und betastete den Gegenstand der Begierde. Hinter ihm fiel die Tür mit einem trocknen Klacken ins Schloss. Der Panzerschrank war ganz klassisch mit einem Drehrad verriegelt, auf dem man die Kombination einstellen und im Anschluss mit einem simplen Hebel die Tresortür öffnen konnte. Zum Glück keine Elektronik, sondern gute, alte Mechanik. Ein Heimspiel für Rüdiger. Insbesondere da sie alle Zeit der Welt hatten.
„Hey, Lutz. Das wird ein Kinderspiel. Ein ähnliches Modell hatten wir auch im Klub stehen zum Üben."
„Ein Tresor? Ehrlich?" Das hörte er zum ersten Mal. „Ich dachte, ihr hättet nur mit Fahrradschlössern, Türzylindern und so weiter geübt."
Augenzwinkernd antwortete sein Kumpel: „War nur für die Fortgeschrittenen. Ich hole kurz meine Ausrüstung. Das Baby wird meinem Charme nicht lange widerstehen können."
Damit erhob er sich und ging in Richtung Ausgang. Lutz war nach wie vor in die Betrachtung ihres Jackpots versunken. Was der wohl enthalten würde? Es war mit ziemlicher Sicherheit der einzige Tresor im Haus. Vielleicht Microsoft-Aktien von 1993? Bargeld? Gold? Den Diamantschmuck der Hausherrin hatte man garantiert ebenfalls dort aufbewahrt.
„Ähm ... Lutz?" Den alarmierten Ton in Rüdigers Stimme kannte er und wirbelte herum.
Sein Kumpel stand jedoch allein und offenbar ratlos vor der Ausgangstür.
„Was ist?", fragte er, als dieser nicht sagte.
„Auf dieser Seite gibt es ebenfalls ein elektronisches Codeschloss." Mit dem Zeigefinger deutete er auf die Tastatur, die mit der äußeren komplett identisch war.
„Drück halt auf das Häkchen." Wo lag das Problem?
„Habe ich."
Musste er seinem Kumpel jedes Wort aus der Nase ziehen? „Ja, und?"
„Ich ..." Er verstummte.
„Was?"
„Ich befürchte, die Klemmen sind abgerutscht, als die Tür zugefallen ist. Oder die innere Tastatur sitzt an einem anderen Stromkreis. Keine Ahnung ..." Hilflos zuckte er mit den Schultern. „Jedenfalls geht sie nicht mehr auf."
Oh, Fuck.
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Mit einem mechanischen Klacken verschloss sich die Tür im Nebenraum und erstickte sämtliche Geräusche. Gebannt wartete Karin in der Grabesstille darauf, dass die Tür sich erneut öffnete, sie Schritte oder das Rumoren der beiden hörte. Hatten die nicht eben begeistert irgendwas von einem Jackpot gerufen? Das war sicher der Tresor, den sie suchten. Aber warum kam niemand mehr heraus? Auch wenn ihr die Zeitanzeige von ihrem Smartphone fehlte, wartete sie hier bestimmt schon fünf bis zehn Minuten. Eine Ewigkeit, wenn man einfach nur darauf harrte, dass irgendetwas geschah. Vergeblich.
Anna hatte sie gezwungen, hierher zurückzukommen. Aber wozu? Sicherlich nicht, um in der Dunkelheit zu hocken. Ansonsten hätte sie vorhin wohl kaum so drängeln müssen. Mit langsamen Schritten tastete sie sich im stockfinsteren Flur an Tapeten entlang zu dem kleinen Raum mit der Panzertür. Die undurchdringliche Schwärze war dort noch tiefer als im Korridor, falls das überhaupt möglich war. Sie sah sprichwörtlich nicht die Hand vor Augen. Ihr Atmen war das einzige Geräusch, das die absolute Stille zerschnitt.
So kam sie nicht weiter. Mit dem Daumen ließ sie das Licht ihrer kräftigen LED-Taschenlampe aufflammen und schloss geblendet die Lider. Als sie sie vorsichtig öffnete, erkannte sie ein zur Seite geklapptes, hölzernes Regal, das offenbar als Geheimtür diente, die ausgebreiteten Werkzeuge der beiden, das Codeschloss, das dieser Rüdi manipuliert hatte, sowie die Autobatterie. Als sie näher herantrat, fiel ihr auf, dass nur eines der Kabel von der Batterie am Schloss angeklemmt war. Das andere lag auf dem staubigen Boden. Kein Wunder, dass niemand mehr herauskam. Vermutlich fehlte der Strom.
War das der Grund, warum Anna sie nicht gehen lassen wollte? Sie sagte ja, sie müsse helfen. Das würde auch erklären, warum der Geist sie nicht hinausließ, bis sie diese Aufgabe erfüllt hatte. Und Eile war eventuell geboten, falls der Raum keine separate Luftzufuhr hatte. Ohne Handy fehlte ihr die Möglichkeit, Hilfe zu rufen, und die beiden würden es ihr hoffentlich danken, wenn sie sie befreite. Also, das andere Kabel musste irgendwo angeklemmt werden. Dort. Aus dem Wirrwarr ragte genau ein blauer Draht mit blankem Ende heraus. Erleichtert, die offensichtliche Lösung so schnell gefunden zu haben, hob sie die entsprechende Klammer des Batteriekabels und klemmte sie an das offene Kabelende.
Nichts passierte. Sie drückte die Taste mit dem Häkchen, aber das Gerät blieb stumm. Auch war die Tür weiterhin fest verschlossen. Hm ... Vorhin hatte sie jedoch ein deutliches Piepen gehört und die beiden hatten sich über die Anzeige unterhalten. Nochmals kontrollierte sie den Aufbau, entfernte die Clips und montierte sie erneut. Jeweils ein rotes und ein blaues Kabel waren an der Batterie angeschlossen und jetzt mit Klemmen an den Gegenstücken des Schlosses befestigt. Es existierten keine weiteren blanken Drähte oder Klammern. Einfacher ging es nicht. Trotzdem passierte nichts.
Sie war überzeugt, dass die beiden dort drin waren, und dass Anna sie hier nicht rauslassen würde. Den Geist, um Hilfe zu bitten, oder davon zu überzeugen, sie doch rauszulassen, wagte sie nicht. Der Schrecken von dem Ausbruch der Entität im Eingangsbereich, saß ihr noch immer in den Knochen.
Und nun? Falls sie etwas falsch gemacht hatte, konnte sie es nicht ändern. Mehr Anschlussmöglichkeiten existierten nicht. Eventuell war das Schloss kaputt, aber daran könnte sie nichts machen. Blieb nur die Batterie, die dann entweder defekt oder leer war. Gab es einen Ersatz? Klar, in ihrem Auto. Das half nichts. Was sonst? Ihr Smartphone. Dort war der Akku fest verbaut und sie wusste nicht, wie kräftig er war. Ihre Taschenlampe hatte eine Batterie, aber ohne Licht, konnte sie damit nichts anfangen.
Das Powerpack! Schnell holte sie aus dem Rucksack den schweren Block in der Größe von zwei Schokoladentafeln. Das Studium der Beschriftung zeigte zwölf Volt, genau wie die Autobatterie. Die anderen Angaben waren jedoch komplett unterschiedlich. Leider studierte sie Psychologie und nicht Elektrotechnik, aber zumindest, dass die Volt-Zahl passen musste, wusste sie noch aus dem Physikunterricht. Somit war es einen Versuch wert. Aufgrund der geringen Spannung des Akkus konnte im Grunde nicht viel passieren. So ihre Hoffnung.
Die nächste halbe Stunde verbrachte sie damit, mithilfe der Werkzeuge von den Kerlen die Hülle des Powerpacks zu knacken. Das Teil war natürlich nicht dafür gedacht, dass man es aufschrauben und reparieren konnte. Außerdem fand sie auch noch eine zweite Taschenlampe. Das war ebenfalls beruhigend. Ansonsten müsste sie bis morgen früh warten und darauf hoffen, dass durch die Fensterläden etwas Licht hereinfiele – und zehn Stunden oder mehr mit einem irren Geist in pechschwarzer Finsternis verbringen.
Von diesen Gedanken angetrieben, hielt sie schlussendlich das Innenleben des Powerpacks in den Händen. Von zwei dicken, batterieähnlichen Akkus führten am Ende ein graues und ein schwarzes Kabel zu der Platine mit irgendwelchen Mikrochips und den Steckerbuchsen. In einem letzten Schritt schaffte sie es, von den beiden Kabeln die Isolierung abzuziehen. Na also, wer brauchte schon ein Elektrotechnikstudium. War doch alles gar nicht so schwer.
Jetzt kam es darauf an. Mit Bedacht löste sie die Klemmen von der Autobatterie und montierte sie an ihren improvisierten Ersatz. Anschließend befestigte sie die Metallklammern an den blanken Enden des Schlosses.
Das durchdringende Piepen und Aufglühen der grünen Digitalanzeige ließen sie ein deutliches: „YES, GOTCHA!", sowie die Luft ausstoßen, die sie bis eben in gespannter Erwartung angehalten hatte.
Jetzt kam es darauf an. Vorsichtig, damit bloß keines der Kabel abrutschte, drückte sie das Häkchen auf der Tastatur. Erneut erklang das Surren und Klacken, das sie bereits vorhin gehört hatte. Mit beiden Händen zog sie an dem Türgriff.
Das schwere Eisenblatt schwang ihr lautlos, wie frischgeölt, entgegen.
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