IV - Lutz
Wieder in der Bibliothek mit den Bücherhaufen diskutierte Lutz mit Rüdiger die nächsten Schritte.
„Mit dem Keller sind wir im Prinzip durch", meinte sein Freund, „den können wir vergessen. Und ganz ehrlich: Würdest du deinen Tresor im Partykeller verbauen?"
Da hatte sein Kamerad einen Punkt. Geld, Aktien und wichtige Papiere würde man in der Nähe seines Arbeitsplatzes aufbewahren. Die Idee, das Haus von unten nach oben systematisch zu durchsuchen, war in diesem Fall eigentlich ziemlicher Blödsinn. Es ging ja nicht um eine Geheimtür, die niemand entdecken sollte, sondern einen simplen Safe. Den jedoch vor ihnen noch keiner gefunden hatte.
„Hast recht." Stöhnend erhob er sich und machte sich auf den Weg in Richtung Ausgang. „Trotzdem muss er irgendwie versteckt sein. Aber lass uns nach dem Büro des guten Herrn Doktor suchen. Die gruseligen Gästezimmer können wir auf jeden Fall vergessen."
„Ähm ... wollten wir nicht unsere Ausrüstung mitnehmen?", fragte Rüdiger.
„Hm ... das sind vier Taschen. Zuviel für uns beide. Wir nehmen nur das Wichtigste mit. Den Rest lassen wir hier. Außerdem hat vorhin vermutlich einfach nur das alte Holz gearbeitet." Restlos überzeugt war er selbst nicht, aber mit vier schweren Rucksäcken Dutzende Räume zu erkunden, war ebenfalls keine Option.
Kurz darauf klapperten sie die restlichen Zimmer rund um den Empfangsbereich ab: Ein Rauchersalon mit zerbrochenen Möbeln für die Herren und Damen des Hauses, sollten diese geraucht haben. Das bekannte Esszimmer der Tragödie. Eine Großküche mit Edelstahlschränken, aus denen alles Wertvolle und sämtliche Elektrogeräte entfernt waren. Ein Aufenthaltsraum für die Servicekräfte mit zerbrochenen Stühlen. Ein Lagerraum mit leeren Regalen. Ein kleineres Speisezimmer mit umgeworfenen Vitrinen und zersplittertem Porzellangeschirr. Ein Wintergarten, dessen Glas mit Steinen eingeworfen wurde, mit Ausblick auf verdorrte Vegetation. Versiffte Toiletten. Räumlichkeiten, die man für den Empfang einer Vielzahl Gäste sowie für das entsprechende Personal benötigte. Jedoch waren diese offenbar schon von diversen Besuchern vor ihnen gründlichst durchsucht worden. Aber Karl Müller musste damals sprichwörtlich über Geld wie Heu verfügt haben. Und dass nur drei Jahre nach der Wende als Self-Made-Millionär. Erstaunlich. So faszinierend der Einblick in das Leben dieser ultra-reichen Familie war, es brachte sie ihrem Ziel nicht näher.
Rüdiger kletterte vor ihm die geschwungene Freitreppe hinauf. Die Marmorstufen schwangen sich im weiten Bogen in den ersten Stock. Die Deckenhöhe betrug hier locker vier Meter. Das von dicklichen Steinsprossen getragene Geländer strahlte im Schein ihrer Taschenlampen noch heute überbordende Dekadenz aus. Kein simples Holz- und Metallgeländer, nein, alles aus feinstem Marmor und poliertem Stein, fast wie bei Kaiserin Sissi. Hinter ihnen und seitlich verschluckte Finsternis den ehemals erhabenen Anblick. Hoffentlich waren diese Stufen nicht genauso marode wie der Gästetrakt.
Kopfschüttelnd folgte er Rüdiger, der mitten im Schritt innehielt und ihn beinahe auflaufen ließ.
„Was ist?", flüsterte Lutz alarmiert.
„Da unten. Neben der Treppe", sein Kamerad leuchtete in den seitlichen Abgrund, von dem drei pechschwarze Öffnungen in Korridore abzweigten, „im mittleren Gang habe ich einen Lichtschein gesehen."
„Bestimmt nur eine Reflexion unserer Lampen auf einem Spiegel. Und selbst wenn hier noch jemand außer uns unterwegs ist, dann erwischen wir ihn vielleicht endlich. Okay, lass uns nachschauen."
Damit kehrten sie um und liefen die Stufen wieder hinab. Unten angekommen, leuchtete er in den mittleren Gang. Vier Zimmer gingen zu beiden Seiten ab und auf dem Flur hing, wie vermutet, ein gesprungener und korrodierter Spiegel über einer Kommode.
„Siehst du, Rüdi?" Er stellte sich vor das fragliche Möbelstück.
Ein großgewachsener Mann Anfang vierzig mit dunkelblondem Dreitagebart, mittellangen Haaren und stahlgrauen Iriden leuchteten ihn mit der Taschenlampe an. Erste Falten um die Mundwinkel und Ringe unter den Augen zeigten ihm, dass er nicht jünger wurde.
Jedes Mal wenn er nach Hause kam, hielt ihm Miranda zu Recht vor, dass er endlich Schluss machen solle mit dem Herumgereise. Dass ihre Tochter Maja, die in einem Jahr in die erste Klasse ginge, einen Vollzeitpapa bräuchte und keinen Teilzeitschatzsucher. Und jedes Mal versprach er ihr, sich demnächst einen festen Job zu suchen. Und jedes Mal, wenn er bei seinen Recherchen oder durch den Tipp eines Kontaktes auf eine neue, heiße Spur stieß, packte er dennoch seine Ausrüstung und zog los. Nur dieses eine Mal noch. Versprochen. Wie oft hatte er sich diese Worte in den letzten zwanzig Jahren sagen hören? Zu oft. Viel zu oft. Aber er konnte einfach nicht anders, das Abenteuer und die Hoffnung auf den großen Jackpot lagen in seiner Natur. Hoffentlich würde sich in dieser Villa sein Schicksal endlich erfüllen.
Seufzend wandte er sich von dem mittig zerrissenen Spiegelbild ab und schob die danebenliegende Tür mit der Schulter auf. Staub und Dreck prasselten auf ihn herab, während er mit der Lampe den Raum erfasste.
„Bingo", er stieß pfeifend die Luft durch seine Zähne. „Das Arbeitszimmer des alten Herrn, wenn du mich fragst."
Im Lichtkegel zeigten sich halb zerfallene Bücherregale, die einst vom Boden bis an die drei Meter hohe Decke gereicht haben mussten, sowie Biedermeierkommoden mit herausgerissenen Schubladen und ein ausladender Schreibtisch aus dunklem Holz. Rüdiger folgte ihm auf dem Fuße.
„Aber wir sind nicht die Ersten hier. Wonach suchen wir?"
„Rüdi." Dieses Mal konnte er sich das Augenrollen nicht verkneifen. „Wie lange machen wir schon den Job gemeinsam? Fünfzehn Jahre? Wir suchen nach Metallansammlungen in den Wänden. Was sonst? Und hast du auch nur einmal erlebt, dass wir die Ersten waren?"
Sein Kamerad schien ernsthaft darüber nachzudenken. „Ja. Weißt du noch, in dem Haus des Eremiten in Guatemala mitten im Dschungel? Wo wir die Karte von dem Maya Tempel gefunden haben? Da war definitiv niemand vor uns."
„Stimmt, aber außer Moskitostichen, Durchfall und ..."
„Psst!"
„Was ist denn jetzt schon wieder?" Langsam ging ihm die ständige Panikmache von Rüdiger auf den Keks. Der war doch sonst nicht so schreckhaft.
„Sschh." Sein Kamerad hielt sich den Finger auf die Lippen und hatte die Augen geschlossen.
Jetzt hörte er es auch. Eine Frauenstimme, die eine Weise vor sich hin sang, ohne, dass er einzelne Worte hätte identifizieren können. Das kam eindeutig aus dem Korridor. Und näherte sich.
„Mir reicht's endgültig. Wenn sich da jemand ..."
Er zog seine Waffe, entsicherte sie und wollte gerade in den Flur treten, als er beinahe mit einer Frau mittleren Alters zusammengestoßen wäre, die in diesem Moment durch die noch geöffnete Tür in das Zimmer schritt.
„Hey!" Erschrocken trat er zurück und rempelte gegen Rüdiger.
Die Dame ließ sich davon nicht irritieren. Mit hochtoupierten blonden Haaren, stark geschminkt, schwarzem mit glänzendem Pailletten besetztem Blazer und dunkelrotem Kleid kam sie melodisch singend herein. Drehte sich mit einem Trippelschritt um die eigene Achse, lächelte und ging auf den Schreibtisch zu.
„Ich sing' von Glocken, die klingen,
von Sternen, die am Himmel stehen,von Kerzen, die in der Stille,in den Fenstern leise gehen.Ich sing' von Freude und Liebe,die in Herzen brennen hell,doch ich sing' auch von dem Ende,von dem Abschied, schwer und schnell."
Was zum Teufel sollte das werden? Verstehen Sie Spaß? Versteckte Kamera? Die Frau war ganz offensichtlich kein Geist, sondern genauso solide, wie er oder Rüdiger. Zumindest, was ihre körperliche Verfassung betraf. Durchgeknallt. Definitiv. Aber weder war sie durchscheinend, noch leuchtete sie oder irgendwas. Trotzdem kam kein Wort über seine Lippen und er verharrte wie eingefroren an Ort und Stelle.
Gebannt beobachteten sie, wie die Dame vor sich hin summend zum Schreibtisch schritt und in Unterlagen blätterte, die dort nicht lagen. Einen imaginären Schreibtischstuhl heranschob, der eigentlich in der Ecke des Raumes lag. Am Ende goss sie offenbar Pflanzen, die auf der Fensterbank bereits vor langer Zeit zu Staub zerfallen waren und deren Töpfe sich zersplittert auf dem Boden verteilten.
„Lutz?", flüsterte Rüdiger von hinten. „Denkst du auch, was ich denke?"
Die Worte seines Partners durchbrachen den Bann. „Ja. Da will uns jemand ordentlich verarschen."
„Nein, ich dachte eigentlich ..."
Aber er ließ ihn nicht ausreden, trat einen Schritt vor und wendete sich direkt an die Frau: „Hey. Wer sind Sie und was zum Teufel machen Sie hier?"
Sie verstummte, hielt in ihrem Pantomimespiel inne und sah ihm in die Augen. Die Wände des Raumes näherten sich und ihre nahezu schwarzen Iriden schienen ihn förmlich in sich aufzusaugen, während sich ihre Augenbrauen unwillig zusammenzogen. Die Temperatur fiel um einige Grade. Eine Gänsehaut schoss über seinen Rücken und er verfluchte sich für die dreiste Ansprache. Dann zuckte sie jedoch mit ihren Schultern, wendete sich von ihm ab und spazierte summend in Richtung des Ausgangs.
Statt hinauszugehen, drehte sie sich nochmals zu einem der wenigen intakten Bücherregale um – und schritt durch die Wand hindurch!
„Rüdi?", fragte er seinen Kumpel, ohne sich zu bewegen, und konnte ein Zittern in seiner Stimme nicht verbergen.
„Ja?"
„Das war ein Scheiß Geist, oder?"
„Na ja ..."
Langsam kam wieder Leben in seine Glieder. Das war unzweifelhaft kein Fake. Sondern ... er wusste es nicht. Wirklich ein Geist? Zumindest irgendwas Übernatürliches. So viel stand fest. Sollten sie sich davon abhalten lassen? Ganz sicher nicht. Paranormales Phänomen hin oder her. Im Gegenteil. Eventuell wollte ihnen die Erscheinung sogar helfen.
Mit Bedacht ging er zu dem Regal und strich mit den Fingern darüber. Das Holz war alt, aber nicht morsch. Im Gegensatz zu den anderen Gestellen schien dieses nicht aus dem vorletzten Jahrhundert zu stammen und stattdessen maximal ein oder zwei Jahrzehnte auf dem Buckel zu haben.
„Schau dir das an. Deutlich jünger als die restliche Ausstattung. Ob das Zufall war, dass sie hier durch verschwunden ist?"
„Du meinst, sie wollte uns etwas sagen?" Sein Kamerad schaute immer noch mit geweiteten Augen durch den Raum, als ob die Erscheinung jeden Moment wieder auftauchen würde.
„Vielleicht gibts hier eine Geheimtür oder so."
Damit begannen sie, das Regal systematisch abzutasten und nach einem versteckten Mechanismus zu suchen und es zu zerlegen.
Nach einer halben Stunde standen sie vor leeren Regalen mit einer blanken, holzvertäfelten Rückwand. Die geometrischen Muster aus hellen und dunklen Holzarten zeugten von Handwerkskunst, jedoch fanden sie nichts, das sich als Hebel oder Druckknopf verwenden ließ.
„Und jetzt?", fragte Rüdiger.
Wortlos nahm er den Metalldetektor zu Hand und hielt die übergroße Schlaufe an die Wand. Ein langgezogenes Piepen erklang.
„Jawohl! Rüdi, wir haben es!" Seine Stimme überschlug sich fast vor Aufregung.
In einer kreisenden Bewegung untersuchte er die gesamte, freigelegte Fläche. Das Piepen blieb konstant. Massives Metall. Zu Sicherheit hielt er es an die andere Wand und das Geräusch verklang. Das Instrument war in Ordnung.
„Öh ... das ist aber ein ziemlich großer Tresor", kommentierte Rüdiger das Offensichtliche.
„Mag sein. Lass uns erst mal das Metall freilegen, vielleicht sind wir danach schlauer." Eine bessere Antwort hatte er auch nicht parat.
Mit ihren Hämmern, Stemmeisen und vereinten Kräften begannen sie, die restlichen Regale sowie die hölzernen Paneele herauszureißen.
Immer mehr Staub rieselte von oben herab, während sie die dicken, mit Mustern und kleinen Figuren verzierten Stützen der Bücherregale von der Wand stemmten. Nachdem die ersten Balken krachend auf dem Boden landeten und hinter den Holzplatten rostiger Stahl hervorlugte, hielten sie inne.
Doch das Rieseln des Staubes von oben hörte nicht auf.
„Lutz?", fragte sein Kamerad unsicher und sah hoch.
Er folgte seinem Blick. In diesem Moment verbreiterte sich ein deutlich sichtbarer Riss in der Zimmerdecke zusehends.
„Oh, Sch ..."
Das Krachen, als der Deckenbalken unmittelbar an der Wand, seiner Stützen durch die Regale beraubt, zusammenbrach, hallte durch die Korridore. Die Decke, die nur auf eine Gelegenheit gewartet hatte, sich ihrer lästigen Statik zu entledigen, folgte als Sturzbach aus Hölzern, Steinen und Putz.
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