I - Karin
Trockene Blätter wirbelten raschelnd zur Seite. Karins schwarze Boots schoben sich im Schein der grellen LED-Leuchte über den Kiesweg. Langsam hob sie das Gerät und fokussierte mit der Selfie-Kamera ihr Gesicht.
„Hey Leute, herzlich willkommen zu einer brandneuen Folge von ‚Leidende lügen nicht'! Wir sehen hier gerade eine freaky Geistervilla", flüsterte sie theatralisch. „Schaut euch mal um."
Damit wechselte sie Licht und Linse erneut, um in einem weiten Halbkreis, die verwilderten Hecken, überwucherten Parkbänke und natürlich die alte Villa zu zeigen. Es war kurz nach Sonnenuntergang. Ausreichend Helligkeit, um noch die Umgebung einzufangen, jedoch war es dämmrig genug, um deutlich zu machen, dass sie gleich im Dunkeln ins Haus gehen würde. Das war der Nervenkitzel, der ihre Abonnenten – und zugegebenermaßen sie selbst – anzog: eine verlorene Villa im wahrsten Sinn des Wortes. Sicherlich zweihundert Meter breit, drei Stockwerke, mit geschwungenem Dach und fest geschlossenen Fensterläden.
„Alles gesehen?", wandte sie sich wieder an ihre Abonnenten, die in Echtzeit im Livestream dabei war und den Grusel vor den heimischen Bildschirmen genoss. Aktuell 736 Zuschauer. Keine schlechte Quote. „Dann machen wir uns mal auf Geisterjagd."
Kurz zwinkerte sie in die Kamera und schritt weiter den Weg entlang. „Wie ihr vielleicht schon gehört habt, wurde der olle Schuppen vor rund hundertdreißig Jahren gebaut. Krass alt, würde ich sagen. Aber das ist nicht das Besondere. Vor exakt dreißig Jahren kam es hier zu einem tragischen Unfall. Falls es ein Unfall war ..." Anschließend gab sie auf ihrem Weg zum Haupteingang die bekannte Story vom Tod der dreizehnköpfigen Familie und dem defekten Kamin zum Besten. Je gruseliger und grausamer die Schicksale der Dahingeschiedenen, desto besser. Warum sonst sollten die Geister der Verstorbenen noch durch die Villa spuken?
Auch wenn sie sich locker gab, Locations wie diese brachten ihr Herz zum Pochen. Schon mehrmals war sie in brenzlige Situationen geraten. Jedoch nicht wegen irgendwelcher Gespenster: baufällige Treppengeländer, brüchige Böden oder Junkies, die sich in den alten Gemäuern einquartiert hatten. Inzwischen ging sie nie ohne Stemmeisen, keulenartige Taschenlampe, Militärmesser, Pfefferspray und Powerpack auf diese Touren. Fünfmal kurz auf das Display ihres Handys tippen und Rettungskräfte wären innerhalb von Minuten vor Ort.
Pünktlich zum Ende der längeren Background-Story erreichte sie die Eingangstür. Im unnatürlichen LED-Licht wirkte diese beinahe schwarz. Dunkelgrüne abblätternde Farbe mit eingelassenen, blinden Fenstern, die sich nach außen wölbten. Fast wie Bullaugen. Fehlte nur noch, dass eine der gläsernen Kuppeln sie anblinzelte. Brrr. Was für einen scheußlichen Geschmack die damaligen Eigentümer hatten. Das Schloss war herausgebrochen und das Türblatt nur angelehnt. Kein Wunder, sie war sicher nicht die erste Besucherin dieses „Lost-Place". Aber heute hoffentlich die einzige.
Mit einem deutlichen Knarzen schob sie die Tür auf, vor der noch ein Haufen alten Laubes lagerte. Stöhnend stemmte sie sich mit der Schulter gegen das Holz, bis der Spalt breit genug war. Die Villa wollte offensichtlich nicht betreten werden. Etwas außer Puste und mit widerhallenden Schritten betrat sie das Foyer. Die Kälte des trockenen Wintertags ließ ihren Atem zu Dampf gefrieren.
„So, Freunde", gab sie flüsternd ein Update, „da wären wir nun. Heute ist der 25. Dezember. Exakt dreißig Jahre nach dem tragischen Unfall. Ich will hier Dr. Karl Müller persönlich treffen oder besser: seinen Geist. Warum, fragt ihr? Ihr glaubt doch nicht die Geschichte mit dem kaputten Kamin, oder? Bullshit. Da steckt mehr dahinter. Falls ich ihn finde, werde ich ihn ausquetschen und checken, was genau damals wirklich abgegangen ist, denn ihr wisst ja: Leidende lügen nicht."
Das war ihr Wahlspruch für diesen Channel. Angeblich würden leidende Geister, wenn man sie denn antraf, nicht lügen, denn sie wollten, dass man die Wahrheit herausfand. Leider – oder zum Glück – hatte sie bisher noch keinen getroffen, um diese Theorie zu bestätigen.
Langsam glitt das LED-Licht des Smartphones über Wände mit verstaubten, teils schiefhängenden Porträts ihr unbekannter Personen, deren Augen ihr folgten. Ein Schatten huschte aus dem Lichtkegel, bevor sie ihn erfassen konnte. Vermutlich eine Maus oder sonstiges Getier. Eine mit Spinnenweben behangene Apollo-Büste schaute ihr arrogant entgegen. Um dem Ganzen etwas mehr Pep zu geben, erzählte sie ihren Zuschauern, dass es sich um die Skulptur des damals bereits verstorbenen, ältesten Sohnes handelte. Ihre Abonnenten und Sponsoren sollten schließlich was für ihr Geld bekommen. Diese gaben es für ihren Merchandise, Ausrüstungsempfehlungen und Lesetipps aus. Außerdem plante sie, eine Art Lost-Places-Reiseführer herauszugeben. Das hier war definitiv ein Kandidat dafür.
Während sie kurz innehielt, meinte sie, in der Entfernung unregelmäßiges Klopfen zu vernehmen. Holz, das auf Holz schlug. Ein paar schnelle Klopfer. Pause. Erneute Klopfer und immer so weiter.
„Ich glaube, ich habe etwas gehört. Ihr auch? Fast wie ein Morsecode", spekulierte sie, ohne ihre Aufregung spielen zu müssen. „Jetzt seid bitte ganz leise und haltet den Atem an. Ist das eine Nachricht aus dem Jenseits?"
Während sie langsam einige Schritte in Richtung der vermeintlichen Quelle des Geräusches über die knarrenden Bodendielen schlich, verstummte der Laut. Außer ihren eigenen Atemzügen sowie ihrem pochenden Herzschlag breitete sich Stille in der Halle aus. Ein leises Murmeln waberte kaum wahrnehmbar am Rande ihrer Wahrnehmung entlang. Aber vielleicht war das auch nur der leichte Winterwind.
Einen Augenblick später wummerten schwere Schritte zu ihr herüber. Das Trappeln mehrerer Erwachsener, die ächzende Treppenstufen zügig hinaufliefen. Verflucht! Von wegen Geist. Sie war nicht allein hier!
Mit rasendem Herzen rannte sie zu einer geschlossenen Tür auf der gegenüberliegenden Seite der Geräuschquelle. Die Klinke glitt geräuschlos, wie frisch geölt, herunter und das Türblatt schwang sanft auf. Der dahinterliegende Raum war vermutlich einst eine Bibliothek gewesen. Die Bücher hatte jemand aus den raumhohen Regalen herausgerissen und in chaotischen Haufen aufgeschichtet. Wie Scheiterhaufen, schoss es ihr durch den Kopf.
Kein ungewöhnliches Bild in einer verlassenen Villa. Was sie jedoch schlucken ließ, waren die zwei verstaubten grau-schwarzen Rucksäcke, die in der Mitte des Raumes ruhten. Hölzern trampelnde Schritte näherten sich der Tür. Ohne zu zögern, sprintete sie zu einer Zwischentür auf der linken Seite, deren Rahmen an einen griechischen Tempel erinnerte. Atemlos schlüpfte sie hindurch, während sich bereits das Türblatt des anderen Eingangs aufschob.
Vor ihr öffnete sich im Schein der LED-Funzel ein deutlich größerer Raum. Mittig stand ein feudaler Esstisch wie in einem Königspalast, der locker zwanzig Gästen Platz bot. Gegenüber prangte ein überdimensionaler Kamin mit löwenköpfigen Verzierungen, in dem noch halbverbrannte Äste und Asche ruhten. Kleine Flocken wirbelten bei ihrem Eintreten auf. Links und rechts gingen weitere geschlossene Türen ab. War das der fragliche Raum? Der Ort des Schicksals an dem dreizehn Verwandte tragisch ihr Leben gelassen hatten?
Sie riss sich zusammen. Jeden Moment konnten ihre Verfolger ihr in den Rücken fallen. Während sie zügig durch das gespenstische Zimmer eilte, griff sie sich bereits das Pfefferspray.
Nicht jedoch, ohne ihre Abonnenten schwer atmend auf dem Laufenden zu halten: „Sorry, dass ich ... so hetze ... aber wir wollen ja nicht ... irgendwelchen Junkies oder Landstreichern ... begegnen, die hier nur auf eine hübsche Frau wie eure Karin warten."
Hinter der rechten Tür, die sie intuitiv gewählt hatte, zog sich eine enge, gewundene Turmtreppe aus Stein in die Höhe. Eine Wahl blieb ihr nicht, obwohl ihr ein Hinterausgang lieber gewesen wäre. Mit Bedacht schloss sie die Tür und hetzte die massive Treppe immer zwei Stufen auf einmal nehmend hinauf. Hier musste sie keine Angst haben, dass jemand ihre Schritte hörte. Oben angekommen, flüchtete sie durch einen langen Korridor, dessen Ende in Schein ihres Smartphones nicht auszumachen war. In regelmäßigen Abständen durchbrachen zu beiden Seiten mahagonifarbene Türen die fleckigen, mit gemusterten Tapeten verkleideten Wände. Nicht unähnlich einem Hotelflur. Auch der verrottende, Fäulnis und Moder ausdünstende Teppich erinnerte daran.
„Shit. Was mache ich jetzt?", fragte sie mehr sich selbst als die inzwischen auf 2.500 Zuschauer angewachsene Masse ihrer Abonnenten, die ihre Flucht verfolgten. Ein persönlicher Rekord, den sie in diesem Moment jedoch nicht zu schätzen wusste.
Immer tiefer schlich sie in das alte Gemäuer. Leider fand sie keinen weiteren Treppenabgang. Falls ihre Verfolger mit einer kräftigen Taschenlampe in den Flur leuchteten, stünde sie wie auf dem Präsentierteller. Eventuell gab es hier eine Möglichkeit, aus dem Fenster zu klettern? Von außen rankte sich Efeu über die Wände. Mit pumpendem Atem hielt sie inne und legte wahllos ihre Hand auf die kühle Messingklinke des nächsten Raumes. Langsam schob sie die quietschende Tür auf.
Spinnenweben zerrissen. Deren fette Baumeister huschten empört davon, als das Türblatt sich schabend über verzogene Bodendielen in das Zimmer öffnete. Mit der Hand fegte sie die klebrigen Fäden beiseite und trat ein. Vorsichtig schob sie die Tür wieder zu.
„Wow. Schaut euch das an", flüsterte sie in die Kamera und schwenkte sie in die Runde.
Trotz ihrer potenziellen Verfolger konnte sie sich der Faszination nicht entziehen. Die Möbel schienen bereits im vorletzten Jahrhundert gefertigt worden zu sein. Ein ausladendes Himmelbett, Spiegelkommode mit bequemem Sessel, eine Sitzecke mit Teetisch und eine weitere Tür, die vermutlich in ein separates Badezimmer führte. Aufgrund der dicken Staubschicht und des fahlen Scheins ihres Smartphones wirkte alles fast wie in einem Schwarz-Weiß-Film. Die Fensterläden gegenüber waren geschlossen.
„Okay, Leute. Hier sind wir also. Hinter mir sieht es so aus, als wären eine Menge überdrehter Geister oder so etwas in der Art, und vor mir ist der einzige Ausweg – durch das Fenster im ersten Stock." Kurz wechselte sie die Kamera auf ihr Gesicht. Im glimmenden Schein des Displays fuhr sie im verschwörerischen Tonfall fort: „Aber hey, you know me. Zusammen haben wir schon Schlimmeres erlebt. Erinnert ihr euch noch an den U-Boot-Bunker in Bremerhaven? Die Typen, die sich dort eingenistet hatten und ..."
In diesem Augenblick hörte sie das deutliche Schaben der in der Finsternis liegenden Zimmertür, als diese sich öffnete.
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