Epilog

„Hey, Leute ... herzlich willkommen zur neuesten Ausgabe von ‚Leidende lügen nicht'! Und, Leute, checkt mal, was heute abgeht: Es ist eine absolute Premiere - zum ersten Mal stürze ich mich nochmals in die düstere Welt paranormaler Ereignisse an der gleichen Location und nehme euch natürlich wieder live mit!

Yep, richtig geraten, ich bin zurück in der Geistervilla von Dr. Karl Müller. Diese creepy Bruchbude hat ja, wie wir mittlerweile wissen, während einer Weihnachtsfeier im Jahr 93 die gesamte Familie von diesem Typen ausgelöscht! Er hat damals die Luftzufuhr am Kamin manipuliert und sich selbst und zwölf Unschuldige mit Kohlenmonoxidvergiftung ins Jenseits geschickt. Und der leere Tresor, der mir fast zum Verhängnis wurde, hat die ganze Geschichte aufgedeckt: Dieser vermeintliche Self-Made-Millionär war einfach nur ein abgefahrener Hochstapler. Und bevor die Wahrheit ans Licht und jemand unbequeme Fragen stellen konnte, hat er sich und alle, die ihm lieb und teuer waren, aus dem Leben geballert. Eine Art Amoklauf zu Weihnachten. Was für ein kranker Psycho, oder?

Aber wisst ihr, was echt krass ist? Ihr habt mich damals gerettet, als die verdammte Tresortür plötzlich zugeschlagen ist. Das war echt ein mega Fail von mir. Ich meine, wie blöd kann man eigentlich sein und nichts dazwischen legen. Aber ein paar von euch haben die Location erkannt und sofort die Bullen gerufen. Ey, ich weiß bis heute nicht, wie ich euch genug danken kann. Keiner hat so krass coole Abonnenten wie ich! Ihr rockt, Leute!"

Damit richtete Alex, ihr frisch eingestellter Kameramann, die Linse nach vorne in den leeren Korridor und sie hatte einen Augenblick Verschnaufpause, da sie nicht mehr im Fokus stand. Wenn sie daran dachte, dass sie bis vor ein paar Wochen, all das mit einem simplen Smartphone selbst gemacht hatte ... Puh.

Ihre Befreiung aus dem Panikraum sowie die Entdeckung der Mumien hatte ihr jedoch die bekannten „fünf Minuten Berühmtheit" in einem nationalen Fernsehformat und Interviews in Zeitungen verschafft. Diese hatte sie zu nutzen gewusst und auf ihren Channel hingewiesen. Die Abonnenten -Anzahl und Views ihrer alten Videos waren sprichwörtlich durch die Decke gegangen. Weitere Interviewanfragen, vor allem jedoch lukrative Influencer-Verträge mit renommierten Marken, Agenturen und Shops folgten. Aus ihrer One-Woman-Show wurde innerhalb kürzester Zeit ein kleines Team, deren Chefin sie jetzt war.

Was sie nicht erwähnt hatte, waren die wahren Begebenheiten und die Gespräche mit den Geistern. Das hätte ihr niemand abgenommen und im Nachgang war sie selbst nicht mehr sicher, was sie wirklich erlebt hatte und was nur ihren überdrehten Nerven entsprungen war. Keine Frage, die beiden Schatzsucher und deren Mumien waren real. Das war einer der großen Aufhänger, warum sich die Medien überhaupt für die Geschichte interessierten. Aber damit hatte es sich auch schon.

Dass sie jetzt ein Team hatte, änderte nichts daran, dass sie das Gesicht ihrer Show blieb und ihre Abonnenten sie sehen wollten und nicht irgendwen. Daher stapfte sie in diesem Moment mit Alex über modrigen Teppich auf der Suche nach dem Zimmer, in dem ihr Abenteuer damals begann. Abgesehen von einem Live-Stream, der ihr Business am Laufen hielt, erhoffte sie sich davon im Grunde nicht viel. Heute war der dritte März, und die Geister – sofern sie existierten – hatte sie am Ende erlöst. Was auch immer das bedeuten mochte. An diesem Abend sollte die Villa nur noch eine leere Bruchbude sein, die ihren Abonnenten einen gewissen Nervenkitzel und ihr ein Auskommen bescherte. Ein Pflichttermin. Mehr nicht. Nächste Woche würde sie dann mit ihrem Team in die Normandie reisen, um alte Schlösser zu erkunden. Darauf freute sie sich schon jetzt.

Während sie weiter Fakten und Geschichten über die Villa und ihre damaligen Abenteuer zum Besten gab, entdeckte sie tatsächlich eine staubfreie Türklinke an einer Zimmertür, die halb geöffnet war. Das musste der Raum sein, in dem sie vor den Erscheinungen der Schatzsucher geflohen war.

„Wow. Schaut mal hier", lenkte sie die Aufmerksamkeit von Alex sowie ihren Zuschauern auf das fragliche Zimmer. „Krass, oder? Kein Staub und Spinnenweben. Dort rein bin ich damals abgehauen, als ich gruselige Geräusche hörte. Schauen wir mal, ob jemand auf uns wartet."

Augenzwinkernd trat sie an das Türblatt und legte theatralisch ihren Zeigefinger auf die Lippen. Mit einem schleifenden Laut, an den sie sich noch gut erinnerte, schob sie die Tür auf und ließ Alex den Vortritt, damit er die Stimmung einfangen konnte.

„Brrr ... seht ihr die fetten Spiders? Fast handtellergroß. Ey, keine Ahnung, wovon die hier leben. Habt ihr eine Idee? Dann postet es in den Kommentaren." Mit zwei Schritten platzierte sie sich in der Raummitte. Mit der Hand deutete sie auf das verfallene Himmelbett. „Um mich zu verstecken, bin ich da drunter gekrabbelt zu all den ekligen Viechern. Krass, oder? Lasst uns mal schauen, wie es unter 'nem Bett aussieht, wo seit hundertdreißig Jahren niemand mehr gesaugt hat."

Mit einem geübten Handgriff holte sie ihre LED-Taschenlampe hervor. Das neuste Polizeimodell mit zweihundert Stunden Akkulaufzeit. Dann sprang sie elegant in einen Liegestütz und ließ sich auf den Bauch herab, um einen Blick unter das Bett zu werfen. Alex folgte ihr etwas ungelenk und mit Verzögerung, damit das Bild nicht verwackelte und ihre Zuschauer beobachten konnten, wie sie todesmutig vorsprang, um einen Blick in die Spinnenweben zu wagen.

„Psst."

Vor Schreck riss sie ihr Haupt hoch und schlug kräftig gegen die Bettkante.

„Autsch, Kacke", entfuhr es ihr.

Mit zittrigen Fingern und kurz vor einem Herzinfarkt, so heftig hämmerte der arg beanspruchte Muskel in ihrer Brust, schaltete sie jetzt die LED-Lampe an und spähte in die Finsternis unter dem Bettkasten. Beinahe wäre ihr erneut ein Schrei entfahren und sie versuchte, robbend möglichst viel Abstand zu gewinnen.

Von dort schaute sie, mit einem Lächeln auf den Lippen, ein junges, maximal acht Jahre altes Mädchen an. Hielt ihren Finger vor den Mund und zwinkerte ihr zu. Das Mädel lag genau zwischen den dichten Spinnweben. Sie hatte, soweit das im fahlen Schein zu erkennen war, lockige dunkle Haare und trug ein Kleid mit einem Stickkragen.

Verflucht. Anna?!

„Is' was?", fragte Alex sie, der inzwischen auch auf dem Boden angekommen war und mit seiner Kamera die Finsternis unter dem Himmelbett in den Fokus nahm.

Dort lag noch immer die Achtjährige und schaute sie lächelnd an.

„Danke, Karin", flüsterte die Kleine und zwinkerte ihr zu. „Wir haben es geschafft. Wem helfen wir als Nächstes?"

━═━═━═━┤ENDE├━═━═━═━

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