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Nein, die hellen Stellen an meinem Hals werden nichts mit irgendeinem Mal auf der Haut zu tun haben. Warum sollten sie auch? Wieso sollte ich irgendetwas besonderes haben?
Fest entschlossen und doch neugierig auf das, was es mit der Nachricht auf sich hat, nähere ich mich der Gruppe immer weiter.

Erst jetzt bemerke ich, dass sie alle um einen größeren Baum herumstehen, an dem aller Anschein nach, die Nachricht angebracht wurde.

Vorsichtig quetsche ich mich durch die erste Lücke in der Meute und drängele mich ungeduldig weiter nach vorne. Die Menschen um mich herum sprechen aufgeregt miteinander, aber was sie sagen, blende ich völlig aus.

Die Tatsache, dass mein Hals eine Art Mal besitzt, lässt mich einfach nicht mehr los. Ich will unbedingt wissen, was da los ist.
Entschieden schlängle ich mich auch noch zwischen zwei weiteren Leuten hindurch, bis ich dann endlich vor dem Baum stehe.

Eine Glasscheibe ist vor diesen in die Kiesel gesteckt worden, von der das Schild gestützt wird.
Mit pochendem Herzen widme ich meine Aufmerksamkeit nun dem Text und lese ihn durch.

Was? Ich blicke auf die Unterschrift unseres Stadtbesitzers, die den Text als echt kennzeichnet, und lese ihn mir ungläubig ein weiteres Mal durch. Aber es ist genauso, wie es die Leute gesagt haben.

Und er ist genauso verfasst, dass er mich anspricht.
Ich bin neunzehn. Ich bin ein Mädchen. Und ich habe ein Mal am Hals.
Scheiße! Innerlich fluchend drängle ich mich durch die Menschenmasse ins Freie.
Mit zügigen Schritten gehe ich nach Hause und versuche dabei nicht in einen fluchtartigen Sprint zu verfallen.

In den letzten Jahren habe ich meine Selbstbeherrschung noch nie so oft vergessen wie heute. Aber in den letzten Jahren habe ich mich auch absolut tadellos verhalten, um den Vampiren keineswegs aufzufallen.

Und jetzt das? Waren die letzten Jahre Benehmen völlig um sonst?
Oder ist es vielleicht doch nur ein dunkles Muttermal, das sie suchen?
Mache ich mir umsonst Gedanken?

Aufgewühlt verlangsame ich meine letzten hundert Schritte zu unserer Wohnung.
Einige Male atme ich beherrscht ein und aus, dann öffne ich die Tür, trete ins Innere der Wohnung und ziehe meine Schuhe aus.

"Mama, Papa? Seid ihr schon da?"

"Ich bin schon da, Mäuschen! Mama kommt in einer halben Stunde, sie muss noch einen Kontrolltermin machen."

"Oh, okay. Ich muss später mit euch reden", rufe ich zurück, lasse meinen Beutel fallen und gehe dann ohne Umschweife in mein Zimmer.
Schnell schnappe ich mir einen Stift und Papier und schreibe die Nachricht der Vampire auf, damit ich den Wortlaut nicht vergesse.

Anschließend stecke ich den Zettel in meine Hosentasche und gehe ich in unser kleines Bad, um mich im Spiegel zu beobachten. Wie ferngesteuert wandern meine Hände wieder zu der hellen Stelle an meinem Hals und fahren darüber.

Ich habe sie, seit ich denken kann. Bisher habe ich es immer als Zufall befunden, dass sie ein bisschen wie eine Wolfspfote aussieht. Ob es Zufall ist?
Etwas anderes kann ich eigentlich nicht glauben. Schließlich hat sie bisher nichts bedeutet. Es ist einfach nur ein anderer Farbtupfer. Man kann nicht einmal eine Erhebung spüren.

Einige Momente beobachte ich mich im Spiegel und lausche meinen Gedanken, dann kommt mir eine Idee.
Entschlossen greife ich nach meinem teuren Concealer, öffne ihn und tupfe mir die Farbe auf meinem Hals.

Mit jedem Flecken heller Haut, der verschwindet, beruhigt sich mein stolperndes Herz ein bisschen mehr. Vorsorglich tupfe ich ein bisschen mehr Farbe als nötig auf und betrachte mich anschließend wieder im Spiegel.

Es fällt wirklich fast gar nicht auf!
Erleichtert packe ich das Makeup wieder in das Täschchen und beobachte mich ein weiteres Mal kritisch.
Doch, das muss klappen! Noch nie bin ich den Vampiren aufgefallen und ich werde es auch dieses Mal nicht tun!

Die ins Schloss fallende Haustür unterbricht meinen Gedanken abrupt. Ich gehe in mein Zimmer, schnappe mir den Zettel und betrete dann den Flur.

"Hi Mama, ich muss kurz mit dir und Papa reden.", teile ich ihr entschlossen mit.
Denn ich bin mir sicher, dass beide noch nichts von der Versammlung wissen. Schließlich habe ich die Innenstadt mit dem Marktplatz als meinen Arzt-Bezirk, meine Mama hat die umliegenden Häuser und mein Papa ist für alle Landstraßen und Außenhäuser eingeteilt.

"Geht klar, Maus. Machen wir das doch beim Abendbrot?", antwortet meine Mama sorglos. Nickend verschwinde ich ins Esszimmer und decke die Teller auf, während mein Papa das Brot schneidet.

Schon einige Minuten später sitzen wir alle gemeinsam am Tisch und essen gemeinsam.
Immer wieder versuche ich das Erlebte in meinem Kopf zu formulieren und breche schließlich nach einigen Versuchen das Schweigen.

"Am Marktplatz war heute eine neue Nachricht. Es wird eine Versammlung einberufen."

"Ist es das, was du uns sagen wolltest? Wer muss denn alles hin?", fragt meine Mama fürsorglich.

"Alle Mädchen und Frauen von 15 bis 25 Jahren", beantworte ich ihre Frage. Die zusätzliche Information verschweige ich ihnen noch, denn ich weiß nicht, wie ich es ihnen sagen soll. Sie werden sich wieder große Sorgen machen, auch wenn ich meinen Hals geschminkt habe.

"Also musst du hin. Aber das ist doch nicht schlimm, oder Mäuschen?", steigt auch mein Vater mit nachdenklicher Mine ins Gespräch mit ein.

"Nein. Okay doch, ein bisschen vielleicht. Sie suchen nach Mädchen mit einem Mal am Hals", gestehe ich kleinlaut und prompt verschluckt sich meine Mutter an ihrem Wasser. Hustend krümmt sie sich auf ihrem Stuhl.

Mein Vater klopft ihr sofort fürsorglich auf den Rücken, während er mich mit großen Augen ansieht. Oh man, ich wusste, dass das nicht gut geht.

"Ein Mal wie deines?", fragt er besorgt nach.
Im Hintergrund nehme ich wahr, wie meine Mama sich langsam wieder beruhigt, als ich mit einem Schulterzucken antworte und ihm stattdessen den Zettel gebe.

Mit zusammengepressten Lippen reicht er den Zettel an meine Mama weiter, die daraufhin erneut schluckt und meinen Hals wissend betrachtet.

"Du hast es weggeschminkt?"

"Mhhm..."

"Du weißt, dass Vampire Schminke mit ihren Augen erkennen können?"

Ach Mist, natürlich weiß ich das! Aber ich glaube kaum, dass sie so genau hinsehen werden.
"Die werden bestimmt nicht so genau gucken.", verteidige ich mich deshalb.

"Doch Maus, werden sie.", redet sie besorgt auf mich, "Vor dreißig Jahren, als ich gerade einundzwanzig Jahre alt war, da gab es genau die gleiche Nachricht wie jetzt. Alle Mädchen von 15 bis 25 sollten kommen. Also auch ich. Und die mit einem Mal am Hals wurden mitgenommen."

Mit aufgerissenen Augen starre ich meine Mama an. Das gab es schon einmal? Meine Mama hat das erlebt?

"Jedes von uns Mädchen wurde ganz genau betrachtet. Auch damals hatten einige ihre Muttermale, Brandmale und andere Male mit Makeup abgedeckt. Aber die Vampire haben sie alle bemerkt, abgeschminkt und dafür bestraft.
Ich möchte nicht, dass dir das auch passiert. Wahrscheinlich suchen sie sowieso nach einem ganz anderem Mal..."

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