.5. Mom .5.

Nach dieser Nacht im Jangseung-Park, die Jin für Namjoon nicht mehr zu einem Fremden machte, kreuzten sich ihre Wege des Öfteren. Der seltsame junge Mann schien sich häufig im Park aufzuhalten, er durchstreifte die Pfade und saß lesend auf einer der vielen Bänke, oder beobachtete seine Mitmenschen. Es war offensichtlich, dass er versuchen wollte, aus ihren Verhaltensweisen schlau zu werden und sie zu erlernen. 

Namjoon war klar, dass Jin schräg war, doch er mochte ihn auch. Denn schließlich kannte er niemanden, mit dem er sich so ohne Bedenken über seine tiefsten Gefühle ausgetauscht hätte - die Art von Gefühlen, bei denen man sich vor den Reaktionen fürchtete. Davor, verurteilt zu werden. Doch bei Jin hatte Namjoon nicht das Gefühl, dass er irgendjemanden bewertete oder mit Vorurteilen begegnete. 

Er war offen gegenüber jedem Thema, lauschte geduldig und mit dem bestimmten Gesichtsausdruck, der authentisches Interesse zeigte. Er schien tatsächlich neugierig zu sein, auch wenn er sich damit schwertat, Emotionen zu zeigen. Es war wahrlich irritierend, mit ihm zu reden und dabei durchgehend dem ein wenig starren, ausdruckslosen Blick zu begegnen. Auch zeigte Jin nicht die vielen menschlichen Gestiken, die man normalerweise automatisch ausführte. Wie das begeisterte Klatschen, ratlos mit den Schultern zucken, ein nachdrückliches Blinzeln, zustimmendes Nicken, unzufriedenes Kopfschütteln, fragend die Augenbrauen hochziehen ... Die Liste solcher Eigenheiten war ewig lang, und noch nie hatte Namjoon gesehen, wie Jin etwas davon tat.

Seit ihm das bewusst war, wurde ihm auch alles mehr und mehr bewusst, was er selbst tat. Wie oft er blinzelte, als Form der Kommunikation, sein von Jin schon häufig adressiertes Seufzen, wie er die Hände beim Sprechen nutzte. Es war faszinierend, was der menschliche Körper alles tat, um sich auszudrücken. Und das auf beinahe gänzlich unbewusster Ebene. 

Als zwei ganze Woche schließlich verstrichen waren, in der Jin und Namjoon sich des Häufigeren zum Essen in dem kleinen Restaurant oder zum Spazierengehen und Reden im Jangseung-Park getroffen hatten, da rückte der Tag näher, an dem Namjoon seine Familie in Ilsan-gu besuchen wollte. Alle paar Monate stattete er ihnen einen Besuch ab, bei dem er einige Tage mit ihnen verbrachte.

Seine Schwester Kyung-min würde sicherlich auch da sein, sie war drei Jahre jünger als Namjoon und hatte schon eine kleine vierjährige Tochter. Ae-Cha, ein absolut liebliches Kind mit den neugierigsten Fragen, die Namjoon je gestellt wurden. Jedenfalls war das so gewesen, bevor er Jin getroffen hatte.

Als er und Jin sich zum Frühstücken in dem kleinen Restaurant trafen, erzählte Namjoon seinem neu gewonnenen Freund davon, einige Tage nicht da sein zu werden.

"Weißt du", mittlerweile duzten sich die beiden, "ich werde übers Wochenende zu meiner Familie nach Ilsan-gu fahren. Vielleicht bleibe ich auch ein paar Tage länger." 
Er seufzte glücklich.
"Ich freue mich schon sehr darauf, meine Mutter zu sehen, und meinen Vater, meine Schwester und ihre Tochter." 

"Du scheinst deine Familie sehr zu mögen", stellte Jin fest, das tat er öfter; die Emotionen zu analysieren, die jemand mit Worten ausdrückte. Er lernte daraus, welche Begriffe oder Phrasen für welche Situationen und Gefühle gebraucht wurden - und versuchte, sie so sich selbst anzueignen. Leider ging so jeder Versuch von Ironie und Sarkasmus immerfort nach hinten los.

"Das stimmt", bestätigte Namjoon. "Meine Familie bedeutet mir alles. Besonders meine Mutter, mit der ich früher des Öfteren Streit hatte."
Jin fragte nach: "Ist das nicht ein Widerspruch?"
Sein Gegenüber lächelte. 
"Im Grunde schon, da hast du recht. Doch bei uns ist es besonders so schön, weil wir es geschafft haben, uns trotzdem wieder und wieder zu vertragen." 

"Warum?", fragte Jin. Nachdem er Namjoons Stirnrunzeln richtig deutete, erklärte er: "Warum habt ihr euch vertragen? Und wie? Ist das nicht sehr komplex?"

Namjoon lächelte. Er rührte in seinem Kaffee. Um das zu erklären, musste er etwas ausholen.
"Weißt du, es hat mal eine Zeit gegeben, in der meine Eltern davon überzeugt gewesen waren, dass ich einen bestimmten Weg einzuschlagen hätte. Ich war ein guter, schlauer Schüler - und so war es für meine Eltern nur logisch, etwas aus meinen guten Leistungen zu machen. Doch für mich war die Kreativität immer am wichtigsten." 
Er hielt einen Moment inne, nachdenklich starrte er auf die Schlieren des Milchschaums in seinem Getränk.

"Schon früh habe ich mit dem Schreiben angefangen, hauptsächlich Poesie, weniger Prosa. Meine Gedichte waren echt gut, und das sage ich nicht aus Selbstgefälligkeit. Ich habe Auszeichnungen für die Zeilen bekommen, die ich in meiner Schulzeit geschrieben habe!" Er schmunzelte, leichter Unglaube schwang darin. Doch auch Stolz, er war stolz auf sein kleines Vergangenheits-Ich, dass sich immer von kreativen Künsten angezogen gefühlt hatte.

"Mit elf Jahren begann ich dann in die Hip-Hop Szene reinzuschnuppern, in die Musik, die sie da machten. Es gefiel mir, ich schrieb selbst Lyrik - das war gar nicht so schwer. Ich brauchte bloß meine Gedichte mit Beats und Vocals zu kombinieren, Voilá, schon war ein Song geboren!
Doch meine Mutter hielt nichts davon. Sie hatte die Sorge, meine bisher so glänzenden Leistungen in der Schule könnten darunter leiden. Es gab viele", er seufzte schwer, "sehr viele Auseinandersetzungen."

Er hielt inne, schaute auf, in die Augen des aufmerksam lauschenden Gegenübers. Jin zeigte kein übermäßiges Mitgefühl, er schien Namjoon nicht zu bemitleiden. Er war einfach für ihn da, hörte ihm zu.

"Und dann entschied ich mich dazu, die Musik aufzugeben", sagte Namjoon leise. Er senkte den Blick auf die Tischplatte, malte gedankenverloren Kreise und Musiknoten mit dem Zeigefinger.
"Ich habe mich gänzlich auf die Schule konzentriert, wie meine Mutter es wollte. Und sie war zufrieden. Glücklich, wenn ich wieder einmal Klassenbester wurde. Nicht nur Klassenbester, manchmal sogar Stufenbester!"
Ein ersticktes Lachen entwich seiner Kehle, er hatte lange nicht mehr über diese Zeit geredet, die Zeit, die ihm gezeigt hatte, dass Erfolg kein Glück bedeutete.

"Meine Mutter war glücklich. Sehr. Doch ich war es nicht. In meinem Herzen fehlte die Musik, mein Kopf sehnte sich nach der Kreativität, nach den Wolken und den Weiten, in die ich sonst immer abgeschweift war. Meine Finger sehnten sich danach, Gedichte und Songs zu schreiben - nicht bloß Aufsätze." 
Er starrte auf seine Hände.

Dann faltete er sie auf dem Tisch zusammen und endete seine kleine Geschichte mit fester Stimme: "Und dann habe ich es für mich begriffen. Ich wollte glücklich sein - ich musste einfach das tun, was mich glücklich machte. Ich stritt mit meiner Mutter, wieder und wieder, bis ich auszog und einfach zu schreiben begann. Diese Zeit damals werde ich nie vergessen, das Musik machen tut bis heute zu sehr weh, doch im Schreiben bin ich aufgeblüht und konnte ich selbst sein. Es war ein Rausch, bei dem ich stundenlang an einem Tisch in einer spärlich eingerichteten, winzigen Wohnung hockte. Und so wurde ich Schriftsteller. Heute hat meine Mutter es verstanden, sie hat es wirklich begriffen und ihre Ängste hinter sich lassen können." 

Er lächelte wehmütig. "Sie wollte doch auch bloß immer das Beste für mich."

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- 1000 Wörter

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