40. Ein Rennen gegen die Zeit
Kelly PoV:
Es war kein Geheimnis, dass ich Harry Potters Kopf am liebsten gegen die nächste Wand geschlagen hätte, doch dummerweise hatten wir dafür keine Zeit, obwohl er es besonders in diesem Moment mehr als nur verdient hatte.
Seine Heldentaten hatten meine ganze Schulzeit geprägt. Verdammt nochmal, ich kann mich nicht daran erinnern, einmal wirklich meine Abschlussprüfungen geschrieben zu haben. Die wurden schließlich gefühlt jedes Mal abgesagt, weil er immer irgendeine Heldentat vollbringen musste, bei der die halbe Schule in die Luft geflogen war.
Doch gerade jetzt hätte ich ihn am liebsten eigenhändig erwürgt. Fred Weasley zu retten war eine noble Tat gewesen, doch genau das, diese ritterliche Seite, die der Auserwählte an den Tag legte, würde uns alle früher oder später noch umbringen.
Wohl eher früher als später.
Wir rannten schleunigst in das Mädchenklo im zweiten Stock und kamen endlich zu einer Verschnaufpause, nachdem Gerald die Tür wieder ins Schloss geschlagen hatte.
Harry sank auf dem nassen Boden nieder, vergrub das Gesicht in den Händen und flüsterte: "Was hab ich nur getan... was hab ich nur getan?"
Genau. Was hatte er getan. Wenn ich durch all die Bücher über Zeitreisen eines gelernt hatte, dann dass man nichts verändern durfte, sonst könnte die ganze Zeitachse implodieren. Vielleicht war das etwas dramatisch, aber das Schicksal und der Tod fanden immer einen Weg, sich ihre Opfer zu Eigen zu machen. Immer.
Der Auserwählte wippte vor und zurück, den Blick starr auf die Waschbecken in der Mitte gerichtet. Ich hatte von den Gerüchten gehört, dass Harry Potter und Ron Weasley in ihrem zweiten Schuljahr durch dieses Bad in die Kammer des Schreckens gelangt waren, doch eigentlich hatte ich dem Ganzen wenig Glauben geschenkt.
"Das hätte nicht passieren dürfen", spricht die Blondine, Annabeth, meine Gedanken aus.
"W-was hab ich nur getan?", flüsterte Harry wie ein Mantra vor sich her.
Hazel und Will sahen Gerald und mich erwartungsvoll an, als könnten wir durch ein Wunder dafür sorgen, dass es Harry besser ging.
Schließlich erbarmte sich Will. "Ich bin Arzt, ich kriege das schon hin."
Er war Feldarzt, soviel hatte ich mitbekommen, doch den Psychologen schien er auch ganz gut drauf zu haben.
"Harry? Geht es dir gut? Du hast jemandem das Leben gerettet."
"Schwachsinn!", platzte es aus Gerald heraus.
"Halt du die Klappe!", riefen Hazel und Will gleichzeitig, wobei die Vierzehnjährige nicht glücklich über ihre Worte war.
"Fred Weasley müsste tot sein. Jetzt ist er es nicht mehr - was bedeutet das? Verlieren wir vielleicht den Krieg? Alles ist möglich, weil St. Potter mal wieder den Helden spielen musste!"
"Der Tod sorgt schon für einen Ausgleich", murmelte ich. Unbeabsichtigt zog ich alle Aufmerksamkeit auf mich. Jedes Augenpaar war auf mich fixiert. "Was?", fragte ich genervt.
"Soll das bedeuten, weil Fred jetzt lebt, wird jemand anderes an seiner Stelle sterben?!" Harry wurde panisch. Na toll.
"Wer?", fragte Hazel.
Ich zuckte mit den Schultern. "Es gibt immer einen Ausgleich. Aber der Tod entscheidet willkürlich. Es ist ihm egal, solange er eine Seele bekommt."
Stille. Was sollte man mit so einer Information auch anfangen. Es war ziemlich deprimierend.
"Weil Fred lebt, schweben alle anderen jetzt in Lebensgefahr?", durchbrach Annabeth meine Gedanken. Ich nickte bloß. Es könnte genauso gut einen von uns treffen.
"Dann müssen wir Fred eben töten." Schockiert sahen wir Gerald an. Der Typ hatte sie doch nicht mehr alle. "Was?!", fragten wir alle schockiert. Es war eine Sache, jemanden nicht zu retten, aber eine ganz andere, ihn zu töten. Oder?
"Wenn du ihn anrührst!" Harry war aufgesprungen, um Gerald an die Gurgel zu gehen, doch Will hielt ihn ab.
"Er ist es nicht wert."
Harrys Augen waren blutunterlaufen. Seine Atmung ging flach. Er war völlig am durchdrehen. Sieben Jahre lang den Helden zu spielen, hatte ihm nicht im geringsten gut getan. Er war kaputt, ein Wrack. Eins von den Spielzeugen, die nicht mehr funktionierten. Warf man es weg oder behielt man es aus sentimentalen Gründen?
Viele Menschen würden ihn nun einfach wegwerfen. Er hatte keinen Nutzen mehr für sie. Voldemort war tot, niemand brauchte noch den Jungen der lebt. Er hatte seine Aufgabe erfüllt...
Annabeth schaltete wieder die Stimme der Vernunft ein: "Niemand tötet hier irgendwen! Wir haben nur noch weniger als eine Stunde und müssen unsere Aufgabe erfüllen. Also, was machen wir in einem Mädchenklo?"
**
"Es ist ziemlich schmutzig hier unten", murmelte ich und versuchte zum wiederholten Male die vielen Staubschichten, die sich in meine Schuluniform fraßen, abzuklopfen. Leider ohne Erfolg.
"Wir sind in einer Kammer, in der bis vor kurzem nur eine zwanzig Meter lange Schlange gelebt hat. Wie seltsam, dass Filch noch nicht Staub gewischt hat", knurrte Gerald. Seit unserem Ausflug in die Vergangenheit schien er seinen anfänglichen Groll, den er schon seit dem Beginn meiner Freundschaft mit Jamie hegte, wieder aufzubauen.
Ich hatte durch unsere Zusammenarbeit gegen die Austauschschüler erwartet, dass sich dieser Zorn legen würde und kurzzeitig sah es sogar danach aus, doch nun... alles schien wieder hochzukommen. All die Wut, die Frustration, die ganzen unterdrückten Gefühle, die in ihm brodelten. Jeden Tag.
Nun musste er sich bei jedem Schritt einen abfälligen Blick von Will und ein demonstratives Schnauben von Hazel gefallen lassen. Annabeth sagte nichts, sie trottete neben Harry her, der zielstrebig in eine Richtung lief und versuchte uns andere zu ignorieren.
Wir gingen weiter, doch das nächste, was ich sah, ließ mich aufschreien. Eine Schlange von der größe zweier Zugwagons schlängelte sich am Boden entlang... nein, sie lag still.
"Oh Götter", entfuhr es Hazel und sie schlug sich die Hand vor den Mund.
Es war keine Schlange, sondern nur ihre Haut, eine schuppige, milchig-weiße Haut, bei deren Anblick es mir eiskalt den Rücken hinunter lief.
"Harry, was genau machen wir hier?", fragte Will, sein Blick ruhte noch auf den Überresten der Schlangenhaut. So genau konnte ich ihn nicht deuten. Es schien eine Mischung aus Faszination, Ekel und Angst zu sein, doch auch seine Worte verrieten nicht, was er hiervon hielt.
"Vor einer Stunden, wenn es überhaupt so lange her ist, haben Hermine und Ron hier unten einen Kelch zerstört. Das bedeutet, ein Teil von Voldemorts Seele ist hier unten gestorben, diese Macht hat man vielleicht ausgenutzt und... naja - wer würde hier unten schon nach jemandem suchen, der die Magie abzweigt."
"Klingt logisch... denke ich", murmelte Will und zusammen stapften wir weiter durch die Dunkelheit, einzig und allein unsere Zauberstäbe spendeten Licht.
Bei der Erwähnung von dem dessen Name nicht genannt werden darf, zuckte ich merklich zusammen. Ich würde ihn nie beim Namen nennen, das käme gar nicht in Frage. Aber Harrys These klang logisch. Irgendwie. Beweise hatten wir zwar keine, doch Umdrehen war nun auch keine Option mehr, die Zeit wurde zu knapp.
Wir gingen immer tiefer in die Kammer... und tiefer und tiefer... bis: "Da vorne!"
Gerald deutete auf etwas am Boden liegendes und rannte los.
Hazel schrie auf.
"Jetzt haben wir auch die Schlange zu der Haut gefunden", sagte Annabeth, "naja... das was von ihr übrig ist."
Ich hatte vieles von der Kammer des Schreckens gelesen, viele Gerüchte waren nach Harrys Heldentat verbreitet worden, doch so gewaltig hätte ich sie mir nie vorgestellt.
Es war wirklich beeindruckend, jedoch ziemlich düster und...
"Verlassen", sagte Gerald, ein selbstgefälliges Grinsen umspielte seine Lippen.
Stimmt. Wo er es doch sagte... hier war niemand. Abgesehen von uns gab es hier keine Menschenseele.
"Ich verstehe das nicht", sagte Harry. So einfallsreich.
"Du sagtest doch, es wäre hier. Das Monster-"
"Ich weiß, was ich gesagt habe, Parker!"
Harry wurde mit jedem Schritt tiefer in die Kammer nervöser. Sein eines Augenlid begann hinter den runden Gläsern seiner Brille zu zucken, während er mit seinem Zauberstab, dessen Spitze nach wie vor erleuchtet war, in der Luft herumfuchtelte.
Hatte er sich geirrt? Was hatte das zu bedeuten? Unsere Zeit in der Vergangenheit müsste beinahe vorüber sein, nun einen anderen Weg einzuschlagen, hätte keinen Zweck mehr.
"Und jetzt?", fragte Annabeth. Sie stützte ihre Hand in die Hüfte. Ganz untypisch für sie. "Was ist der nächste Schritt?"
"Psscht!", war das einzige, dass Harry von sich gab. Er vergrub das Gesicht in den Händen und versuchte angestrengt nachzudenken, das tat beinahe schon weh - allein beim Zusehen.
Vielleicht lag es ja an mir. Ich war eine Ravenclaw, die Intelligente hier - nun, abgesehen von Annabeth, die auch ziemlich was auf dem Kasten hatte. Wir mussten jetzt logisch denken und vielleicht könnte ich mir nun endlich beweisen, wieso ich nach Ravenclaw gekommen war.
Ich schloss wie Harry die Augen und versuchte meine Gedanken zu ordnen, es musste doch eine andere Möglichkeit geben, es sei denn...
"Leute, ich glaube, ich weiß-"
In dem Moment brach die Hölle los. Ein riesiger Groll ertönte, wie der Schrei eines Monsters, so dass die steinernen Wände um uns herum erzitterten.
"Ducken!", rief Harry und zog Gerald und Hazel zu Boden, als sich die ersten Brocken aus der Wand lösten und zu uns herunter polterten.
Annabeth schnappte sich Will und zog auch ihn auf den Boden. Angestrengt versuchten alle ihre Köpfe zu schützen, doch ich stand noch da und dachte nach.
Das war alles nicht möglich. Wieso sollte jetzt die Kammer des Schreckens einstürzen? Nachdem die Schule von Grund auf restauriert wurde, war die Kammer freigelegt worden, sie war nicht eingestürzt.
Sie dürfte es demnach jetzt genausowenig...
"Kelly!"
"Duckt euch!"
"Runter!"
Immer mehr Felsstücke lösten sich und schlugen neben uns auf den Boden und zertrümmerten die schöne Architektur.
Gerald packte meinen Arm, um mich zu ihnen nach unten zu ziehen, doch ich riss mich los. Im Liegen konnte man nicht denken, und ich musste denken.
Das war doch das, was Ravenclaws taten. Sie dachten nach, waren logisch, berechnend, von hohem Verstand. Mein Leben lang dachte ich bloß in das falsche Haus gesteckt worden zu sein, doch vielleicht... konnte ich es jetzt allen beweisen.
"Achtung!", schrie Harry, doch es war zu spät.
Ein Stein, vielleicht so groß wie ein Quaffle schlug mir gegen den Hinterkopf und ich ging zu Boden.
Hazel schrie und meine Sicht wurde ganz verschwommen.
Sie mussten hier raus, so schnell wie möglich. Sonst würden sie unter Schutt und Asche begraben werden. Was immer hier auch vor sich ging, es war nicht natürlich. Oder vielleicht auch genau das.
"Kelly!" Gerald kniete über mir und drückte meine Hand. Oh wie ich ihn doch hasste, für all das was er Jamie und sich selbst doch angetan hatte und das nur, weil er einfach nicht zugeben wollte, was er schon sein Leben lang war.
"E-ein Ausgleich", krächzte ich. Es war das natürlichste der Welt.
"Es mu-muss immer e-einen Ausg- glei- Ausgleich geben."
Das natürlichste der Welt, eine Seele für eine Seele, der Tod, er verlangt immer einen Ausgleich.
"Will, du musst ihr helfen!", rief Hazel verzweifelt. Ich mochte sie, ihre liebevolle Art. So wollte ich immer sein, so... nett und gut, doch wir alle wussten, dass sie hier weg mussten und ich nicht mehr zu retten war. Um uns herum zerfiel die Kammer des Schreckens in ihre Grundbausteine.
"Annabeth", hustete ich und zog die Blondine zu mir hinunter, um ihr mit letzter Kraft zu sagen, was mir nun endlich klar geworden war.
Ich wollte immer so sein, wie sie. Hübsch, intelligent, mutig, erfolgreich und loyal.
Doch letztlich war ich genau die, die ich immer war - eine Ravenclaw.
Denn ich hatte das Rätsel gelöst. Doch leider war es zu spät und ich verlor das Bewusstsein.
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