✓|11. Innere Dämonen
⊱↯•Hermine•↯⊰
Schon zwei Wochen nach Schulbeginn überhäuften die Lehrer uns mit Bergen von Hausaufgaben. Selbst ich hatte manchmal das Gefühl, unter der Last des letzten Schuljahres zusammenzubrechen. Unsere UTZ-Prüfungen standen dieses Jahr an, doch auch wenn ich schon in unserem sechsten Jahr begonnen hatte zu wiederholen, schien der Abschluss ein weit entfernter Wunschtraum zu sein.
Hand in Hand liefen Ron und ich zusammen mit Harry durch die Korridore, auf dem Weg zu unserem Klassenzimmer für Zauberkunst bei Professor Flitwick. Immer wieder warf ich Harry besorgte Blicke zu, die er Merlin sei Dank nicht zu bemerken schien. Er fühlte sich sowieso schon von allen bedrängt.
Seit der Schlacht um Hogwarts hatte es wenige Tage gegeben, an denen er absolute Ruhe genießen konnte, doch als wir in Hogwarts ankamen, hatte er zum ersten Mal wirklich entspannt gewirkt... für einen Moment.
Die dunklen Augenringe, die Gedächtnislücken und sein träges Verhalten waren klare Anzeichen dafür, dass er schon einige Nächte lang keinen Schlaf gefunden hatte.
Wie lang konnte ein Mensch ohne zu ruhen, bei klarem Verstand bleiben?
Als wir gestern Abend bei prasselndem Kaminfeuer über einen weiteren Stapel Hausaufgaben gebeugt im Gemeinschaftsraum saßen, geschah es. Harry hatte schon eine ganze Weile reglos da gesessen, den Kopf in eine Handfläche gestützt, als er plötzlich mit einem dumpfen Schlag zu Boden sackte.
"Harry!", rief Ron erschrocken.
Ich schrie auf und stürzte um den Tisch herum auf ihn zu. Einige Gryffindors sprangen ebenfalls von ihren Sitzen auf, wollten helfen oder ihn bloß begaffen.
"Haut ab!", keifte Ron sie an, während er versuchte Harry mit seinem eigenen Körper von ihnen abzuschirmen.
Mein bester Freund begann sich hin und her zu winden. Seine Augen standen weit offen, doch er schien nichts um ihn herum wahrzunehmen. Er verkrampfte sich.
"Hat er einen Anfall?", fragte ich verstört und versuchte ihn zu stabilisieren.
Völlig überfordert blickte ich in die Menschentraube, in der Hoffnung ein Gesicht zu erkennen, dass mir helfen könnte. Ron war leichenblass.
"Ich habe keine Ahnung", murmelte er zitternd. "Harry, wach auf!"
Überrascht wich ich zurück, als Harry tatsächlich nach oben schnellte. Sein wilder Blick huschte von einem zum anderen. Er machte mir beinahe Angst...
"W-wo... Dumbledore, ich hätte ihn retten können. Das... das... ich hätte es getrunken, er wäre... vielleicht nur ein bisschen länger... Snape... Nagini..."
"Harry, beruhige dich. Du bist im Gemeinschaftsraum", sagte ich ruhig und versuchte ihn an der Schulter zu berühren, doch er schlug meine Hand beiseite.
"Sirius, wo ist er? Ich muss ihn retten. Voldemort... Voldemort hat ihn... er hat Sirius."
"Harry, nein", versuchte es nun Ron. "Du-weißt-schon-wer ist tot, du hast ihn besiegt und Sirius ist-"
"Nein, sag es nicht!", schrie Harry. "Sirius, Voldemort hat Sirius!"
Stumme Tränen rannen mir die Wangen hinunter.
Das Portrait der fetten Dame schwang auf und Ginny trat ein. Über die Menschenansammlung verwirrt, kämpfte sie sich nach vorne und erstarrte, als sie uns im Zentrum sitzend erblickte. "Bei Merlin, was soll das? Ist das hier eine Zirkusshow?!"
Harry sah auf. "Ginny, er hat Sirius! Voldemort foltert ihn, er bringt ihn um! Wir müssen zu ihm! Wir müssen ihn retten! Bitte! Jemand muss mir zuhören!" Er schüttelte uns gänzlich ab und erhob sich, eilte auf Ginny zu, die behutsam einen Arm um ihn legte.
"Ginny, hörst du nicht? Wir müssen Sirius retten! Die Dementoren werden ihn küssen, wir müssen... er muss... ich..."
"Shhh", machte sie und drückte sein Gesicht an ihre Halsbeuge. "Alles ist gut, Sirius geht es gut. Er ist bei seinen besten Freunden... alles ist gut."
Harry begann zu schluchzen. "Ich habe ihn nicht gerettet... ich hätte... wenn ich nur besser...-"
"Du warst wundervoll. Du hast uns alle gerettet. Sirius ist bei deinem Dad, er ist wieder bei seinem besten Freund. Er ist glücklich."
"Glücklich", wiederholte Harry matt.
Sie nickte lächelnd und küsste ihn auf die Wange. "Ron, bringt dich jetzt ins Bett. Harry, du musst schlafen."
"Ich will nicht schlafen... wenn ich schlafe, sehe ich sie... sie alle... ich habe sie sterben lassen... es ist meine Schuld..."
"Nein, ist es nicht", sagte sie ruhig. "Versuch an... Mum zu denken, wie sie die ganzen Pullis strickt für unsere kleine Quidditchmannschaft."
"Unsere Quidditchmannschaft..."
Sie und Ron brachten Harry zu Bett, während ich all unsere Sachen zusammenpackte und ihnen hinterhertragen wollte, als Ginny fuchsteufelswild die Stufen wieder hinungergesaust kam.
Die Umstehenden hatten sich alle zu kleinen Grüppchen umgedreht und flüsterten angeregt über das eben gesehene, während das Feuer im Kamin fröhlich knisterte. Man hätte es für einen heiteren Abend halten können, wenn die düstere Stimmung nicht über uns hängen würde wie eine dunkle Gewitterwolke.
"Hattet ihr Spaß?!", fauchte Ginny die Gryffindors an, die ängstlich zurücktaumelten. "Ihr seid widerlich! Haut alle ab! Schaulustige, sensationshungrige dumme Gaffer!"
Ginny war daraufhin auch verschwunden und ich ging schließlich zu Bett. Seither ließen Ron und ich Harry nicht mehr aus den Augen. Der Vorfall hatte sich natürlich herumgesprochen und wieder lagen alle Blicke auf ihm.
Es war doch einfach nicht fair.
Ich hatte geglaubt, zu wissen, welche Dämonen meinen besten Freund plagten, doch mit so etwas wie gestern hätte ich nie und nimmer gerechnet.
•|⊱↯⊰ |•
Als wir im Klassenzimmer für Zauberkunst eintrafen, waren beinahe schon alle Tische und Bänke belegt. Bloß Percy und Jason fehlten noch. Annabeth stand allerdings schon vorne am Pult von Professor Flitwick, der es sich auf einem großen Bücherstapel vor der Tafel bequem gemacht hatte und aufgeregt mit ihr über seine Zeit als Duelliermeister sprach.
Ich wusste nicht so recht, was ich von den Austauschschülern halten sollte. Percy und Jason waren wirklich nett, Nico, Will und Piper kannte ich kaum und Annabeth... sie war wirklich gut... in beinahe allem.
Besonders nach unserer ersten Stunde Verteidigung gegen die Dunklen Künste, in der die Amerikaner besonders gut gewesen waren, hatte ich gehofft, in den anderen Fächern zu glänzen. Doch während ich zwar weiterhin sehr gute Noten erhielt, war ich nicht mehr die beste unseres Jahrgangs.
Es war ein furchtbares Gefühl, dass in meiner Magengegend brodelte, beinahe so schlimm wie damals, als Harry das Buch des Halbblutprinzen missbrauchte, um zu schummeln. Andernfalls wäre er niemals zu Slughorns Liebling geworden und das wusste er genauso gut wie ich.
Ron war meinem Blick gefolgt und murmelte mir zu: "Sie ist fast so intelligent wie du, aber eben nur fast." Ein breites Lächeln zog sich über mein ganzes Gesicht und ich küsste ihn zärtlich. "Danke", hauchte ich und ließ mich auf unsere üblichen Plätze fallen, Harry und Ron zu meinen beiden Seiten.
Es klingelte zur nächsten Stunde und Annabeth huschte durch die Reihen zu Kelly Margold, einer Ravenclaw in unserem Jahrgang und setzte sich zu ihr. Von Percy und Jason war nach wie vor keine Spur, doch Flitwick schien von seinen Plänen für die heutige Stunde so abgelenkt zu sein, dass er ihr Fehlen gar nicht bemerkte.
"So", quiekte er, "Dann starten wir heute wieder mit einer Quizfragerunde der letzten sechs Schuljahre ihrer Laufbahn. Frage Eins:..."
Er schoss mit den Fragen nur so um sich und meine Hand flog jedes Mal in die Höhe, doch Annabeth tat es mir gleich. Es schien beinahe zu einem Wettstreit auszuarten, als Professor Flitwick die letzte Frage stellen wollte, die entschieden hätte, wer von uns nun tatsächlich schneller war, doch in eben jenem Moment schwang die Tür auf und herein stolperten Percy und Jason.
"Bei den Göttern, wir sind übelst zu spät", keuchte Percy nach Luft ringend und warf Flitwick einen entschuldigenden Blick zu.
"Verzeihen Sie die Verspätung, Sir", sagte Jason. "Wir wurden aufgehalten... von den Korridoren, wir haben uns verlaufen, es tut uns leid, kommt nicht wieder vor."
"Außerdem", warf Percy noch dazwischen, bevor Professor Flitwick überhaupt die Chance hatte zu antworten. "Wird einem auf diesen drehenden Treppen wirklich speiübel."
Wenig erfreut über den Zwischenfall, wies der Professor die beiden an, sich zu setzen und fuhr mit der Stunde fort, ohne die Fragerunde zu beenden.
•|⊱↯⊰ |•
"Schlagen Sie ihre Bücher auf. Seite 113. Bitte, üben Sie die Handbewegungen sorgfältig und prägen sich die Sicherheitshinweise ein. Ich will keine Verletzten dieses Jahr!"
Gespannt blätterte ich durch Lehrbuch der Zaubersprüche Band Sieben. Meine Augen weiteten sich, als ich sah, was uns nun erwartete.
"Desillusionierungszauber!" Freudig blickte ich zu Ron und Harry, die weniger begeistert dreinblickten.
"Hermine", flüsterte Ron und deutete auf Harry. "Wir haben Zugriff auf einen Tarnumhang, der Zauber ist da eher weniger spektakulär."
Verärgert über sie beide beugte ich mich über das Lehrbuch und versuchte mir alles in Erinnerung zu rufen, was ich je über solche Zauber gelesen hatte.
Es war eine überaus schwierige Kunst, also versuchte ich jegliche Geräusche um mich herum so gut auszublenden, wie es mir nur möglich war, doch das stetige Getuschel zwei Reihen hinter mir, zog meine Aufmerksamkeit auf sich.
"Wo ist Frank, wenn man ihn mal braucht", murmelte Percy genervt. Er hatte die Augen zusammengekniffen und starrte etwas verloren auf die völlig falsche Seite seines Zauberkunstbuchs.
"So eine Laktoseintoleranz wäre mir jetzt auch lieber", entgegnete Jason flüsternd. Die beiden sahen ratlos auf, bevor Percy Annabeth mit einigen kleinen Pergamentkügelchen bewarf.
Die Blondine hob den Kopf. 'Was' formte sie mit den Lippen.
Ich versuchte unbeteiligt auszusehen, doch scheinbar gelang es mir nicht wirklich, denn Ron stieß mich von der Seite an und zog eine Augenbraue empor. Die Sommersprossen auf seiner Nase tanzten lustig, als er die Nase rümpfte.
Statt zu antworten, zuckte ich bloß ratlos mit den Schultern und versuchte still weiterzuarbeiten.
"Bei Hades, was steht denn da?", fluchte Percy leise - doch nicht leise genug - vor sich hin.
Ich konnte nicht länger umhin und drehte mich zu ihnen um.
"Könnt ihr nicht lesen?"
Jasons Blick schnellte zu mir, doch er war offenkundig zu erstarrt, um mir eine Antwort zu liefern.
"Wir haben Legasthenie", sagte Percy schnell.
"Ihr alle?" Skeptisch verschränkte ich die Arme vor der Brust.
Er nickte.
"Naja... bis auf unseren Freund Frank. Annabeth hat es auch, aber sie kann damit viel besser umgehen, als wir anderen."
"Frank kann dafür keinen Yoghurt essen", warf Jason ein.
"Oder Käse."
Mir musste die Verwirrung ins Gesicht geschrieben stehen, denn sie brachen ab und lächelten unsicher.
"Sag mal, gibt es eigentlich einen Zauberspruch, mit dem man die Schriftsprache ändern kann?"
Ich runzelte die Stirn. So einen Zauberspruch gab es sicher und ich wusste auch zu hundert Prozent, dass ich darüber mal etwas gelesen hatte. Konzentriert biss ich mir auf die Lippe. Scheinbar kannte Annabeth diesen Spruch nicht, sonst hätte Percy garantiert nicht mich um Hilfe gebeten.
Ich überlegte fieberhaft. Es musste doch... aber natürlich!
"Lingua mutari!"
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Schlussendlich schaffte es zum Ende der Stunde hin keiner, den Desillusionierungszauber vollständig anzuwenden, auch wenn ich es wohl geschafft hätte, wäre ich nicht zu sehr in Gedanken versunken gewesen.
Ständig ertappte ich mich dabei, wie ich unauffällig über meine Schulter spähte, um Jason, Percy und Annabeth zu beobachten.
Offenbar war ich nicht unauffällig genug gewesen, denn kurz vor Schulschluss tauchte Professor Flitwick an unserem Tisch auf, um sich unseren - hauptsächlich meinen - Fortschritt anzusehen.
"Das war demütigend", stöhnte ich, während Ron, Harry und ich durch die Korridore Richtung Mittagessen eilten.
"Annabeth hätte es fast geschafft und ich... war abgelenkt."
"Ach, vergiss es, Hermine", sagte Ron und legte mir einen Arm um die Schultern. "Du bist die beste. Wenn du dich angestrengt hättest..."
"Aber sie ist scheinbar Legasthenikerin!" Das machte alles noch viel schlimmer. "Sie muss sich vermutlich doppelt, wenn nicht dreimal soviel anstrengen wie ich und dennoch ist sie so gut. Irgendwas stimmt da nicht."
Den letzten Satz flüsterte ich bloß, doch meine Freunde hörten es trotzdem.
"Hermine", Harry klang genervt, "du klingst wie in unserem sechsten Jahr in Zaubertränke."
"Und damals hatte ich Recht." Schnippisch legte ich einen Gang zu.
"Du bist bloß sauer, weil Annabeth dir dieses Jahr den Titel 'Beste des Jahrgangs' streitig machen könnte."
Ich schnaubte. "Ich glaube, da stimmt etwas nicht. Ich habe seltenst von Legasthenikern gelesen, die gut in der Schule waren."
"Diskriminierung!", rief Ginny grinsend, die sich, unsere Stimmen hörend, zurückfallen ließ, um neben uns im Gleichschritt weiterzugehen.
"Von dem, was ich von Nico und Will gehört habe, ist Annabeth überall ein Überflieger. Sie ist scheinbar sehr klug, konkurrenzliebend, ehrgeizig und gewinnt immer."
Meine Brust zog sich zusammen.
"Das werden wir ja noch sehen."
"Hermine!" Ron rief mir noch hinterher, doch da war ich schon links abgebogen auf direktem Weg in die Bibliothek.
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