✓|02. Kriegsverletzungen
⊱↯•Harry•↯⊰
"Es gibt Frühstück, Jungs!", rief Hermine mit glockenheller Stimme, als sie die Tür aufriss und in Rons Zimmer stürzte. Für einen Augenblick fühlte ich mich zurückversetzt in die Zeit, als ich noch im Schrank unter der Treppe gelebt hatte und Tante Petunia jeden Morgen einen ähnlichen Aufriss veranstaltete. Im Gegensatz zu Petunia klang sie jedoch nicht im geringsten wie eine wildgewordene Furie, die mir am liebsten die Augen ausgekratzt hätte...
Ruckartig zog Hermine die roten Vorhänge beiseite und öffnete eines der beiden Fenster, um etwas frische Luft in das stickige Zimmer zu lassen.
Die Sonnenstrahlen kitzelten mich an der Nasenspitze und vertrieben den letzten Rest von Müdigkeit.
Ron war bei dem Wort 'Frühstück' sofort aufgesprungen, sprang in eine saubere Hose, sammelte ein abgetragenes Tshirt vom Boden und eilte hinter Hermine die Treppen hinunter, während er sich besagtes Shirt über den Kopf stülpte.
"Ronald, drängel nicht so und zieh dich vernünftig an!", hörte ich meine beste Freundin schimpfen und raffte mich auch auf. Ich fischte aus meinem Koffer ein graues Paar alter Socken und stand auf, warf einen kurzen Blick in den Spiegel und stellte fest, dass ich nicht hätte schlimmer aussehen können.
Auch wenn ich wusste, dass es zu nichts nütze war, fuhr ich mir mit den Fingern durch die verstrubbelten Haare und versuchte etwas Ordnung in das Chaos, das sich auf meinem Kopf türmte, zu bringen. Vergeblich.
Für den Moment war es mir aber egal, ich setzte meine Brille kurz ab und schob sie wieder zurück auf meinen Nasenrücken, ehe ich mich auch nach unten aufmachte.
Mrs. Weasleys Waffeln mit Ahornsirup verströmten einen berauschenden Duft, der mir sofort das Wasser im Mund zusammenlaufen ließ. Mein Magen gab ein zustimmendes Knurren von sich, als ich die letzten Treppenstufen mehr schlecht als recht hinunterstolperte und mich in der kleinen Küche der Weasleys wiederfand, wo alle fröhlich beisammen saßen... fast.
Hermine und ich waren nach der Schlacht bei Rons Familie untergekommen. Mrs. Weasley hatte uns versichert, wir dürften solange bleiben, wie wir wollten, doch mit jedem weiteren Tag fühlte ich mich mehr fehl am Platz.
Hermine ging es nicht anders. Sie mochte Rons Freundin sein, doch die Weasleys hatten schon viel zu viel für uns getan, dass es einfach nicht möglich war, noch einen weiteren Gefallen anzunehmen.
Und während meine besten Freunde endlich angefangen hatten miteinander auszugehen, fühlte ich mich so allein wie schon lange nicht mehr.
Ginny war verschwunden, in der Nacht nach Freds Beerdigung hatte sie ihre Sachen gepackt, war einfach abgehauen. Ein kleiner Zettel, ihr letztes Lebenszeichen, mit einem Es tut mir leid war alles, was mir geblieben war.
Ich hielt es im Fuchsbau kaum aus, verbrachte jede freie Minute in Godrics Hollow, der Ruine, die einst mein Elternhaus gewesen war und nun meine zukünftige Heimat werden sollte. Ich wollte mir ein Leben aufbauen, Auror werden - für die Gerechtigkeit in der Welt kämpfen und ein für allemal zur Ruhe kommen.
Voldemort war besiegt - der Frieden stand vor der Tür...
"Guten Morgen, Harry!", rief Mrs. Weasley übereifrig, als sie in den Händen zwei Töpfe haltend, aus dem Nebenzimmer hineinhuschte und scheuchte mich mit einem Topflappen auf meinen Platz zwischen George und Ron.
Ich schaufelte mir zwei kleine Waffeln auf meinen übergroßen Teller und übergoss sie ordentlich mit Sirup. Im Vergleich zu dem weißen Porzellan sahen die Waffeln gar mickrig und armselig aus, doch mehr brauchte ich nicht. Umso angestrengter versuchte ich, Mrs. Weasley davon zu überzeugen, mir nicht noch fünf weitere aufzuhäufen, doch jeder Kampf wäre zwecklos gewesen.
"Du musst was essen, damit du was wirst.", sagte sie bestimmt und George brach in ein leises Grunzen aus, es war das erste Mal, dass ich ihn lachen hörte, seit der Schlacht...
Mrs. Weasley hob überrascht den Kopf, ihre Augen glitzerten voller Tränen, ein breites Lächeln stand in ihrem Gesicht geschrieben. Mr. Weasley hatte die Zeitung, hinter der er sich bis eben versteckt gehalten hatte, gesenkt und blickte seinem Sohn erstaunt entgegen.
"Mum, es ist ja nicht so, als wäre Harry der mittlerweile wohl berühmteste Zauberer unserer Zeit", sagte George, die Augen noch immer nicht von seinem Frühstück erhoben.
Mit einem Mal hielt er inne, das fröhliche Grinsen auf seinen Lippen ebbte ab. Angespannt hielt er den Kopf unten, schloss die Augen.
Würde er sich jemals dafür vergeben, glücklich zu sein? Würde er jemals laut Lachen können, ohne daran zu denken, dass Fred nicht mehr mit ihm lachte?
Mrs. Weasley schniefte und wischte sich barsch mit der Hand über die Wangen, wobei sie sich Ahornsirup ans Kinn schmierte - doch das war ihr egal.
Denn George erhob sich, wich ihren Blicken aus und hechtete zurück nach oben in sein Zimmer.
Das Knallen der Tür besiegelte das Frühstück. Keiner konnte mehr etwas hinunterwürgen, so lecker es auch war.
Mrs. Weasley brach in Tränen aus, tiefe Schluchzer ließen ihren Körper erzittern. Erschöpft brach sie auf einem leeren Stuhl zusammen und vergrub das Gesicht in den Händen. Mr. Weasley streichelte ihr behutsam über den Rücken.
"Es wird besser, Mum", nuschelte Percy, der sich bisher recht bedeckt gehalten hatte und stumm die Blubberblasen in seinem Wasserglas beobachtete, als wären sie ganz großes Kino.
Zusammen mit George machte er sich wohl die meisten Vorwürfe - seit der Schlacht war Percy nicht einmal arbeiten gewesen, hatte sich wie seine Geschwister zurückgezogen und den Tod ihres geliebten Bruders verarbeitet.
Doch ich kannte Verlust und Trauer gut genug um zu wissen, dass die Schuldgefühle, überlebt zu haben, während andere gestorben sind - ihr Leben für einen gelassen hatten - niemals verschwinden würden... man lernte bloß mit dem konstanten Schmerz zu leben.
"Kinners, geht ma' nach oben", murmelte Mr. Weasley bedächtig, die Arme noch immer beide um seine Frau gelegt.
Wir verschwanden aus der Küche, doch statt wie Percy nach oben zu gehen, gingen wir hinaus in den Garten und setzten uns ins feuchte Gras.
Die Hühner eilten über den staubigen Boden pickten nach den Körnern im Dreck, Gnome tümmelten sich in den großen Büschen um den Hof des Fuchsbaus herum.
Vögel zwitscherten, der Geruch nach Sommer - frischen Blumen und Wärme - drang in jede ihrer Poren.
Ohne ein Wort zu verlieren, starrten wir in die Ferne. Hermine lehnte sich gegen Rons Schulter, versuchte ihre Tränen zu verbergen und fuhr mit ihren Fingern am Boden entlang.
Wir blickten in den hellblauen Himmel, klar und wolkenlos.
"Asche zu Asche", flüsterte Hermine.
"Staub zu Staub", sagte ich und legte einen Arm um ihre Schultern.
Ich schloss die Augen und dachte an die, die wir verloren hatten... jeden einzelnen.
Fred, Remus, Tonks, Collin... und all die anderen unschuldigen Seelen, die in dieser Schlacht ihr Leben gelassen hatten.
Weil ich nicht gut genug gewesen war...
Die Beerdigungen, die hinter uns lagen, waren allesamt eine reinste Qual gewesen. Freds Beerdigung allen voran.
George war nicht einmal aufgetaucht - er hatte es nicht ausgehalten, sein Ebenbild zu Grabe zu tragen. Wir alle hatten Verständnis, und doch brachten wir es kaum über uns, den wichtigsten Menschen in seinem Leben ohne ihn zu verabschieden.
Ich hielt Teddy auf dem Arm, während Kingsley Shacklebot die Grabrede vortrug. Der kleine Junge mit den blauen Haaren griff immer wieder nach meiner Brille, bis er sie schließlich zu fassen bekam, und mir meine einzige Sehquelle raubte.
Ginny stand an meiner Seite, unsere Finger verschränkt.
Ich war Teddy dankbar gewesen. Ich wollte nicht mehr in die Gesichter der Weasleys blicken - nicht mehr sehen, was für ein Leid ihnen erfahren war, doch den Jungen, der wohl am meisten verloren hatte, trug ich in den Armen.
Edward 'Teddy' Remus Lupin, mein Patensohn, der wie ich in einem so unmenschlichen Krieg beide Eltern verloren hatte.
Es war nicht fair.
Es war nicht fair, dass Teddy bitterlich angefangen hatte zu weinen, dass er nach seiner Mommy und seinem Daddy schrie, dass er wild umherlief, um sie zu finden, nur um vor ihren Grabsteinen Halt zu machen - nicht zu verstehen, was wirklich los war und doch zu begreifen, dass seine Eltern fort waren.
Ich konnte es nicht über mich bringen, ihm zu sagen, Remus und Tonks würden nie wieder kommen - wie erklärte man einem Baby, das schlichtweg nicht verstehen konnte, wo diese geliebten Menschen waren, dass eben jene für immer gegangen waren?
Zusammen mit Hermine wollten wir der trauernden Familie den nötigen Freiraum gewähren und wanderten mit Teddy auf meinen Schultern zwischen den Reihen von Grabsteinen entlang, bis ich vor den Gräbern meiner Familie zum Stehen kam.
Lily und James Potter. Sirius Black.
Ich dachte zurück an mein fünftes Schuljahr, als ich den letzten meiner Familie verloren hatte. Als Sirius gestorben war, brach eine Welt für mich zusammen - er, der meine Eltern wohl besser gekannt hatte, als jeder andere, war mein Anker gewesen - meine Verbindung zu meinem Dad und meiner Mum - es war als hätte ich sie ein zweites Mal verloren, und dieses Mal schien es mich zu zerstören.
Doch als ich Remus und Tonks am Boden hatte liegen sehen, spürte ich den Schmerz wieder aufs Neue und ich konnte nicht umhin Teddy einen mitleidigen Blick zuzuwerfen.
Er musste mein Schicksal nun teilen und ich wusste nicht wie ich ihm ein gutes Vorbild sein sollte, wo ich doch selbst in dem Dunkel meines Herzens gefangen war und nicht über den Tod meiner Eltern hinweg kam.
Ich hatte meine Eltern kaum gekannt, schon waren sie mir entrissen worden.
Wie sollte ein gebrochener Junge ein Kind aufziehen, ihm erklären was richtig und was falsch war, wie er sich benehmen musste...
Wenn ich es doch nicht einmal selbst wusste.
Und doch, als Tonks' Mutter, Andromeda, ihn abgeholt und mit zu sich genommen hatte, fühlte es sich an als würde ein weiteres Stück meiner Seele herausgerissen werden und ich konnte nichts dagegen tun, weil es für ihn - Teddy - so besser war.
Das war die Aufgabe eines guten Vaters, oder nicht? Er tat das Beste für sein Kind, auch dann, wenn es ihn selbst das Herz oder das Leben kostete.
Mein Blick glitt zu meinen besten Freunden. In all dem Chaos, in dem wir alle zerbrochen waren, in dem wir mehr verloren hatten, als wir glaubten zu besitzen, hatten sich zwei Menschen gefunden...
Weil das Gute immer siegte?
Nein, vermutlich nicht. Doch weil das Gute immer einen Weg finden würde, zu überleben.
Vielleicht war es deswegen genau richtig, dass Hermine und Ron das siebte Schuljahr wiederholen würden, während ich die Aurorenstelle im Ministerium antreten würde. Kingsley hatte mir versichert, dass ich keinen Abschluss bräuchte - dass ich nicht zurück in dieses Schloss müsste, nicht noch einmal erleben musste, was mich in meinen Alpträumen verfolgte.
Mein Elternhaus zu restaurieren würde genug Zeit beanspruchen, um meine Gedanken davon abzuhalten, zu Ruhe zu kommen - ich durfte nicht an all das denken, was hinter mir lag, ich musste loslassen. So schwer es auch sein mochte.
Das aufgescheuchte Gackern der Hühner ließ meinen Kopf hochschnellen. Aufgeregt schlugen die Hennen mit den Flügeln, flatterten wild durcheinander.
Inmitten des Getümmels zog ein Mädchen mit langen roten Strähnen einen kleinen Koffer hinter sich den Hof hinauf zum Haus, auf uns zu.
Jeder Schritt über das grüne Gras schien ihr erschreckend schwer zu fallen.
Der Wind zerzauste ihr Haar, wehte um ihre Knöchel. Meine Augen lagen konzentriert auf ihr. Starr und nicht im Stande, mich zu bewegen, atmete ich flach.
Ein schuldbewusstes Lächeln lag auf ihren Lippen, als sie vor uns zum Stehen kam.
"Hey...", sagte sie leise, "ich bin wieder da."
Ihre Augen fanden meine, doch während sie flehentlich darum zu beten schien, dass ich ihr all das verzeihen könnte, begann die Wut in mir zu brodeln und aufzukochen.
Ron fing sich als erster und sprang auf.
"Ginny!"
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