03. DAS VERSCHWINDEN DES WILL BYERS

1983 | HAWKINS, INDIANA — Während ich durch die unruhigen Flure der Schule schlenderte, erblickte ich Jonathan, den älteren der Byers-Brüder. Er stand dort, seine Hände tief in den Taschen seiner vertrauten Levi's Jeansjacke vergraben, und wartete geduldig auf mich. „Jonathan! Hey!", rief ich ihm zu, und er drehte sich lächelnd zu mir um.

„Oh, hey. Was gibt's?", fragte er, als ich näher kam.

„Jonathan, ich weiß, deine Mom ist wahrscheinlich erschöpft und total gestresst wegen Will... und ähm, ich dachte mir, vielleicht könnte ich dir helfen, ihn zu suchen. Joyce sollte ein bisschen Zeit haben, um sich zu entspannen", sagte ich, mein Lächeln so freundlich wie möglich. Doch daraufhin sah er mich etwas seltsam an. „Äh, w-was ist?", fragte ich verwirrt, während ich meinen Kopf leicht zur Seite neigte.

„Nein, tut mir leid... Es ist aber wirklich nett von dir", erwiderte er und zuckte mit den Achseln. Doch ich ließ nicht locker.

„Ach komm schon, Joyce ist wie eine zweite Mutter für mich! Ich würde alles tun, um ihr zu helfen", versicherte ich ihm.

Er nickte schließlich mit einem leichten Lachen. „Ja, okay, geht klar. Ich sag meiner Mom, dass sie zu Hause bleiben kann, weil ich jetzt ein Backup habe", scherzte er, und ich konnte nicht anders, als mit ihm zu lachen.

Plötzlich tauchte Steve Harrington wie aus dem Nichts neben uns auf und brach die Stille mit seiner markanten Stimme. „Hey, was geht, Byers, Henderson?", erklang es lässig aus seinem Mund. Er stand da, mit einem kleinen Lächeln auf den Lippen, eine Hand lässig in die Hüfte gestemmt, die andere locker zur Seite baumelnd. Ich antwortete nur, indem ich meine Arme verschränkte, und mein Gesichtsausdruck zeigte deutlich, dass ich mich wegen seiner Präsenz unbeeindruckt fühlte.

„Hey, Harrington", grüßte ich etwas trocken und schenkte ihm ein kleines, gezwungenes Lächeln, das schnell verblasste, als weitere Mitglieder seiner Möchtegern Clique näher kamen. Ich konnte nicht anders, als mich etwas unwohl zu fühlen, denn ich konnte keinen von ihnen so richtig ausstehen.

Sobald alle da waren, sprach Steve erneut: „Naja, also ich bin rübergekommen um dir zu erzählen, dass mein Dad zu einer wichtigen Konferenz fährt. Und meine Mom begleitet ihn, weil naja ... sie vertraut ihm nicht."

Tommy spottete und lachte kurz: „Gute Entscheidung."

„Also, bist du dabei?", fragte Nancy und legte leicht ihre Hand auf meine Schulter.

„Äh bitte, bei was?", fragte ich unsicher, während Nancy ein leises Lachen ausstieß.

„Eltern weg, großes Haus", fügte Carol hinzu und gab mir weitere Hinweise.

„Party?", hakte ich nach, woraufhin Tommy H. laut losprustete, als hätte ich den Witz des Jahrhunderts gemacht.

„Ding! Ding! Ding!", grinste Carol und Steve sah mich hoffnungsvoll an. Jonathan hingegen warf mir einen traurigen Gesichtsausdruck zu und schien vermutlich zu glauben, ich würde meine Pläne für Steve und seine Gruppe hinschmeißen.

„Es ist ... es ist Dienstag", wandte ich ein, während ich verzweifelt nach einer Ausrede suchte, um King Steve's Party auszulassen.

„Es ist Dienstag! Oh Mann!", lachte Tommy höhnisch und äffte mich nach, sodass ich den Drang verspürte, dem nervigen Arsch die Zähne aus dem Mund zu schlagen, doch bevor dies Realität wurde, kam mir Steve zuvor und schlug seinem Kumpanen gegen die Brust und signalisierte ihm, den Mund zu halten.

„Komm schon. Was ganz einfaches, nur unter uns. Was sagst du? Bist du dabei oder bist du raus?", fragte Steve. Dennoch fragte ich mich, warum er mich überhaupt dabei haben wollte? Es ist nicht so, als wären wir beste Freunde... nicht mehr zumindest.

„Sorry Harrington, ich bin raus. Ich hab vor mit Jonathan nach seinem kleinen Bruder zu suchen."

Er seufzte und wirkte etwas säuerlich über meine Antwort, als er Jonathan mit einem finsteren Blick bedachte. „Okay... dann viel Glück euch beiden", sagte er schließlich und zuckte mit den Achseln.

„Danke", erwiderten Jon und ich gleichzeitig, während Steve und seine Clique uns allein ließen.

„In Ordnung, ich hole dich gegen fünf ab, falls das für dich passt?", schlug Jonathan vor, und sein Lächeln verriet, dass er sich auf die Unterstützung freute.

„Abgemacht, bis später, Jon", antwortete ich, bevor ich mich auf den Weg zu meiner nächsten Unterrichtsstunde machte – Chemie bei Mr. Kaminski.

Im Klassenzimmer roch es nach Chemikalien und frisch gereinigten Tischen. Ich nahm meinen Platz ein und zog mein Tagebuch aus meiner Tasche. Mit einem leisen Seufzer begann ich zu schreiben, meine Gedanken flossen auf das Papier:

• Jonathan kommt mich gegen 5 abholen, um nach Will zu suchen!

08/11/1983 — Kommt es mir nur so vor, oder ist Harrington in letzter Zeit merkwürdig nett zu mir? Ich kann mir nicht erklären, warum wir den Kontakt verloren haben, aber jetzt scheint er wieder Interesse zu zeigen. Warum jetzt? Warum überhaupt? „King Steve" hat doch sicherlich Besseres zu tun, oder? Ich kann nicht umhin, mich zu fragen, ob hinter seinem plötzlichen Interesse an mir vielleicht Eifersucht auf Jonathan steckt.

Die Abenddämmerung hatte bereits eingesetzt, als Jonathan und ich immer noch verbissen dabei waren, Will zu finden. Unsere Taschenlampen durchschnitten die Dunkelheit des Waldes, während wir uns durch das dichte Unterholz kämpften. Als Jonathan vorschlug, uns für einige Minuten zu trennen, überkam mich ein Gefühl der Unruhe. „Hältst du, das wirklich für eine gute Idee, Jon?", fragte ich, meine Besorgnis nicht verbergend.

„Ich möchte tiefer in den Wald", meinte er. „Du kannst ja hier bleiben und die Gegend weiter abchecken."

„Okay, aber ruf nach mir, falls du etwas gefunden hast", versicherte ich ihm bevor wir uns trennten.

„Wir treffen uns in 15 Minuten an meinem Auto", fügte er schnell noch hinzu, während ich nur hoffen konnte, dass es Jonathan schon gut gehen wird.

Die fünfzehn Minuten verstrichen wie im Flug. An seinem Wagen wartend, spürte ich, wie meine Nervosität wuchs, als die Zeit über seine geplante Rückkehr hinwegfegte. Zwanzig Minuten vergingen, und noch immer kein Zeichen von ihm. Ein Kälteschauer rann mir über den Rücken, als dunkle Gedanken begannen, sich in meinem Kopf einzunisten. Sollte ich ihn suchen gehen? Die Vorstellung, vollkommen allein in der Dämmerung des Waldes zu sein, jagte mir einen Schauder über den Rücken. Doch ehe ich einen Entschluss fassen konnte, tauchte er plötzlich aus der Dunkelheit auf. „Wieso hat das so lange gedauert? Ich habe mir schon Sorgen gemacht, du Idiot!", entfuhr es mir, die Angst um ihn in meiner Stimme mitschwingend.

„Ich äh... ich hab gedacht, ich hätte was gesehen", stammelte Jonathan nervös, sein Blick flackernd zwischen mir und den Schatten des Waldes. Ein unbestimmtes Gefühl der Beklemmung kroch in meine Eingeweide. Hatte er wirklich etwas eigenartiges gesehen? „Soll ich dich nach Hause fahren?", fragte er und versuchte dabei, seine Anspannung zu verbergen.

Ich nickte nur müde, meine Gedanken wirbelten wie verirrte Blätter in einem Sturm. Trotz unserer verzweifelten Suche hatten wir Will immer noch nicht gefunden. Verdammt...

„Jonathan?", begann ich, als er aus der Dunkelheit des Waldes fuhr. Er drehte seinen Blick zu mir und wartete auf meine Worte, sein Gesicht von Sorgen gezeichnet. „Wir werden Will zurückbekommen."

Die Worte hingen schwer in der Luft, während er sie in sich aufnahm. Er nickte nur und schenkte mir ein trauriges Lächeln, das ich erwiderte. Er war mein bester Freund, und es brach mir das Herz, ihn so leiden zu sehen.

Die Nacht verbrachte ich schlaflos, voller Sorgen um Will und Gedanken an die ungewissen Ereignisse. Trotzdem musste ich am nächsten Tag zur Schule. Der Tag zog sich endlos hin, und ich konnte kaum die Stunden abwarten, bis ich endlich nach Hause konnte.

Als ich schließlich aus dem Schulgebäude trat, sah ich plötzlich Jonathan, der von Tommy H. und Steve herumgeschubst wurde. Meine Besorgnis schoss in die Höhe, und ich rannte sofort zu ihm. Dort waren auch Carol und Nicole, die ebenfalls um Jonathan standen. „Hey, was ist hier los?", rief ich besorgt aus.

„Beruhig dich, Henderson. Wir wollen nur einen Blick auf die Kunstwerke von deinem Loverboy werfen", spöttelte Steve und ließ mich verwirrt stehen.

„Ich weiß nicht wovon, du sprichst", verteidigte sich Jonathan, während Tommy H. seinen Rucksack zu Steve rüberwarf. Steve öffnete Jon's Rucksack und zog mehrere Abzüge heraus, die er den anderen zeigte.

Tommy's Augen weiteten sich schockiert. „Alter!", entfuhr es ihm sprachlos. „Na, das ist ja kaum gruselig", stimmte Carol ihm nun auch sarkastisch zu, als sie sich selbst auf den Abzügen entdeckte.

Jonathan versuchte sich zu verteidigen: „Ich hab nach meinem Bruder gesucht."

„Nein, das nennt man Stalken", korrigierte Steve mit verärgertem Blick.

„Jonathan..." Als ich die Bilder sah, entfuhr mir ein enttäuschtes Seufzen, bevor auch noch Nancy dazu kam. Großartig.

„Was ist denn hier los?", fragte sie.

„Ahh! Die weibliche Hauptrolle", scherzte Tommy, während ich nur die Augen verdrehte, als Nancy verwirrt zu ihm hinüberblickte.

„Tja, der Spanner hat uns gestern Abend nachgestellt", erklärte Carol. „Das hier hat er sich wohl für später aufgehoben." Sie hielt Nancy ein Bild von ihr in Unterwäsche hin.

„Man kann wohl annehmen, er weiß dass es falsch ist. Aber das ist es ja bei diesen Perversen... Es ist Veranlagung. Sie kommen nicht dagegen an", fügte Steve hinzu und zerriss die Bilder.

Okay, ich muss zugeben, dass das, was Jonathan getan hat, wirklich nicht in Ordnung war. Sehr unangebracht sogar. Aber Steve musste ihn deshalb nicht so behandeln und so abwertend mit ihm reden. Es machte mich irgendwie traurig und wütend zugleich. „Also ... wir nehmen dir dein Spielzeug ab", sagte Steve und hielt Jonathans Kamera hoch.

„Hey, hey, hey. Das reicht jetzt, Harrington!", mischte ich mich nun ein, mit einem entschlossenen Ton, und stellte mich zwischen Steve und Jon.

„(Y/N)–"

„Ich meins ernst, gib ihm die Kamera", warnte ich mit Nachdruck.

„Sonst was, Henderson? Sonst was?", forderte er mich heraus und sah mich mit einem tiefen Blick an. War das sein Ernst? Er war einfach nur kindisch, genau wie damals. „Okay schon gut hier", fügte Steve hinzu und streckte Jonathan die Kamera hin. Doch bevor Jonathan sie greifen konnte, ließ Steve sie auf den Boden fallen. Ein lautes Klirren durchbrach die Stille, und während Tommy im Hintergrund kicherte, waren alle anderen einfach nur schockiert und sprachlos.

Das wars. Ich konnte mich nicht beherrschen. Mit einem schnellen Ruck drehte ich mich zu Steve um und holte aus, ohne einen Moment zu zögern.

Seine Augen weiteten sich überrascht, als meine Hand seine Wange traf und ein lautes Klatschen durch die Luft hallte. Er griff sich schockiert an die gerötete Stelle, während ein verärgerter Gesichtsausdruck auf mir ruhte. Tommy brüllte vor Lachen, doch die anderen starrten mich mit offenem Mund an, als hätten sie nicht erwartet, dass ich so handeln würde.

„Tja, die hab ich verdient... Kommt wir gehen. Das Spiel fängt gleich an", brach Steve schließlich das Schweigen und drehte sich abrupt um. Die anderen folgten ihm schweigend zurück zur Schule, während ich mit Jonathan und einem Stapel aufgehobener Bilder zurückblieb.

Nancy blieb jedoch stehen und hob mehrere Bilder vom Boden auf. Ihr Blick verriet Scham und Enttäuschung zugleich, aber sie sagte nichts, bevor sie sich schließlich abwandte und der Gruppe folgte.

Ich stand da wie angewurzelt, mein Herz pochte schnell, als ich Nancy dabei zusah, wie sie sich entfernte. Ich wollte ihr hinterherlaufen, doch irgendwas in mir hielt mich zurück. Was, wenn unsere Freundschaft in ihren Augen längst vergessen war? Was, wenn ich sie nur störte? Die Erinnerungen an die einstige Freundschaft mit Nancy stachen schmerzhaft in meinem Herzen, während ich mich fragte, wie leicht sie mich durch Barb ersetzen konnte. Damals fühlte es sich an, als hätte jemand den Boden unter meinen Füßen weggezogen und mich allein gelassen, im Dunkeln und im Stich gelassen. Doch während ich zwischen Enttäuschung und Verlust hin- und hergerissen war, stand Jonathan treu an meiner Seite, wie ein Fels in der Brandung. Also blieb ich stehen, unfähig, mich zu entscheiden, und wusste, dass ich mich wenigstens auf Jon verlassen konnte, während ich mir wünschte, dass die Wunden der Vergangenheit nicht so tief wären...

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