02. DIE VERRÜCKTE AUF DER MAPLE STREET
1983 | HAWKINS, INDIANA — Als ich die Haustür aufschloss und hereintrat, spürte ich die Dunkelheit des herannahenden Abends. Die Schatten tanzten bereits an den Wänden, und ich war überrascht, dass ich früher als erwartet nach Hause gekommen war. Ich betrat mein Schlafzimmer und erwischte Dustin dabei, wie er in meinen Schränken und Kommoden herumwühlte. „Was treibst du da?", fragte ich, die Arme vor der Brust verschränkt, während ich mich gegen den Türrahmen lehnte. Ich wusste, dass er wieder einmal etwas im Schilde führte...
Völlig erschrocken wandte er sich um, wobei sein Rücken unglücklich gegen die Kommode stieß. „Oh, ich... äh, ich war nur auf der Suche nach etwas", stammelte er nervös.
„Aha", sagte ich mit einem spöttischen Unterton und hob eine Augenbraue. „Und was wäre das?"
„Deine... deine Ähh- ich habe nach deinen Taschenlampen gesucht", seufzte er schließlich.
„Weil?", fragte ich, nicht lockerlassend.
„Weil Lucas, Mike und ich nach Will suchen wollen", antwortete er und rollte mit den Augen. Er hasste es, wenn ich ihn dabei erwischte, wenn er etwas im Schilde führte. Erstens wusste er, dass ich ihm keine Dummheiten durchgehen lassen würde. Und zweitens wusste er genau, dass ich jedes Mal, wenn er log, es sowieso merken würde – er konnte mir einfach nicht ins Gesicht lügen. Wenn Dustin lügte, vermied er nämlich immer Blickkontakt.
Er sah erneut zu mir auf und schüttelte frustriert den Kopf. „Lass mich raten, du lässt mich nicht gehen?", fragte er, seinen Blick hoffnungsvoll auf mich gerichtet, als wäre da noch eine Chance, dass ich es ihm erlauben würde.
„Dustin..."
„Bitteeeeeeeee?", flehte er.
Ich seufzte schwer und leicht genervt und nickte widerstrebend. „Okay, ja, du kannst gehen", gab ich schließlich nach, woraufhin er mich breit anlächelte. Dustin wollte gerade aus dem Raum flitzen, doch ich ergriff blitzschnell nach der Kapuze seiner Jacke und zog ihn energisch zurück. „Woah! Woah! Woah! Nicht so schnell, Freundchen!"
„Was?", antworte er verwirrt. „Du hast gesagt, ich kann gehen."
„Ja, das habe ich", nickte ich. „Aber du rufst besser Mike und Lucas an, denn ich werde auch mitkommen und wir werden mein Auto nehmen."
„(Y/NNNNN)!"
„Ich meine es ernst, Dustin!", warnte ich ihn bestimmt. „Es regnet, und ich möchte nicht, dass ihr auch noch vermisst werdet! Ich komme mit, aber wenn du mich nicht dabei haben willst, kannst du hier bleiben. Aber ich werde auch Lucas und Mike's Mütter anrufen, um sicherzustellen, dass sie zu Hause bleiben, wenn du das bevorzugst", sagte ich herausfordernd und grinste. Zunächst starrte er mich wütend an, aber dieser Blick verschwand in Millisekunden, als er sich geschlagen gab. Er wusste, dass ich nur versuchte, sie alle zu beschützen.
„Na schön... du hast gewonnen."
Der Regen prasselte unaufhörlich auf das Autodach, während wir durch den düsteren Wald fuhren. Die Scheinwerfer schnitten durch den Nebel, aber die Sicht war dennoch trüb. „Jungs, wir sollten umkehren. Wir werden niemanden im Regen suchen, ihr werdet alle noch krank", meinte ich besorgt.
„Aber wir müssen Will finden!", protestierte Mike entschlossen.
„Ich weiß, Mike, aber es ist zu gefährlich, mitten in der Nacht durch den Wald zu streifen", entgegnete ich ernst. „Es ist schon schlimm genug, dass ihr euch rausgeschlichen habt..."
„Warum bist du überhaupt mitgekommen, wenn du uns nicht helfen willst?", meckerte Lucas, und ich drehte mich zu ihm um, mit einem Finger auf ihn gerichtet.
„Du nach Hause gehen, Sinclair?! Okay, lässt sich einrichten!", drohte ich.
„(Y/N)! SCHAU AUF DIE STRAẞE! ACHTUNG! PASS AUF!"
Ich trat blitzschnell auf die Bremse, und das Quietschen der Reifen durchdrang die Stille der Nacht, als der Wagen abrupt zum Stillstand kam. Der Aufprall warf uns alle in die Sitze zurück, und für einen Moment lag nur das Echo des quietschenden Bremsens in unseren Ohren. Als sich die Stille wieder senkte, wandte ich mich langsam den Kids zu. „Geht es euch gut?", fragte ich, während mein Herz noch gegen meine Brust hämmerte.
Alle nickten, aber ihre Atemzüge waren noch unruhig. Mike näherte sich mir langsam. „Da ist jemand auf der Straße", flüsterte er ängstlich, und ich folgte seinem Blick. Er hatte recht. Eine Gestalt stand mitten auf der Straße, kaum größer als die Jungs. Ich drückte schnell auf die Bremse und eilte aus dem Auto, nachdem ich die Jungs angewiesen hatte, im Wagen zu bleiben.
Als ich näher kam, erkannte ich die Umrisse eines kleinen Mädchens. Ihr Kopf war kahl rasiert, und ihre braunen Augen waren weit aufgerissen vor Angst. Sie trat einen Schritt zurück, als ich mich ihr vorsichtig näherte.
„Hab keine Angst. Ich werde dir nichts tun, Kleine. Bist du in Ordnung? Es tut mir leid, wenn wir dich erschreckt haben", flüsterte ich mit sanfter Stimme, und langsam schien sich die Angst in ihren Augen zu mildern. Das Mädchen nickte zaghaft, doch ich spürte, dass sie vor irgendetwas davonlief. Aber welches normale Kind wäre mitten in der Nacht, während eines Sturms, allein im Wald unterwegs? Die Situation wirkte immer mysteriöser.
Die Jungs bombardierten das verängstigte Mädchen mit Fragen, als wir sie in Mikes Haus brachten. „Sollen wir jemanden anrufen?", fragte Mike besorgt. „Deine Eltern?"
„Wo sind deine Haare? Hast du vielleicht Krebs?", fragte Dustin neugierig.
„Bist du weggelaufen?", fragte Lucas, während er sie mit seinen kritischen Augen musterte.
„Hast du irgendwelche Probleme?" Ich versuchte, die Situation etwas zu beruhigen, aber die anderen Jungs ließen nicht locker.
„Ist das Blut?" Lucas zeigte auf einen roten Fleck an ihrem Kragen, doch bevor sie antworten konnte, schlug ich seine Hand weg. Das Mädchen wirkte immer noch verängstigt, und die vielen Fragen überforderten sie sichtlich.
„Hör auf!", schimpfte ich. „Du machst ihr Angst."
„Nein, sie macht mir Angst!", verteidigte sich Lucas.
„Ich wette, sie ist taub!" Dustin streckte seine Arme aus und klatschte einmal in seine Hände. Das Mädchen zuckte erschrocken zusammen, und Dustin ruderte schnell zurück. „Okay, doch nicht taub..."
Ich konnte das ganze nicht mehr länger mitansehen. Die Situation machte mich unruhig, und langsam spürte ich, wie meine Kopfschmerzen zurückkehrten. „Jungs, das reicht jetzt, okay! Sie ist nur eingeschüchtert und ihr ist kalt", erklärte ich bestimmt, bevor ich dem Mädchen ein warmes Lächeln schenkte und mich dann neben sie setzte. Sie zuckte zusammen und es tat mir sofort leid. „H-Hey, ist schon okay. Ich werd dir nichts tun." Ihre Nervosität war offensichtlich spürbar, und es war klar, dass sie durch irgendeine schreckliche Erfahrung gegangen sein musste. Vielleicht war sie missbraucht worden, vernachlässigt oder einfach nur schlecht behandelt worden. Vielleicht war das der Grund, warum sie weggelaufen war...
„Mike, holst du bitte ein paar Klamotten für sie?"
Mike nickte verständnisvoll und begann sich in seinem Keller umzusehen. Während er beschäftigt war, wurde das Donnern lauter und das Mädchen zuckte erschrocken zusammen, doch niemand wagte es sie zu berühren. Als Mike schließlich mit den Kleidungsstücken zurückkehrte, reichte er sie ihr vorsichtig. „Hier, saubere Sachen, okay?", sagte er freundlich und versuchte, sie etwas zu beruhigen. Sein Lächeln war warm und einladend, als er ihr den Pullover und Jogginghose überreichte.
Als sie die Kleidung annahm, begann sie, das übergroße gelbe T-Shirt, das sie trug, hochzuheben. Geschockt wandten sich die Jungs schnell ab, und auch ich schnappte nach Luft und ergriff sanft ihr Handgelenk. Sie sah mich verwirrt an, und ich versuchte, meine Worte so beruhigend wie möglich zu formulieren. „Nein, nein, nein, Kleine. Du kannst dich dort hinten im Badezimmer umziehen. Privatsphäre", erklärte ich mit einem sanften Lächeln und führte sie in das kleine Badezimmer. Als ich die Tür schließen wollte, hielt sie mich jedoch auf. „Du möchtest nicht, dass ich die Tür schließe?", fragte ich und wartete auf ihre Antwort.
Sie schüttelte einfach den Kopf. „Nein", antwortete sie leise.
„Sieh an, du sprichst also doch", bemerkte ich überrascht mit einem winzigen Lächeln auf den Lippen. „Okay, also ... ähm- wie wäre es, wenn wir die Tür ... einfach so lassen?" Ich ließ die Tür nur ein klitzekleines Stück offen und sah sie fragend an. „Ist das besser?"
Sie nickte erneut, bevor sie sich wieder zu Wort wandte. „Ja."
Diesmal war ich diejenige, die nickte, und ging daraufhin zurück zu den Jungs. Ich wusste echt nicht, was ich mit ihr machen sollte...
„Die ist völlig übergeschnappt!", spottete Dustin.
„Sie spricht immerhin", verteidigte Mike das Mädchen.
„Sie hat Nein und Ja gesagt! Deine dreijährige Schwester kann mehr", warf Lucas ein.
„Sie wollte sich ganz nackt ausziehen!", platzte es aus Dustin heraus, doch wir alle ignorierten ihn einfach.
„Ehrlich, mit der stimmt doch etwas nicht! Die hat doch einen Dachschaden!", meinte Lucas und verschränkte die Arme vor der Brust.
„Sie hat einfach..." Dustin hob die Arme und ahmte nach, was das Mädchen tat, als sie sich ausziehen wollte, dabei schlug er sich aus Versehen seine Kappe vom Kopf. Und bei diesem Anblick musste ich mir echt ein Lachen verkneifen.
„Ich wette, sie ist aus Pennhurst abgehauen!", sagte Lucas zu uns.
„Von wo?", fragte Mike, neugierig wie immer.
„Das ist so ein Irrenhaus in Kerley County", erklärte ich, während ich mich an die düsteren Geschichten erinnerte, die ich darüber gehört hatte.
„Hast du da Verwandte?", fragte Dustin Lucas grinsend, und ich konnte mir ein leichtes Schmunzeln nicht verkneifen.
„Leck mich, Mann!", brummte Lucas und starrte ihn genervt an.
„Jungs, sie ist nur ein Mädchen! Ein verängstigtes kleines Mädchen!", versuchte ich sie zu überzeugen, dass sie harmlos war.
„Was, wenn sie auf der Flucht ist?", protestierte Lucas und versuchte immer noch, seinen Standpunkt zu vertreten. „Vielleicht ist sie Psycho?"
„Lucas, sie ist nicht Michael Myers! Hätten wir sie etwa einfach im Sturm zurücklassen sollen? Ist dass was du sagen willst?" Ich verschränkte die Arme und hob eine Augenbraue.
„Ich bin auf (Y/N)'s Seite. Ich glaube auch, dass sie harmlos ist", unterstützte Mike mich.
„Ich denke, wir sollten es deiner Mom sagen", schlug Lucas vor.
„Okay, wer spinnt jetzt rum? Wir wissen doch alle, dass wir heute Abend überhaupt nicht draußen sein durften. Wenn Mrs. Wheeler, deine Mom und meine Mom davon erfahren, kriegen wir alle Hausarrest und werden wie in Alcatraz eingesperrt! Und ich werde ganz sicher nicht jeden Tag nach der Schule wegen euch Idioten zu Hause eingesperrt sein!", erklärte ich genervt, während ich sie mit einem strengen Blick ansah.
„Scheisse, sie hat recht!", stimmte Dustin zu und wandte sich dann an Lucas.
„Ja, genau", sagte Mike und warf ihnen einen selbstgefälligen Blick zu. „Und Will werden wir auch nie finden!"
„Hört mal, ich mache da nicht mit", seufzte ich. „Ihr seid schon anstrengend genug. Und ich werde definitiv keine streunenden Kinder aufnehmen, die ich fast mit meinem Auto umgefahren hätte!"
„Okay, hier ist der Plan", begann Mike mit ruhiger Stimme. „Sie schläft heute Nacht hier."
„Du lässt ein Mädchen..."
„Hört einfach zu: Sie geht um mein Haus herum, klingelt, und meine Mutter wird antworten und genau wissen, was zu tun ist. Sie wird nach Pennhurst zurückgeschickt oder wo auch immer sie herkommt, und damit sind wir aus dem Schneider. Dann können wir morgen Abend wieder losziehen und nach Will–"
„Äh äh! Nein!", unterbrach ich ihn energisch.
„Aber (Y/N)!", flehte Dustin.
„Nein!", beharrte ich.
„Aber wir müssen–", versuchte Mike es erneut.
„Nein!", schnitt ich ihm das Wort ab.
„Komm schon! Bitte (Y/N)", flehte nun auch Lucas.
„Ich habe Nein gesagt! Wir machen das nicht schon wieder!", erklärte ich bestimmt. „Ich werde mit Jonathan nach Will suchen. Ich weiß, dass er rausgehen und Will selber suchen wird, damit Joyce sich ausruhen kann. Ich werde ihn suchen gehen, okay?" Die drei sahen mich wütend und enttäuscht an und antworteten nicht. „Versprecht mir, dass ihr zu Hause bleibt ... In Sicherheit."
Ich sah sie an und Mike nickte als erstes. „Versprochen", sagte er und lächelte ein kleines bisschen.
„Versprochen", seufzte Dustin. Sein Tonfall war resigniert, aber ich spürte, dass er es ernst meinte.
Lucas blieb immer noch stur, aber ich konnte seine Entschlossenheit nicht ernsthaft stören. Stattdessen wandte ich mich an Mike und Dustin und begann, ihre Haare spielerisch durcheinander zu wuscheln. Ein breites Grinsen breitete sich auf ihren Gesichtern aus, als sie anfingen zu lachen. Mit einem Augenzwinkern nahm ich Dustins Kappe vom Boden und setzte ihn ihm wieder auf den Kopf. Dann drehte ich mich zu Lucas um und schenkte ihm ein warmes Grinsen, obwohl er immer noch die Stirn runzelte.
„Komm schon, sei nicht so", begann ich ruhig. „Ich verstehe, dass ihr Will vermisst. Auch ich vermisse ihn. Aber wisst ihr, ich möchte einfach nicht, dass euch etwas zustößt. Ich werde alles tun, um zu helfen, versprochen! Aber bitte, bleibt sicher zu Hause und haltet euch da heraus, okay? Ihr wisst doch, wie wichtig ihr mir seid."
Lucas gab schließlich nach und verdrehte ein letztes Mal die Augen. „Ich verspreche es auch...", murmelte er, bevor ich ihm ein Lächeln zuwarf.
„Was war das, Sinclair?", neckte ich ihn, woraufhin er lachte.
„Ich habe gesagt, ich verspreche es!"
„Na schön und ich hab euch Jungs beigebracht, niemals Versprechen zu brechen, okay?!"
Schließlich sah ich in ihre Gesichter, bevor alle drei mit ihren Köpfen nickten. „Okay, lass uns nach Hause gehen, Dusty. Lucas du fährst bei uns mit."
„Bye Mike."
„Na gut, und ich habe euch Jungs doch beigebracht, dass man Versprechen niemals bricht, richtig?"
Schließlich sah ich in ihre Gesichter, bevor alle drei mit einem Nicken zustimmten. Dann spuckte jeder von ihnen in seine rechte Hand und ich hob verdutzt (als auch etwas angewidert) die Augenbrauen. „Charmant... Aber ich denke, ich verlasse mich lieber auf euer Wort, ohne die zusätzliche Handhygiene."
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